FRONTPAGE

«Monografie Gigon/Guyer Arbeiten 2001-2011»

Von Fabrizio Brentini

Als vor gut zehn Jahren die erste Monografie über Annette Gigon und Mike Guyer erschien, stellten sich dazu einige kritische Fragen. Die Publikation war schön, zweifelsohne, aber es war die Gefahr einer Banalisierung ihrer Werke durch die Fülle astreiner Fotografien und Pläne zu orten. Ich vermisste Spuren des Arbeitsprozesses wie Modelle und Skizzen. Nun liegt die Fortsetzung vor, die Präsentation der Werke aus den Jahren 2001 bis 2011.

Das Kleid bleibt dasselbe, es ist ein umfangreiches Buch im gleichen Format wie beim Vorgänger, auch wenn jenes minimal schmäler ist als dieses, und mit einer ähnlichen Regie. In grob umrissenen Kapiteln werden die Ergebnisse des letzten Jahrzehntes mit Kurzkommentaren, Fotos und Plänen aneinandergereiht. Wie die beiden Architekten im Vorwort betonen, sollen sich den Betrachtenden die Projekte«sequenziell, von Seite zu Seite blätternd» erschliessen.

 

 

Sind nun ebenfalls Bedenken zu äussern wie vor zehn Jahren? Nein, Gigon und Guyer bleiben sich treu. Sie führen ihr Konzept zielgerichtet fort und schaffen einen Überblick, der von Kontinuität zeugt, und dies ist meiner Ansicht nach angesichts der Hakenschläge anderer renommierter Teams höchst bemerkenswert.

 

Dass auch diesmal wenig über den Arbeitsprozess zu erfahren ist, dass nichts über so etwas wie ein architektur-theoretisches Fundament zu lesen ist, dass die zweite Monografie wie die erste ein Katalog ist, nicht mehr, aber auch nicht weniger, ist die richtige Entscheidung.

Im Vergleich zu anderen Architektur-Monografien, bei denen ich oft das Gefühl hatte, dass manifestartig die jeweilige Neuerfindung des Buches zelebriert werden sollte, bleibt das Doppelwerk von Gigon/Guyer grundsolide.

Noch etwas fällt bei der Betrachtung beider Bücher auf. Sie erscheinen durch die Wahl desselben Formates und desselben Layouts des Umschlages, auch wenn der Titel der zweiten Monografie aus einer anderen Schrift gesetzt ist, wie Kleinarchitekturen, die beliebig miteinander kombiniert werden können und unterschiedlichste Ansichten erlauben.

 

 

Das Kirchner-Museum Davos als Referenzobjekt

 

 

1992 katapultierten sich Gigon und Guyer mit dem Kirchner-Museum in Davos an die Spitze der Schweizer Architekturszene. Das Museum scheint auch in diesem Band das Referenzobjekt schlechthin zu sein. Sowohl Gerhard Mack als auch Arthur Rüegg beginnen ihre Aufsätze – jener zu den Raumgestaltungen für Ausstellungen, dieser zu den Um- und Ausbauten bestehender Gebäude – mit einer Rekapitulation des Erstlingswerkes. Dieses ständige Verweisen kann jedoch zur Bürde werden, als ob das Team auf die Äesthetik und die Konzeption des Kirchner-Museums auf immer und ewig verpflichtet würde. Gigon und Guyer entziehen sich dieser Schlinge mit einer Art Antithese.

 

Die Reihe der rund 40 in der Monografie dargelegten Projekte eröffnet das 2002 vollendete archäologische Museum in Osnabrück, das in erster Linie nicht eine kristalline und mehr oder weniger hermetisch abgeschottete Box für wertvolle Bilder ist, wie dies in Davos verwirklicht wurde, sondern der Meeting Point für die Erkundung eines museal kaum zu erfassenden Areals, das die in der Antike geführte Varus-Schlacht verständlich machen soll. Nicht ein klar definiertes Gefäss erwartet die Besucher, sondern zahlreiche, über eine grosse Fläche verstreute, mehr oder weniger artifizielle Eingriffe, Follys nicht unähnlich.

 

 

Die Grenzziehung zum Frühwerk ist klar, deutlich und unmissverständlich.

 

 

Dem Kapitel mit den Bauten und Entwürfen für Ausstellungen folgen dasjenige mit öffentlichen Bauten, mit den Renovationen und Umbauten und schliesslich mit den Ein- und Mehrfamilienhäusern. Jedes Projekt wird mit Fotos, Plänen und knappen, sprachlich präzisen Kommentaren dokumentiert.

 

Hervorgehoben wird das derzeit höchste Hochhaus der Schweiz, der Prime Tower, der von zehn Fotografen auf 40 Seiten visuell interpretiert wird. Die 126 m hohe Vertikale erhebt sich über einem unregelmässigen Grundriss und gewinnt mit zunehmender Höhe durch verschiedene Auskragungen an Volumen. Ob der gänzlich in Glas eingekleidete Turm sich tatsächlich der gängigen Typologie des Hochhauses widersetzt, wie Philipp Ursprung schreibt, möchte ich doch bezweifeln; es ist überhaupt schwierig, in der jetzigen Phase der Wolkenkratzereuphorie Wertungen vornehmen zu wollen. Meiner Ansicht nach verdient nicht der Prime Tower mit den ebenfalls von Gigon und Guyer projektierten Nachbargebäuden die grösste Aufmerksamkeit, sondern die Wohnhäuser, zu denen die Architekten im Gespräch mit Martin Steinmann und Patrick Gmür Erfahrungen austauschen.

 

In diesem Dialog werden all die Sachzwänge und Schwierigkeiten erfrischend ehrlich genannt, die mit den Wohnbauentwürfen in städtischen Ballungszentren verbunden sind. Es geht um Ausnützungsziffern, um Wünsche seitens der Bauherrschaften wie der künftigen Bewohner, um Einbettung in die Umgebung, um Grundrisse, um Fassadengestaltung, um die Grösse der Fenster und vieles mehr. Gigon und Guyer verzichten auch hier auf Ideologien und auf intellektualisierendes Geschwätz. Und auch in der Ausführung halten sie sich formal wohltuend zurück. Die Einheiten strahlen gleichwohl eine starke Präsenz aus, wofür der von Künstlern koordinierte Einsatz von farbigen Flächen als vierte Dimension, wie es Gigon und Guyer nennen, verantwortlich ist.

 

Abgeschlossen wird die Monografie mit der allerdings nicht lückenlosen Werkliste, die inzwischen bei Nummer 276 angelangt ist. Wer die erste Monografie konsultiert, wird feststellen, dass deren Nummerierung (1 bis 57) nicht weitergeführt wurde. Ich gehe davon aus, dass für das «Gigon-Guyersche-Köchel-Verzeichnis» die zweite Monografie massgebend sein wird.

 

Gigon/Guyer Architekten. Arbeiten 2001–2011,

608 Seiten, 935 Abbildungen, Lars Müller Publisher Baden 2011,

CHF 75, EUR 58.

ISBN 978-3-03778-257-6.

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