FRONTPAGE

«Michel Houellebecq: Die Unterwerfung»

Von Ingrid Isermann

 

Von radikaler politisch-gesellschaftlicher Aktualität ist das Thema nicht zuletzt durch die gegenwärtige Islam-Debatte. Houellebecq (*1958), Seismograph unserer Zeit, hat mit seinem fiktiven Roman einen Coup gelandet: 2022 wird Frankreich von einem Muslim regiert, scheinbar ohne grosse Probleme. Das Buch steht, wen wundert’s, gleich nach Erscheinen auf der Bestsellerliste.

 

Houellebecq, der Provokateur und Gesellschaftskritiker, geniesst den Aufstand, wenngleich nach dem Anschlag auf «Charlie Hebdo» die Zeichen auf Sturm stehen. Sein Buch erschien in Frankreich am Tag des Terroranschlags, als Karikatur war sein Bild auf der Titelseite der Satirezeitschrift zu sehen. Die Schüsse auf der Redaktion von Islamisten galten genaugenommen auch ihm. Als „islamophob“ hatte man Houellebecq schon vorher bezeichnet, da er sich mehrfach geringschätzig über den Islam geäussert hatte, was er vehement zurückwies, inzwischen habe er sich mit dem Islam auch stärker auseinandergesetzt.

 

Liest man das Buch, ist man erstaunt, wie leichtfüssig und schwebend es geschrieben ist, angesichts der schwerfälligen und bedeutsamen Materie. Es erscheint keinesfalls abwegig, wie Houellebecq den Fortgang der politischen Entwicklung schildert, dass man das starke Aufkommen der Rechtspopulisten von Marine Le Pen, – auch die Namen der Politiker wie der französische Ministerpräsident Manuel Valls bis zu François Hollande sind wortgetrau abgebildet -, mithilfe der bürgerlichen Parteien und der Bruderschaft der Muslime verhindern will. Der gemässigte Kandidat Mohammed Ben Abbes wird schliesslich in der Stichwahl zwischen der rechtsextremen Marine Le Pen zum Präsidenten gewählt.

 

«… für elf Uhr war eine Pressekonferenz von Mohammed Ben Abbes angesagt. Wohlgenährt und heiter, den Journalisten gegenüber um keine Antwort verlegen, liess der Kandidat der Bruderschaft einen regelrecht vergessen, dass er einst zu den jüngsten Absolventen der Ecole Polytechnikum gehört hatte, bevor er an die Ecole Nationale d’Administration gegangen war. (…) Er wirkte eher wie einer dieser guten alten tunesischen Händler um die Ecke – was sein Vater übrigens tatsächlich gewesen war, auch wenn dessen Laden in Neuilly-sur-Seine und nicht im achtzehnten Arrondissement oder gar in Bezons oder Argenteuil lag. Mehr als jeder andere, so rief er seinem Publikum jetzt ins Gedächtnis, habe er von der republikanischen Meritokratie profitiert; weniger als jeder andere wolle er ein System untergraben, dem er alles zu verdanken habe, bis hin zu der höchsten Ehre, sich dem französischen Volk zur Wahl stellen zu dürfen. Er erzählte von der kleinen Wohnung über dem Laden, wo er seine Hausaufgaben gemacht habe; er liess kurz seinen Vater auferstehen – nur so viel, dass es berührend war. Ich fand ihn wirklich grossartig.»

 

Der islamische Präsident verfolgt ein zurückhaltendes politisches Programm. Nur langsam verändern sich die Realitäten an der Sorbonne, Frauen werden als Dozentinnen entlassen, Kopftücher und Burka sind nun die Regel unter den Studentinnen. Wer eine Professur bekleiden will, muss zum Islam konvertieren.

Protagonist als Ich-Erzähler ist François, ein Literaturwissenschaftler an der Sorbonne, der neben unsteten oft wechselnden Beziehungen zu Frauen ein Alkoholproblem hat. Ein aus Belgien stammender Konvertit und Professor an der Sorbonne überzeugt den schwankenden François mehr und mehr, die Vorzüge des islamischen Lebens zu schätzen, wie eine massive Erhöhung seines Gehaltes durch die Saudis, wobei ihm drei Frauen massgeblich zuständen, wenn er konvertieren würde.

