FRONTPAGE

«Mein freier Wille geschehe»

Von Sacha Verna

 
Wer die Menschen verstehen will, sollte Geschichten von Richard Ford lesen. Oder dieses Interview.
 

«Das ist unser Dorfclochard», erklärt Richard Ford und deutet auf einen korpulenten Mann in Shorts und rotem T-Shirt, der sich mit einem Handtuch den Schweiss von der Stirn wischt. Es ist heiss, aber eben noch hat es heftig geregnet in dem kleinen Küstenort in Maine, in dem der 63-jährige Ford lebt. Sein Haus liegt idyllisch zwischen Bäumen versteckt, direkt am Wasser in einer kleinen Bucht, umgeben von einem üppigen Garten. Drei englische Pointer stürzen sich auf die Besucher, und ihnen folgt Kristina, Richard Fords Ehefrau, die die Angereisten genauso herzlich begrüsst wie zuvor der Autor selber.

Richard Ford, in Jackson, Mississippi geboren, führt eine Schriftstellerexistenz, von der jeder hungernde Künstler träumt. Er hat genügend literarische Auszeichnungen erhalten, um sich der öffentlichen Wertschätzung seines Werkes sicher zu sein – darunter die wichtigsten amerikanischen Literaturpreise, den PEN/Faulkner Award und den Pulitzer Prize. Er verkauft so viele Bücher, dass er nicht wie viele seiner Kollegen darauf angewiesen ist, noch an einer Universität zu unterrichten.

Seinen Erfolg verdankt Ford Kurzgeschichten wie der legendären Sammlung «Rock Springs» und Romanen wie «The Sportswriter» und «Independence Day», oder genauer, deren Protagonist Frank Bascombe, der zu den bekanntesten Romanhelden der amerikanischen Literatur der letzten Jahrzehnte gehört. Ford interessiert sich für die hunderttausend Dramen, die täglich keine Schlagzeilen machen. Vor allem für die haarfeinen Risse in den Beziehungen zwischen Menschen, die sich zu Death Valleys weiten können.

Mit «Die Lage des Landes» liegt nun Richard Fords lang erwarteter neuer Roman vor, in dem Frank Bascombe ein Comeback feiert. Inzwischen 55 und in Behandlung wegen Prostatakrebs, lebt Frank immer noch als Immobilienmakler in New Jersey und bereitet sich auf ein Erntedankfest mit seinen erwachsenen Kindern vor. Seine zweite Frau hat ihn kurz zuvor verlassen. In Torschlusspanik interessiert sich dagegen seine Ex-Frau wieder für ihn, und Frank denkt häufiger an den Tod. Ein tristes Szenario? Mitnichten. Ford war schon immer ein Meister des ironischen Understatments und Bascombe ein Ich-Erzähler, aus dessen Beobachtungen über das Nächstliegende – fehlende Buchstaben auf einer grellbunten Plakattafel, die transzendentalphilosophischen Hochseilakte seines tibetischen Geschäftspartners – sich viel mehr über die Lage des Landes herauslesen lässt als aus Gesellschaftsanalysen mit akademischem Gütesiegel.

Ford hat Espresso gemacht und setzt sich entspannt an den langen hölzernen Esstisch. Das Zimmer ist wie der Rest des verschachtelten neuenglischen Landhauses mit dezenten Nippes und Mobiliar bestückt, das aus einem Folk Art Museum stammen könnte. Lexika und Atlanten liegen dazwischen aufgeschlagen auf Bücherständern. Einzig ein silbrig glänzender Hightech-Kühlschrank in der offenen Küche und grossformatige zeitgenössische Fotografien an den Holzwänden erinnern ans 21. Jahrhundert und daran, dass sich andere Leute heute lieber Flachbilschirmfernseher zulegen als gusseiserne öfen. Einmal unterbricht Richard Ford das Gespräch, um nach den Hunden zu sehen, die aus Langeweile in einem Nebenzimmer Verschiedenes in Stücke gerissen haben, was Ford kurz in Rage bringt. Ansonsten ist er die Ruhe selbst. Dieser Mann scheint zumindest an diesem Tag alle Zeit der Welt zu haben.

