FRONTPAGE

«Martin R. Deans Koffer voller Wünsche»

Von Ingrid Isermann

Der Enge der Schweiz, einer drohenden Heirat und der allzu behaglichen Bürgerlichkeit meint Filip in die Weltstadt London entkommen zu können. Sie will heiraten, er nicht. Sie hat eine Familie und er eine Mutter. Sie lebt in der Schweiz, und er will nach London. Das Leben ist eine Flucht, und was für eine!

 

Dass diese Ausbruchsversuche vielleicht in der Familie liegen, erzählt uns Martin R. Deans subtiler, witziger und zugleich ernster Roman «Ein Koffer voller Wünsche».

 

Schon der leibliche Vater Filips, ein Inder, war bei der Mutter nur kurz zu Gast, dann hat er sich davongemacht. Ist nicht jede Flucht insgeheim auch eine Suche? Martin R. Deans Held findet in einem Reisebüro Arbeit, das eine pittoreske Hochglanz-schweiz zu verkaufen hat. Und er wird sich auch von der vermeintlich perfekten künftigen Ehefrau nicht trennen wollen. Auf doppelbödige, genuine  Weise stellt Dean die existenzielle Frage nach der Heimat, die uns alle betrifft und kommt zu einem geradezu universalen Schluss. Wir alle sind die ewigen Migranten unserer Sehnsucht, in der Hand «einen Koffer voller Wünsche».

 

Martin R. Dean gelingt es, in seinen Beobachtungen völkerverbindende Elemente zu skizzieren, über Emigration, Heimat(en) und das Leben zwischen den Welten samtweich so zu schreiben, als ob es die strengen und starren Trennungen gar nicht gäbe.

 

«(…)Mit einem mulmigen Gefühl bestieg ich die Maschine. Dann las ich, kurz bevor wir in London landeten, von dem Toten,den man in einem Maisfeld bei Sheffield gefunden hat. Er hatte nichts bei sich getragen als die einfachen Kleider auf seinem Leib, Jeans und ein billiges Hemd. Allerweltsschuhe. Keine Ausweispapiere, keine Uhr, keine Narben, keinerlei Spuren, die Hinweise auf seine Identität oder sein Herkommen gegeben hätten. (…) Er musste, so die Mutmassung, aus einem Flugzeug gefallen sein, vielleicht bei der Abschiebung als Flüchtling, vielleicht auch bei einem nächtlichen Flug. Der Mann war einfach verloren gegangen.

 

(…)  Fasziniert zog ich durch diesen Strom von Gesichtern aus tausenderlei Ländern und versuchte, die Rassen und Herkunftsländer der Menschen zu erraten. Woher kommt dieser schmächtige Junge mit dem seltsamen Gesicht, der mir in seinem Shop die Strassenkarte verkauft? Seine Lippen sind afrikanisch, seine Augen verlaufen in Schlitzen gegen die Schläfen, und als er mich anschaut, ist sein Blick, wenn man das so sagen kann, ganz und gar mitteleuropäisch. Gibt es nicht Ähnlichkeiten unter den Rassen? (…)

   Ja, die gewohnten Kategorien des Sehens lösen sich hier auf. Ich beobachte nachtdunkle, in goldbortengesäumte Trachten gehüllte Afrikaner dabei, wie sie aus Luxuslimousinen steigen, Burka tragende Frauen, an deren Handgelenken teurer Schmuck und Uhren leuchten und die verliebt ins Handy flüstern. (…) Ich sehe sechzigjährige exotische Männer rauchend vor einem Pub stehen; der eine oder andere könnte mein Vater sein. Ich weiss nicht, wie mein Vater aussieht, ich habe ihn nie gesehen, es gibt kein Foto von ihm. Ich weiss nur, dass er in dieser Stadt gelebt hat – oder vielleicht noch immer lebt. Vielleicht stosse ich auf jemanden, dessen Gesicht dem meinen ähnelt. Die Welt ist voll von Ähnlichkeiten; in den Gesten, den Haltungen der Menschen gibt es oft etwas, das mich an jemand erinnert. (…) Jede Stadt hat ihren Geruch. London riecht nach Aufbruch, Selbstbeherrschung und nach kräftiger, sportiver Lebenslust.

Für mich riecht London nach grosser weiter Welt».
 

Martin R. Dean
Geboren 1955 in Menziken, Aargau, Sohn einer Schweizerin und eines karibischen Vaters aus Trinidad. Studium der Germanistik, Ethnologie und Philosophie. Lebt als Schriftsteller, Journalist und Essayist in Basel. Zuletzt erschien: »Meine Väter«, 2003.
 

Martin R. Dean
Ein Koffer voller Wünsche

Roman

288 Seiten, gebunden
CHF 31,90 € 22.

ISBN 978-3-902497-92-5

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