FRONTPAGE

«Peter Handke: Textlandschaften von den Rändern»

Von Ingrid Isermann

 

Im Alltagsgetriebe scheint nichts wichtiger zu sein als die nächsten News, die uns in Atem halten über die Vorkommnisse in der Welt, die erschrecken und selten mit Freude erfüllen. Doch wesentlich sind nicht nur News, sondern auch das, was sich am Rande abspielt, an den Rändern des Unsagbaren auch: «Vor der Baumschattenwand nachts».

Es ist kein geringes Verdienst, wenn sich Schriftsteller, hier also Peter Handke auf Selbstversuchen und Wanderungen durch scheinbar Unscheinbares auf den Weg macht, das Wahre zu erkunden, sich selbst näher zu kommen und beiläufig über gar nichts Weltbewegendes zu schreiben, dass dennoch bewegt.

 

Der Titel «Vor der Baumschattenwand nachts» deutet es an, das Ungewöhnliche im Gewöhnlichen, da sitzt einer reflektierend im Dunkeln im Garten, nachts, wo sich die Bäume sowohl beschützend wie auch bedrohlich auftürmen, schweigend wie ein Wall, der zum Schweigen einlädt, zum Sinnieren, zum Denken, zum Nachdenken, zu Abschweifungen bis zum Nichtdenken. Eine fast klösterliche Stille, in der Notate der Erinnerung und Gegenwart Platz finden. Peter Handke zitiert Goethe, bei jeder Gelegenheit, bei vielen Gelegenheiten also, es passt, häufig jedenfalls. Handke ist ein eifriger Goethe-Kenner und –Leser, was dazu animieren könnte, Goethe (wieder) zu lesen, jeder und jede kann etwas anderes interpretieren, hinein interpretieren in die Situationen und Zustände:

 

«Eine Art Inspiration ist schon das „Es kommt mir in den Sinn»

 

«Zeichen und Anflüge von der Peripherie 2007-2015» lautet der Untertitel der Tagebuch-Notizen, die den Vorteil haben, dass man das Buch an jeder Stelle wie ein  Orakel aufschlagen kann, es nicht kontinuierlich von vorne bis hinten durchlesen muss, sondern auch vom Ende her anfangen kann, wie es die Japaner tun.

 

Erst mit dem folgenden Tag kam die Gerechtigkeit für den vergangenen

Es fällt auch hier nicht schwer, sich die politischen Erdbeben wie den „Brexit“ zu gegenwärtigen…

 

 

«Sei Vater!» – «Aber wie?» – «Sei ein Mann!» – «Wenn ich bloss wüsste, was das ist,
ein Mann»

 

Die nichtmachistischen Notate wirken sympathisch, aber das ist wohl nicht das, was Peter Handke „in mind“ hatte. Jetzt, wo schon nachmittags die Fussballspiele der Europameisterschaft in Paris stattfinden (eines seiner ersten Bücher war «Die Angst des Tormanns beim Elfmeter»), kann man ermessen, was die Jungs auf dem Rasen für männlich halten, diesmal ganz unverblümtes Umarmen, Umringen und Umklettern von Männern, sonst undenkbar. Aber auch rohes Schreihen und Fouls am laufenden Meter.

 

«Ich ertrage keine Ungerechtigkeit».- «Und trotzdem bist Du ein Fussballbegeisterter?» – «Ja»


Wenn die Insignien der Macht Ruhm, Geld, Frauen, schöne Autos sind, dann erfüllt Peter Handke zumindest zwei dieser Privilegien: Ruhm und Geld, sich das Leben so einrichten zu können, wie es viele nicht können und vor allem nicht für möglich halten: mit Schreiben. Und wer den längeren Atem hat, die Märkte und diejenigen, die ihre Haut zu Markte tragen oder die Dichter und Schriftsteller, bleibt eine offene Frage. Handke hält sich an den Dichterfürsten Goethe, in jeder Lebenslage, noch gegenwärtig trotz Grosskapitalismus und Globalisierung. Oder gerade deshalb?

 
«Eine Frau ist da zum Aufschauen. Eine Frau? Ein Kind?

 

«Was geht über Begeisterung? Begeisterte Ruhe (kein Oxymoron)»

 

«Nichts unedler als die Ungeduld; nichts würdeloser»

 

«Preisfrage»: «Wie ist es möglich, das Lesen, das vollständige, einer Zeitung lebend zu überstehen?» – „

 

Unwillkürlich denkt man hier auch an die nassforsche Berichterstattung der News in den Medien, ob elektronisch oder Print.

 

 

Und Handke belässt es nicht bei den 10 Geboten und erlässt ein 11. Gebot:

 

«Denken soll Vergegenwärtigen sein!», (eins der 11. Gebote).