 

Richard Ford, was für ein Auto fahren Sie?
Einen Chevrolet Kleintransporter. Kein sehr grünes Gefährt, wie ich zugeben muss. Aber ich
gehe häufig auf die Jagd und habe meine Hunde hintendrin. Ausserdem brauche ich Vierradantrieb, um auf ungeteertem Gelände voranzukommen.

 

Ihr Protagonist Frank Bascombe verbringt in «Die Lage des Landes» viel Zeit hinterm Steuer seines Suburban. Auch andere Figuren in diesem Roman sind an den Marken ihrer Autos zu erkennen. Glauben Sie, dass man ist, was man fährt?
Nein. Sonst wäre ich ein Republikaner, ein knallharter Bursche und ein Malocher. Kein Eindruck könnte falscher sein.

 

In Franks Fall stimmt ja das «suburban»…
Richtig. Frank hat sich ganz bewusst und früh für ein Leben in der Vorstadt entschieden.

 

Mehr noch: Er mag und verteidigt den suburbanen Lebensstil gegen all jene, die seit Jahren die Vervorstädterung Amerikas beklagen.
Eine kleine Provokation meinerseits. Kritik ist die bequemste Art, sich der Verantwortung dafür zu entziehen, wie die Welt um uns herum aussieht. Wer also über die Suburbs schimpft, sollte sich lieber fragen: Warum gibt es sie denn? Doch nur, weil wir sie gewollt und gebaut haben. Und sie offenbar immer noch wollen und bauen. Uns ist in diesem Land das affirmative Vokabular abhandengekommen. Einer der wichtigsten Sätze, die ich je gelesen habe, stammt von Wallace Stevens: Wir verschlingen das Schlechte und verschlucken uns am Guten. Kunst kann das ändern, wenn sie will. Kunst, die sich für ein affirmatives Vokabular entscheidet, stellt einen ersten Schritt hin zur übernahme von Verantwortung dar.

 

Auch in einem politischen Sinn?
Unbedingt. Gute Kunst ist immer politisch. Selbst wenn sie wie die Literatur still und intim ist und scheinbar nur vom Leben einzelner Menschen handelt. Diese Leben sind die Petrischale, in der politische Entscheidungen ihren Ursprung haben.

 

«Die Lage des Landes» spielt während des Wahldebakels von Bush vs. Gore im Jahr 2000 – ein politischer Roman also?
Auf jeden Fall. Interessanterweise hat keiner meiner amerikanischen Rezensenten darüber ein Wort verloren. Ich lese die Besprechungen meiner Bücher ja nicht, aber meine Frau Kristina meinte, dass lediglich zwei britische Rezensenten die politischen Aspekte dieses Romans bemerkten. Dies zeigt einmal mehr, wie unsorgfältig amerikanische Leser sind. Ein politisches Buch muss auf plumpste Weise plakativ daherkommen, um überhaupt als solches wahrgenommen zu werden. Die Leute in diesem Land wollen keine Politik in Form von Kunst. Kunst hat ausschliesslich dem Vergnügen zu dienen. Die Leute wollen überhaupt keine Politik. Weil sie das Gefühl haben, ohnehin nichts ausrichten zu können. Tatsächlich haben uns ja unsere Vorväter versprochen, dass sich die aktive politische Teilnahme eines Bürgers dieses Landes darauf beschränkt, alle vier Jahre den Präsidenten zu wählen.

 

Eine solche Wahl steht nächstes Jahr an. Al Gore, für den Frank gestimmt hat…
…für den auch ich gestimmt habe…

 

…ist offiziell kein Kandidat. Doch was halten Sie von ihm in seiner Rolle als Retter der Antarktis?
Ich finde ihn recht überzeugend. Ich glaube, dass er sein Engagement für den Umweltschutz wirklich als Mission versteht. Ob es sich als verschleierte Präsidentschaftskandidatur entpuppt, werden wir sehen. Ich bezweifle es. Ich bin sicher, dass Gore manchmal nachts wach liegt und denkt: Ich wäre ein guter Präsident. Doch reicht es ihm vermutlich, zweimal geschlagen worden zu sein.

