FRONTPAGE

«Schokoladenträume»

Von Sacha Verna

 
 

Zwischen Holocaust und Eier-Gurken-Diät: Die Bestsellerautorin Lily Brett beweist in ihrem neuen Roman erneut, wie nahe Tragik und Komik beieinanderliegen.

Lily Bretts Vater wohnt zehn Minuten von ihrem Loft in Soho entfernt an New Yorks Lower East Side. Jedes Mal, wenn Lily Brett den 96-jährigen Herren besucht, bringt sie ihm Schokolade mit. Jedes Mal bietet er ihr davon an. Lily Brett lehnt jedes Mal ab, und ihr Vater isst die Schokolade zufrieden allein auf. Und jedes Mal frage ich mich: «Wie alt muss ich werden, bis ich so sorglos Schokolade essen kann?».

 

Lily Brett ist 66 Jahre alt. An diesem heissen Nachmittag sitzt sie in einem schwarz-weiss gemusterten Sommerkleid an dem langen Esstisch in dem ballsaalgrossen Teil ihres Lofts, den ihren Arbeits- und Wohnbereich vom Studio ihres Mannes trennt. David Rankin ist Maler. Er hatte zuvor die Tür geöffnet und den Gast herzlich begrüsst, ihn an den Tisch neben der modernen offenen Küche geführt und zwei Gläser mit Wasser gefüllt, um dann geräuschlos zu verschwinden. Lily Bretts Auftritt gleicht dem einer Primadonna auf der Bühne.

 

Von Schokolade träumt Lily Brett schon ihr Leben lang. Und davon, schlank zu sein. Die Heldinnen ihrer preisgekrönten Romane und Kurzgeschichten kämpfen allesamt mit den Pfunden. Dabei passt Lily Brett heute hervorragend zu den superdünnen Models, von denen es in ihrem schicken Quartier nur so wimmelt. Aber das war nicht immer so. Das war immer schon viel komplizierter.

Denn der andere Traum, der Lily Brett seit ihrer Kindheit begleitet, ist ein Alptraum: Der Holocaust. Lily Bretts Eltern, polnische Juden aus Lodz, haben Auschwitz überlebt. Lily Brett kam in einem Lager für Vertriebene in Deutschland zur Welt. 1948 zogen die Brajsztajns nach Australien. Dort wurden sie zu den Bretts, und Luba wuchs als Lily in Melbourne auf.

 

«Ich hatte immer das Gefühl, von Toten umgeben zu sein», sagt Lily Brett. Eine leise, doch vollklingende Stimme, grosse dunkle Augen unter dichten Locken, ein Mund, der sich manchmal zu einem feinen Lächeln verzieht. Aber nicht jetzt. «Am Anfang gab es nur meine Mutter, meinen Vater und mich. Ich spürte die Einsamkeit derjenigen, die am Leben geblieben sind». Die kleine Gemeinschaft jüdischer Emigranten aus Europa, in der die Familie sich bewegte, vermittelte Lily Brett ein bisschen Trost, ein wenig Sicherheit: «Leute, die über ihre Arbeit redeten, Frauen, die über ihre Männer klatschten, während sie beim Gemüsehändler Gurken aussuchten». Sie bildeten den lebendigen Gegensatz den Erinnerungen an die unmittelbare Vergangenheit, die Lilys Zuhause beherrschten, obwohl man darüber schwieg.

 

«Die Figuren in meinen Büchern verkörpern die Gemeinschaft der Menschen, mit denen ich gross geworden bin», erklärt Lily Brett. Menschen wie die Zeplers in «Einfach so», dem Porträt einer jüdischen Mittelschichtsfamilie in New York, das Lily Brett 1994 zum Durchbruch verhalf. Menschen wie der lebensfreudige Edek und seine nicht ganz so lebensfreudige Tochter Ruth Rothwax in ihrem vorletzten Roman «Chuzpe». Darin geht es wie in Lily Bretts Werken davor um Protagonistinnen, deren Eltern dem Holocaust entkommen sind und die sich nun zwar ziemlich erfolgreich durchs eigene Leben manövrieren, aber stets darüber erstaunt sind, überhaupt am Leben zu sein.

 

 

Lola Bensky in Lily Bretts gleichnamigem neuen Roman ist eine blutjunge Rockjournalistin, die für ein australisches Magazin Stars interviewt: Jimi Hendrix, Janis Joplin, Jim Morrison. In London, New York, am legendären Monterey International Pop Festival von 1967 in Kalifornien. Lola trägt falsche Wimpern und Netzstrümpfe, unter die sie Papiertaschentücher steckt, damit die Innenseiten ihrer Oberschenkel nicht schmerzhaft aneinanderreiben. Lola ist dick.

Mick Jagger erzählt sie, wie das Ghetto von Lodz einmal eine riesige Lieferung Weisskohl erhielt, worauf die Bewohner tagelang nur Kohl assen und mit geblähten Bäuchen herumliefen. Das ist eine der wenigen Geschichten, die sie von ihrem Vater gehört hat. Mick Jagger ist fassungslos. Lola ebenfalls. Eigentlich hatte sie ihn nach seinem Verhältnis zu Brian Jones und Keith Richards befragen wollen.