 

Das Gerüst des Buches bildet in Einschüben auch die Auseinandersetzung mit Joris-Karl Huysmans (1848-1907), hierzulande eher unbekannt, ein Vertreter der französischen Dekadenzliteratur und katholisches Pendant zu Oscar Wilde, der später ins Kloster eintrat. François zieht sich jedoch nicht von der Welt zurück, sondern wendet sich dem Islam zu, der ihm zudem die Möglichkeit bietet, die polygame Variante in Beziehungen auszuleben.

 

Houellebecq kritisiert mit «Unterwerfung» die von Geld und Gier getriebene Konsumgesellschaft und die seelenlose Trostlosigkeit ohne Perspektiven für weite Teile der französischen Gesellschaft. Eine beeindruckende Performance nicht ohne Witz und Humor, auf jeden Fall ein Buch, das zu nötigen Diskussionen anregt. Man kann es kaum aus der Hand legen, denn es wirft bequeme Glaubenssätze und Gewissheiten mühelos über Bord.

 

Zuletzt erschienen von Houellebecq der mit dem renommierten französischen Literaturpreis, dem Prix Goncourt ausgezeichnete Roman «Karte und Gebiet» (als Theaterstück im Neumarkt Theater aufgeführt, siehe Archiv) sowie der Gedichtband «Gestalt des letzten Ufers» (2014).

 

 

Michel Houllebecq
Unterwerfung
Roman
Aus dem Französischen
von Norma Cassau und Bernd Wilczek
Dumont Buchverlag Köln, 2015
CHF 33.90
ISBN 978-3-8321-9795-7

L&K-Buchtipp

 


«Abdelwahab Meddeb: 115 Gegenpredigten»
Um sich in die heutige Zeit einzufinden, benötigt der Islam vor allem eines: Kritik. In den letzten Jahren hat sich eine kritische Auseinandersetzung entwickelt, die an prominenter Stelle von Abdelwahab Meddeb vorangetrieben wurden. Trotz aller Bannflüche, Verwünschungen und Behinderungen von fundamentalistischer Seite, trotz aller Bluttaten wird dieser Prozess nicht aufzuhalten sein.
 

In seinen Gegenpredigten, die alles andere sein sollten, als «Predigten», zeigt der Autor, dass der Islam in seiner Kultur und Geschichte die Potentiale zur Selbsterneuerung trägt. Es sind 115 kurze Betrachtungen über Themen wie: der Schleier, die Trauer, der Anschlag von Madrid, die Gastfreundschaft, Mythos Bagdad, der 11. September, Weltliteratur, um nur einige zu nennen. Meddeb sieht das Religiöse im Alltag, er entschleiert Mythen geht die Tabus an, um die Kultur Lebenskunst und Politik zu einem Mosaik einer Weltreligion zu vereinen, die ihre befreienden Potenzen noch nicht wirklich entdeckt zu haben scheint.

 

 

Abdelwahab Meddeb war einer der profiliertesten Vertreter der französischen Schriftsteller arabischer Herkunft. Er wurde 1946 in Tunis geboren und stammte aus einer Familie von Theologen und Schriftgelehrten an der Zituna-Universität. Zum Studium der Literatur und Kunstgeschichte kam Meddeb nach Frankreich, nach Aix-en-Provence und an die Sorbonne. Es folgte die Arbeit als Lektor im Verlag Seuil und als Zeitschriften-Herausgeber. In «France Culture» betreute er die wöchentliche Sendung «Cultures d’islam». Als Lyriker, Essayist und Hochschullehrer lebte er in Paris. Das zentrale Anliegen des überzeugten Europäers mit islamischen Wurzeln war das aufklärerische Potential des Islam. Meddeb verstarb mit 67 Jahren am 6. November 2014 in Paris.


«Ein leidenschaftliches Plädoyer für den Mut, die Potential des Islam zu seiner Selbsterneuerung zu entdecken. 115 kurze Texte zeigen den tunesisch-französischen Denker erneut als grossen Aufklärer der arabischen Welt». (ZEIT).

 

 

Abdelwahab Meddeb
Zwischen Europa und Islam
Übersetzt von Rainer G. Schmidt
Wunderhorn Verlag Heidelberg
418 S., geb.,CHF 52.10.  € 29.80
ISBN 978-3-88423-288-0

NACH OBEN

Literatur