 

Gore hat wohl auch bessere Chancen, als Held in die Geschichte einzugehen, wenn er mit seinem Umweltschutz weitermacht, als wenn er versuchen müsste, die Probleme zu lösen, die den nächsten amerikanischen Präsidenten erwarten.
Mir ist ein Rätsel, warum überhaupt jemand Präsident der Vereinigten Staaten werden will. Man hat praktisch keine Chance, irgendetwas richtig zu machen. Wie ein Filmregisseur – warum sollte sich jemand das antun?

 

Sie liegen also nie nachts im Bett und denken: Ich wäre ein guter Filmregisseur?
Nein! Dieser Job wäre ein Albtraum für mich. Alle hängen nur von dir ab, die Uhr läuft, und Unmengen von Geld werden verpulvert.

 

Frank Bascombe nennt Bill Clinton einmal «mein Präsident». Käme für Sie Hillary Clinton als «meine Präsidentin» in Frage?
Ich glaube, dass Hillary Clinton eine gute Präsidentin werden könnte. Klug und erfahren, wie sie ist. Sie hat eine gute Chance, von den Demokraten für die Kandidatur nominiert zu werden. Doch wird sie die Präsidentschaftswahl nur gewinnen, wenn die Republikaner bis dahin damit fortfahren, sich pausenlos selber zu disqualifizieren. Bush hat sämtliche republikanischen Werte korrumpiert: effiziente Regierungsführung, gesunder Staatshaushalt, keine Einmischung in ausländische Angelegenheiten. Die Republikaner sind also gezwungen, jede Nähe zu Bush zu vermeiden und sich eine völlig neue Plattform zu bauen. Es kann sein, dass ihnen das gelingt.
Sie haben schon früher plötzlich extreme Disziplin und praktisches Denken bewiesen. In diesem Fall wird es Hillary Clinton schwer haben.

 

Sie scheint auch Imageprobleme zu haben.
Der amerikanische Durchschnittswähler findet Hillary Clinton nicht attraktiv, weder als Frau noch als Typ. Ihr fehlt der Charme eines Ronald Reagan, eines Bill Clinton oder sogar George W. Bush – der Hauch angenehmer Gewöhnlichkeit, der Humor. Hillary Clinton ist willensstark und intelligent. Das spricht groteskerweise nicht für sie. Und sie hat etwas getan, was viele Amerikaner noch immer nicht verkraftet haben: Sie hat ihrem untreuen Ehemann verziehen. Aus Liebe, wie ich glaube. In diesem Land würden die meisten Leute vermutlich genauso handeln, aber niemand würde dies öffentlich zugeben. Hillary Clinton ist über den Betrug ihres Mannes hinweggegangen, wie über einen Stein, an dem sie sich das Bein aufgeschlagen hat. Es tat weh, aber sie hats überlebt. Und was die meisten nicht begreifen: Sie schämt sich nicht dafür.

 

Für jemanden, der seit vierzig Jahren mit derselben Frau verheiratet ist, haben Sie viel über unglückliche Ehen geschrieben. Wie kommt das?
Wir leben in einer Kultur der unglücklichen Ehen. Ich hingegen wuchs in einer sehr glücklichen Familie auf – es gab nur uns drei: meine Mutter, meinen Vater und mich. Meine Eltern waren einander innigst zugetan. Deshalb wurde das Erfinden unglücklicher Ehen für mich zu einer Art Teufelsbeschwörung. Eine beängstigende und doch fruchtbare Quelle für Dramen.

 

Wie hielten Sie es während der vierzig Jahre Ihrer Ehe mit der Treue?
(Scharf) Wie soll ich es damit gehalten haben?