 

Als Lily Brett pummelig wurde, setzte ihre Mutter sie auf Diät. «Im Lager waren nur die Aufseher gut genährt», sagt Lily Brett und blickt nachdenklich auf ihre zarten Hände. Eine mollige Tochter war für ihre Mutter ein Schlag ins Gesicht. Lily Brett hätte alles getan, um die Traurigkeit zu vertreiben, die ihre Mutter stets umgab. Sie war auch bereit, Apfel-Banane-Eier-Diät zu halten bis in alle Ewigkeit. Nur wurde Lily Brett davon nicht dünner und ihrer Mutter nicht glücklicher. Stattdessen nahm Lily Brett eine Stelle bei einem Rockmagazin an. Sie hatte ihren High-School-Abschluss vermasselt, indem sie die Abschlussprüfungen schwänzte, um sich im Kino «Psycho» anzusehen. Wie Lola Bensky.

 

«Am Anfang seines Medizinstudiums kam mein Sohn einmal ganz aufgeregt zurück und erzählte, seine Professoren fänden mich die coolste Mutter der Welt». Lily Brett kichert. Sie dachte, die Professoren hätten einen ihrer Gedichtbände gelesen: «Dabei kannten die mich aus der Musiksendung, die ich Jahre zuvor im Fernsehen moderiert hatte». Mit dem Rockjournalismus war Lily Brett damals allerdings längst durch. Sie mag Cher ihr bestes Paar künstlicher Wimpern geliehen haben, aber das behielt sie für sich. «Mein Analytiker sagte einmal, die meisten seiner Patienten hätten Probleme mit ihrer Erfolglosigkeit. Ich hingegen habe Probleme mit meinem Erfolg».

Der Journalismus führte Lily Brett zur Belletristik – eher zufällig, wie sie überhaupt das meiste dem Zufall verdankt, was sich für sie als wichtig erwiesen hat. «Ich wurde mit 22 zum ersten Mal Mutter. Seither bin ich hauptsächlich damit beschäftigt, die beste Mutter der Welt zu sein», so Lily Brett. Ihre Prioritäten sind dieselben geblieben: An erster Stelle kommt die Familie – ihr Mann, ihre drei erwachsenen Kinder -, und erst an zweiter folgt das Schreiben. Aber als Lily Brett ihr literarisches Potential einmal entdeckt hatte, packte sie der Ehrgeiz.

Die belletristische Mischung aus Komik und Tragik, aus Autobiografie und Phantasie gefällt Lily Bretts internationalem Publikum. In New York, wo die Schriftstellerin seit 1989 lebt, wird ihr Stil häufig mit dem Woody Allens verglichen. «Wir Juden tragen die Selbstironie in den Genen», meint Lily Brett. Ein Stereotyp. Aber Stereotype findet sie durchaus in Ordnung, solange sie nicht böswillig angewendet werden. Traumaverarbeitungsprosa war ihre Sache nie. Doch der Wunsch, wieder gut zu machen, wofür sie keine Schuld tragen, treibt die Töchter in allen ihren Büchern um – und in absurde Situationen.

 

 

Lily Brett hat etwas von einer Prinzessin auf der Erbse. Sie wirkt zurückhaltend und zeigt sich im Gespräch nicht halb so witzig, wie man es von der Erzählerin ihrer Geschichten erwarten würde. Sie ist von Wohlstand umgeben. Aber Glückseligkeit scheint nicht drinzuliegen. Die Frage, weshalb alle ihre Protagonistinnen so ich-bezogen seien, nimmt sie fast persönlich: «Sie sind nicht ich-bezogen, sie haben nur ein sehr reiches Innenleben». So wie sie selber, fügt sie hinzu.

Lily Bretts Lola Benskys machen sich zum Mass aller Dinge, um an den eigenen Massstäben zu verzweifeln. Vielleicht werfen Lily Brett die Toten immer wieder auf sich selber zurück. Die ist sie nämlich nie losgeworden: « «Ich werde nie zu den Leuten gehören, die das Leben mit blauem Himmel, einer vielversprechenden Zukunft und Eiscrème verbinden».

Und was ist mit Schokolade? Was ist mit ihrem Vater, der als über 80-Jähriger von Melbourne nach New York zog und voller Enthusiasmus ein komplett neues Leben begann? Lily Brett seufzt und lacht zum ersten Mal richtig: «Ich wette, dass ich noch mit neunzig nein zu Schokolade sagen werde».

 

 

Lily Brett
Lola Bensky
Roman.
Aus dem Englischen von Brigitte Heinrich.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2012. 304 Seiten.
CHF 28.50 Franken.19.95 Euro.

 

 

Lily Brett wurde 1946 in Deutschland geboren und wuchs in Melbourne auf. Sie hat drei erwachsene Kinder und lebt seit 1989 mit ihrem Mann in New York. «Einfach so» wurde 1994 (deutsch 1998) zum Bestseller. «Lola Bensky» ist Lily Bretts fünfter Roman und handelt vom tragikomischen Werdegang einer jungen australischen Rockjournalistin in den 1960er Jahren.

Lola ist die Tochter von Holocaust-Überlebenden und erfährt ihre eigene Existenz als Balanceakt zwischen dem Abgrund einer Vergangenheit, an der sie nicht Teil gehabt hat, und einer Gegenwart, die hauptsächlich von einer Reihe erfolgloser Diäten beherrscht wird. Schuldgefühle und Schlamassel wechseln sich ab mit überraschenden Schnappschüssen von Musikgrössen von Jimi Hendrix bis Mick Jagger. «Rocky Road» bedeutet steinige Strasse. «Rocky Road» heisst auch eine Sorte von Schokoladeeis mit Nüssen und Marshmallows. Dieser Roman hält beides bereit.

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