 

«Wozu ist ein Hindernis da? Es zu umtanzen (für Friedrich Nietzsche)»

 

«Unvergleichlich: Ein Tautropfen an der Spitze des unvergleichlich spitzen
Nussbaumblattes. (Sammle solche Unvergleichlichkeiten).»

 

 

Solche Sätze, so eben wie leicht hingeworfen, können schon begeistern. Und was so einfach aussieht, ist doch Denkarbeit, Arbeit am Denken und zu empfehlen. Wie dieses Buch, eine kleine Schatztruhe mit funkelnden An- und Einsichten. Nicht unerwähnt bleiben sollen die poetischen Miniaturen und akribischen Zeichnungen, vom «Bienenstock» bis zur «Rosette von Notre-Dame de Paris», mit Buntstiften oder Kugelschreiber und Bleistift ausgeführt, die leider verkleinert reproduziert wurden, die Peter Handke als genauen, aufmerksamen und zärtlichen Beobachter ausweisen.

 

 

Peter Handke

Vor der Baumschattenwand nachts

Zeichen und Anflüge von der Peripherie 2007-2015

Jung und Jung, Salzburg, 2016

Geb., 424 S., mit 80 farbigen Zeichnungen des Autors

€ 28.

ISBN 978-3-99027-083-7

auch als e-book erhältlich

 

 

Peter Handke, am 6. Dezember 1942 in Griffen (Kärnten) geboren, die Familie mütterlicherseits gehört zur slowenischen Minderheit in Österreich; der Vater, ein Deutscher, war in Folge des Zweiten Weltkriegs nach Kärnten gekommen. Zwischen 1954 und 1959 besucht Handke das Gymnasium in Tanzenberg (Kärnten) und das dazugehörige Internat. Nach dem Abitur im Jahr 1961 studiert er in Graz Jura. Im März 1966, Peter Handke hat sein Studium vor der letzten und abschliessenden Prüfung abgebrochen, erscheint sein erster Roman Die Hornissen. Im selben Jahr 1966 erfolgt die Inszenierung seines inzwischen legendären Theaterstücks Publikumsbeschimpfung in Frankfurt am Main in der Regie von Claus Peymann.

Seitdem hat er mehr als dreissig Erzählungen und Prosawerke verfasst, wie Die Angst des Tormanns beim Elfmeter (1970), Wunschloses Unglück (1972), Der kurze Brief zum langen Abschied (1972), Die linkshändige Frau (1976), Das Gewicht der Welt (1977), Langsame Heimkehr (1979), Die Lehre der Sainte-Victoire (1980), Der Chinese des Schmerzes (1983), Die Wiederholung (1986), Versuch über die Müdigkeit (1989), Versuch über die Jukebox (1990), Versuch über den geglückten Tag (1991), Mein Jahr in der Niemandsbucht (1994), Der Bildverlust (2002), Die Morawische Nacht (2008), Der Große Fall (2011), Versuch über den Stillen Ort (2012), Versuch über den Pilznarren (2013).
Auf die Publikumsbeschimpfung 1966 folgt 1968, ebenfalls in Frankfurt am Main uraufgeführt, Kaspar. Von hier spannt sich der Bogen weiter über Der Ritt über den Bodensee 1971), Die Unvernünftigen sterben aus (1974), Über die Dörfer (1981), Das Spiel vom Fragen oder Die Reise zum sonoren Land (1990), Die Stunde da wir nichts voneinander wussten (1992), über den Untertagblues (2004) und Bis daß der Tag euch scheidet (2009) über das dramatische Epos Immer noch Sturm (2011) bis zum Sommerdialog Die schönen Tage von Aranjuez (2012) zu Die Unschuldigen, ich und die Unbekannte am Rand der Landstraße (2016).
Darüber hinaus hat Peter Handke viele Prosawerke und Stücke von Schriftsteller-Kollegen ins Deutsche übertragen: Aus dem Griechischen Stücke von Aischylos, Sophokles und Euripides, aus dem Französischen Emmanuel Bove (unter anderem Meine Freunde), René Char und Francis Ponge, aus dem Amerikanischen Walker Percy.
Sein Werk wurde mit zahlreichen internationalen Preisen ausgezeichnet. Die Formenvielfalt, die Themenwechsel, die Verwendung unterschiedlichster Gattungen (auch als Lyriker, Essayist, Drehbuchautor und Regisseur ist Peter Handke aufgetreten) erklärte er selbst 2007 mit den Worten: »Ein Künstler ist nur dann ein exemplarischer Mensch, wenn man an seinen Werken erkennen kann, wie das Leben verläuft. Er muss durch drei, vier, zeitweise qualvolle Verwandlungen gehen.«

NACH OBEN

Literatur