 

Die meisten Ehen in Ihren Kurzgeschichten scheitern an der Untreue eines Ehepartners.
Mein Versuch, den Vorhang zu lüften, vor dem, was wir traditionellerweise unter dem Begriff «Ehebruch» subsumieren, ist ein Versuch, auf viel subtilere menschliche Verhaltensweisen hinzuweisen: auf die Unfähigkeit, standhaft zu sein, auf einen Mangel an Aufrichtigkeit und Fantasie. Vor diesen übeln ist keine Ehe gefeit. Auch meine war es nie. Tolstoi sagte, alle glücklichen Familien seien sich gleich. Nein! Weder die glücklichen Familien noch die glücklichen Ehen sind sich gleich. Die meisten Ehen scheitern nicht wegen Ehebruchs, sondern wegen eines Mangels an Fantasie beider Partner. Eine glückliche Ehe muss man sich jeden Tag neu erfinden.

 

Ist die Institution Ehe nicht etwas altmodisch?
Sie haben recht. In der zeitgenössischen Literatur findet man nicht mehr sehr oft verheiratete Paare. Weil die Autoren selber nicht verheiratet sind und auch gar nicht heiraten wollen. In Beziehungen rutscht man heutzutage mit derselben Leichtigkeit und Unverbindlichkeit, mit der man sie wieder auflöst. Nicht dass ich das verurteile. Ich habe kein persönliches Interesse daran, die Institution der Ehe zu retten. Aber ich bin der Ansicht, dass die Ehe die einzige Institution ist, die dem Menschen die Möglichkeit bietet, einen anderen Menschen im Innersten kennenzulernen. Ein moralisches Leben hat seinen Ursprung in der Beziehung zwischen zwei Individuen. Wenn Sie sich also auch nur ein bisschen für Fragen der Moral interessieren – was bedeutet es, gut zu sein, was ist menschliche Schlechtigkeit? –, dann müssen Sie dort anfangen.

 

Im Augenblick sehen viele Amerikaner die Institution der Ehe auch durch die mancherorts legale gleichgeschlechtliche Ehe bedroht.
Kompletter Schwachsinn. Eine Lüge, die von Leuten verbreitet wird, die ein Interesse an der Beibehaltung des Status quo haben.

 

Was ist Schwachsinn? Dass gleichgeschlechtliche Ehen eine Gefahr für die traditionelle Ehe sind?
Ja. Fragen Sie irgendjemanden, der verheiratet ist: Tom und Bob werden morgen heiraten – fühlst du dich deinem Mann deshalb weniger verbunden? Oder deiner Frau? Findest du, dass deine Lebensqualität gesunken ist, weil Tom und Bob zwei Strassen weiter unten geheiratet haben? Bringen Sie mir jemanden, der so etwas allen Ernstes behauptet.
 

Wer das behauptet, kämpft vermutlich mit einer Ehe, in der ohnehin der Wurm drin ist.
Soweit würde ich nicht gehen. Doch den Widerstand in diesem Land gegen gleichgeschlechtliche Ehen nähren viele Lager. Die organisierten Religionen zum Beispiel. Je schwächer sie werden, desto lautstarker werden ihre Verfechter. Besonders die katholische Kirche. Sie hat aufgrund ihrer Doktrin ein enormes Interesse daran, die Ehe in ihrer jetzigen Form zu bewahren. Dann gibt es die praktischen Aspekte. Sollten homosexuelle Paare künftig die gleichen Rechte haben wie heterosexuelle Ehepartner, wird die Wirtschaft kräftig zur Kasse gebeten. Arbeitgeber müssten mehr für die Krankenversicherungen ihrer verheirateten Angestellten ausgeben und die Versicherungen im Unglücksfall auch den hinterbliebenen Ehemann eines Ehemanns auszahlen. Doch statt über solches zu reden, argumentieren die Gegner der gleichgeschlechtlichen Ehe lieber mit dem Willen Gottes.

