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«Nico Bleutge: Rhythmus, Salzluft und Lichtkristalle»

Von Ingrid Isermann

 

Von Ingrid Isermann

 

Der neue Gedichtband von Nico Bleutge besteht aus einem Zyklus von zehn Gedichten. Der Bosporus als Sprungbrett, Öltanker und Containerschiffe erzählen davon, wie weltweiter Handel Vorstellungen von Zeit, Transport und Geschwindigkeit rasant verändert. Erinnerungen aus der Kindheit, Zeitschichten und Mehrdeutigkeiten, aber auch Verknüpfungen der Gemeinsamkeiten, die wie aus dem Nebel auftauchen.

 

Sehen ist Wahrnehmung und mehr als nur optisches Schauen. In Nico Bleutges Gedichten begegnet man den Impressionen eines Dichters, der andere Perspektiven wahrnimmt und dafür nichts eigentlich Spektakuläres braucht.  Seine Art des Beobachtens berührt unmittelbar: «räume wie glas, mit ihrem kurzen strahlen, als wäre nicht tag, als gäbe es schnee nicht und lungen, keine strömung, stau.»

Mit rhythmischer Kraft setzt Bleutge seine Impressionen wie Bausteine zusammen und zeigt Mehrdeutigkeiten in Sprachschichten auf: «mischte sich jenes licht mit dem licht, erzeugte ihre verbindung/ein anderes licht, verwandtschaft von flucht und begreifen/ein zwischending aus gas und flüssigkeit/das die welt umpflügte».

 

 

Nico Bleutge, 1972 in München geboren, lebt in Berlin. Für sein Schreiben wurde er vielfach ausgezeich­net, u. a. mit dem Erich-Fried-Preis (2012), dem Christian Wagner-Preis 2014, dem Eichendorff- Literaturpreis (2015), dem Alfred-Kerr-Preis (2016), dem Casa Baldi-Stipendium der Deutschen Akademie Rom (2015) und dem Stipendium der Kulturakademie Tarabya, Istanbul (2014/15).

 

 

nachts leuchten die schiffe

versenk dich in die bewegung des wassers
mischte sich jenes licht mit dem licht, erzeugte ihre verbindung

ein anderes licht, verwandtschaft von flucht und begreifen
ein zwischending aus gas und flüssigkeit
das die welt umpflügte. die wellen verstehen
so wie ein tanker durch die helle wasserfläche gleitet
zellhaut legt sich über zellhaut, erkundungsgeschwader für müde

strahlen, und die ströme quellen, meilenbreite bänder
wo alles sich aus masse in kraft verwandelt, glattes leuchten
das zusammenspiel von zink und rost verdecken
stumme kristalle, und die impulse vom landverkehr
sand streuen, mit einem mürben klingen
die kanalrouten waren den wellen voraus
leichte fahrzeuge bahnten ihnen den weg durch das packeis

wollten die schönheit des neuen kontinents abwarten
die erinnerungen drehen, dehnen sich langsam
als wären sie luftfäden, lebende moostierchen
die wanderbewegungen verloren gegangener
handelsgüter, die das licht des tages aufsaugen
und die frachtarbeiter an deck, ihre grellroten westen
die noch kurz in der dämmerung wachsen
die glut vertiefte sich, hob den erdstoff ein wenig
meer schien land und land schien meer zu sein
das wieder land war, rückstoß, zeit. die warme golfstromdrift

sandte ihr wasser herüber, lief an der südspitze grönlands vorbei

öffne die tür, mit ihrem mürben klingen
sieh dir den innendunst an
ein raum wie ausgemalt von ideen
der himmel nach oben geträumte tiefe, eine ferne

ahnung von grundlawinen, ständiges
wachsen und schichten von erde, denk an den
landweg, schau wie vom meer dort hinein, man baute
an einem korallenstock, von vielen stellen zugleich
stießen sie vor, schaltkreise, schleusen von licht
hatten die alten massen durch-
brochen, räume wie glas, mit ihrem kurzen
strahlen, als wäre nicht tag, als gäbe es schnee nicht
und lungen, keine strömung, stau. folge den trupps
auf dem weg nach unten, jedes ding bewegte sich
mit seinem eigenen drang, ein öffnen von schächten
buchten, gespür für veränderte routen. denk wie
der tonsand, fern in der ahnung von muschelschichten
denk wie muskeln und kalk, zelle um zelle
baute sich an, traum von geweben, häuten, wo du hinein-
gehst, siehst du nicht mehr hinaus, als wäre alles mit allem

verbunden, virus der weltpost, nicht mehr grund und keine
nacht in gedanken, ständig im kreisen, wachsender stoff
der sich trug, vom atlantischen wasser umfaßt, nach dem erdmüden

meer geschlossen, als wäre es sand, als würde das licht sich

verstärken, wege wie luft in den raum zeichnen

jetzt ist die nacht ein geräusch, in dem tiere verschwinden

mit einem herzen dazwischen, gespinsten der vorstellungskraft

die maschinen schlagen von unten an die schiffskörper

während das wasser schon seine wurzeln verliert
und die luft in nichts versinkt, staub und flocken und federn
jetzt mischen die kristalle den lauf der tanklinien neu

schleusen land an die decken der container. sauerstoff
setzt sich ab, wo die strahlen das eismeer erkunden
und die fische sich in fische auflösen, eine bewegung
die keinem traum folgt, erst sichtbar wird im verschwinden
und die schiffe werden schneller, laufen deutlicher schwankend auf der meeresoberfläche wie auf schienen, als wollten sie
die zeit streuen, mit erhöhter umschlagsfrequenz
in die gebäude dringen, die frachthallen sprengen
und sogleich wie ein flug von mücken über dem gebüsch

die erinnerungen, aus einem sommer irgendwann
stücke von dunst auf dem grund der kindheit
von einem wasser irgendwann, ein paar kinder
schneiden einen apfel auf dem balkon, reichen mir die stücke

während ich auf den fluß blicke und die frachter höre, ihr

klopfen. schau wie die wärme sich dehnt, schau wie die frachter
auf ihren decks die strahlung mitnehmen
während ich ein paar blätter aufsammle, sie mit der hand

umschließe und ihren duft abwarte, kleine waren
die strom saugen, sich unter licht zusammenfalten

 

 

 

salzluft, von kristallen durchwehte

atmung, winzige tropfen, calcium, mangan

wie von windhauch bewegte lunge

heiseres flüstern, ein tauen, auf-

rauhen von harsch, von rachenhaut

von sekreten bewegen schnaufen

schleimige lösung, ein zähes salz

das sich anlegt, im binden von tau

von dunst, sich selber verwandelnd

schnelles schwinden, fliessen

nicht, im ständigen schleiern, aus-

flocken der stoffe, die ziehen, fast einnachten

im feuchten aufzugehen scheinen

 

 

 

SWR Bestenliste April 2017: Platz 8
 
Echos und Lesefetzen, eigene und fremde Stimmen, die sich zu einem Dritten formen. Solche Sprachfunde sind für Nico Bleutge wie Kraftfelder, die seine Aufmerksamkeit bündeln.
 

Nico Bleutge
nachts leuchten die schiffe
gedichte
C.H. Beck Verlag, München 2017
87 Seiten, geb.
CHF … € 16.95 (D). € 17.50 (A)
E-Book € 13.99

 

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