 

Als würden sie den kennen.
Als gäbe es einen Gott. Wenn wirklich jemand dort oben im Himmel sässe und auf uns herabschaute, würde er oder sie uns bestimmt nicht in dem Schlamassel hocken lassen, das wir angerichtet haben. Er hätte uns das Schlamassel gar nicht erst anrichten lassen.

 

Wann sind Sie zu diesem Schluss gekommen?
Ich habe mich vor langer Zeit mit dem freien Willen ausgesöhnt. Deshalb brauche ich nicht bei Vorstellungen der Notwendigkeit, der Vorherbestimmtheit, bei irgendeiner Form des Determinismus Zuflucht zu nehmen.

 

Oder bei Gott.
Oder bei Gott. Ich verdanke mein Glück genauso wie mein Unglück allein den Entscheidungen, die ich im Lauf meines Lebens getroffen habe. Den guten wie den schlechten. Und mit den Folgen dieser Entscheidungen muss ich leben.

 

Frank Bascombe sieht sich zu Beginn von «Die Lage des Landes» mit der Frage konfrontiert: Bin ich zu sterben bereit? Seine klare Antwort darauf: Nein. Haben Sie sich diese Frage auch gestellt?
Ja. Aus vielen konventionellen Gründen. Ich bin 63 und nicht zu absolut hundert Prozent gesund. Aber eigentlich hat mich die Vorstellung des Todes mein ganzes Leben lang begleitet.

 

Wieso?
Mein Vater starb in meinen Armen, als ich sechzehn war, was meine Mutter und mich zusammenschweisste. Weil ich früh einen grossen Verlust erlitten habe, tendieren meine Beziehungen zu Menschen, die ich liebe, und dazu, sehr intensiv zu sein – aus Angst, ich könnte diese geliebten Menschen plötzlich verlieren. Damit einher geht das Bewusstsein, dass mein eigenes Leben endlich ist. Ausserdem erkrankte ich schwer, als ich zwanzig Jahre alt war. Ich werde nie vergessen, wie der Arzt zu mir sagte: Du bist sehr krank, aber ich glaube nicht, dass du sterben wirst. Damals traf mich allein die Vorstellung, dass ich sterben könnte, noch wie ein Schock. Der Schrecken hat sich verloren.

 

Sie haben keine Angst mehr vor dem Tod?
Ich bin bereit zu sterben, aber ich würde lügen, wenn ich behaupten würde, ich sähe meinem Ende völlig gelassen entgegen. Niemand tut das.

 

Weshalb soll man sich vor dem Nichts fürchten?
Wir sind so sehr mit etwas beschäftigt, dass es uns kaum möglich ist, uns dieses Nichts vorzustellen. Dazu müssten wir gewissermassen aus uns selber heraustreten…

 

…fast schon ein bisschen tot sein…
…ja, fast. Jedenfalls ist es äusserst schwierig für Lebende, dieses «Nichts» wirklich durchzudenken. Okay, ich schlafe also ein und erwache nicht mehr. Was tue ich dann? Nun, eben nichts. Für immer. Dieser Gedanke kann ein wenig unangenehm sein.

 

Ist Ihnen der Tod je als eine wünschenswerte Alternative erschienen?
Nein. Natürlich gibt es Momente, da man denkt, ach wär ich doch tot. Aber das ist meistens bloss Geschwätz. Wenn man sich wirklich zu Hause umzusehen beginnt nach Mitteln, mit denen man sich ins Jenseits befördern könnte, werden einem diese Mittel eher fremd vorkommen. Man bringt es nicht fertig, sich tatsächlich eine Schlinge um den Hals zu legen oder den Kopf in den Ofen zu stecken oder sich die Adern aufzuschneiden. Mir jedenfalls war Selbstmord immer zu umständlich.

 

Statt das Dasein gleich durch das Nicht-Sein zu ersetzen, wechseln manche ihre Identität.
Ich habe etwas in dieser Art versucht, als ich in den frühen Sechzigerjahren Mississippi verliess, um in Michigan zu studieren. Ich wollte meine Vergangenheit hinter mir lassen und ebenso all die Leute, die mich als den kannten, der ich damals war.

 

Weshalb hielten Sie das für nötig?
Ich wollte frei und ungehemmt leben können. Bis zu einem gewissen Grad unternimmt doch
jeder Mensch einmal einen solchen Schritt. Man will nicht endlos die überreste von Kindheit und Jugend mit sich herumtragen.

 

Ist der Richard Ford, zu dem Sie damals wurden, noch derselbe Richard Ford, der Sie heute sind?
Das kann ich nicht mit Sicherheit beantworten. Unsere gesamte Kultur beruht auf der griechischen Vorstellung von Charakter, auf der Kontinuität des Lebens, der Entwicklung einer Seele, eines beständigen, essenziellen Ichs. Andererseits besteht eines der verheissungsvollsten Versprechen der amerikanischen Kultur in der Möglichkeit zur Selbsterneuerung, zur Selbsterfindung. Dieser Widerspruch hat mich immer beschäftigt. Inzwischen neige ich dazu zu glauben, dass wir, abgesehen von oberflächlichen ähnlichkeiten, in unterschiedlichen Stadien unseres Lebens tatsächlich ziemlich verschiedene Menschen sind.
 

Was hat es zu bedeuten, dass Sie nach Beendigung von «Die Lage des Landes» Ihren langjährigen Schreibort, Ihr Bootshaus, geräumt haben?
Ich weiss es nicht. Gestern brachte ich zum ersten Mal seit zehn Monaten wieder einen Satz zu Papier. In der Küche unseres Gästehauses. Wenn ich etwas fertig geschrieben habe, glaube ich immer, ich würde nie wieder etwas schreiben können. Ich meine vergessen zu haben, wie man es macht. Es ist, als müsste ich es neu lernen.

 

Das zeugt nicht gerade von einem grossen schriftstellerischen Selbstvertrauen.
Meine Existenz als Schriftsteller erscheint mir auch nach vierzig Jahren noch eine exzentrische, ja unmögliche Angelegenheit zu sein. Ich halte meine Fähigkeiten für keineswegs überdurchschnittlich. Ich zähle mich zum Fussvolk. Doch die Kunst bringt manchmal gewöhnlichstes menschliches Material dazu, Ungewöhnliches zu produzieren.

 

Kokettieren Sie jetzt nicht ein bisschen?
Nein. Hätte meine Frau mich nicht ermuntert und bestärkt und fortwährend unterstützt, wäre ich bestimmt nicht Schriftsteller geworden. Zumindest wäre ich es nicht lange geblieben.

 

Da Sie nun aber Schriftsteller sind: Wie stellen Sie sich Ihr literarisches Vermächtnis vor?
Ich schreibe für die Menschen, die heute am Leben sind. über das, was nach meinem Abgang geschieht, mache ich mir keine Gedanken.

20.07.2007

 

 

Richard Ford (*16. Februar 1944 in Jackson, Mississippi) erhielt für seine Romane den Pulitzer-Preis und den PEN/F<Paulkner Award. Seine Erzählungen erschienen vor allem in den Zeitschriften The New Yorker und in Esquire. Er gilt mit John Cheever und Raymond Carver als Vertreter des „dirty realism“. Viele seiner Erzählungen spielen in Montana, wo er lange Zeit die Sommer verbrachte. Die deutschen Ausgaben seiner Bücher sind im Rowohlt Verlag, S. Fischer Verlag und Berlin Verlag erschienen. Sein letzter Roman heisst „The Lay of the Land“ (2006) und stellt den Abschluss der Trilogie um Frank Bascombe dar, auf Deutsch im Juli 2007 unter dem Titel Die Lage des Landes in der Übersetzung von Frank Heibert erschienen. Ford ist seit 1968 mit Kristina Hensley verheiratet, der auch die meisten seiner Bücher gewidmet sind. (Quellennachweis: Wikipedia)

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