FRONTPAGE

«Sprechendes Wasser, Kataru mizu»

 

 

Renshi, Kettengedicht von Jürg Halter und Tanikawa Shuntarô

1) 120.000 Meter von der Erde entfernt / zieht ein hölzerner Tisch seine Runden /
an diesem sitzen wir und stellen uns vor, / wie du am Fenster lehnend Sterne zählst
Jürg


2) Im Haiku hörte ich: Plumps! Wenn der Frosch in den Teich springt / doch ahnungslos hatte ich schon als Schüler die Reise zur neuen Dichtung angetreten  Shuntarô

 

3) Aus dem brabbelnden Abfluss zog ich den Stöpsel, / lange würde es mich nicht mehr halten / in der hohlen Hand des grossen Meisters  Jürg

 

4) «Lackschale – ein Schiffchen Essstäbchen – das Ruder» / Als Däumling paddle ich gleich mal hinaus auf die Gosse / vorübergleitende Mondsplitter erloschene Planeten Trabanten / weggeschmissene Mickey Mouse und ein Mao-Porträt / was stellt sich wohl unterwegs noch alles in die Quere? da bin ich gespannt!  Shuntarô

 

5) Ich – die Gosse, ich – ein herunter gekommener Himmel / trage einen verblüfften Däumling auf meinen Wellen / verkehrte Welt, wann fall ich aus dieser Vertiefung / zurück in den Raum? Ich kann es mir nicht aussuchen  Jürg

 

6) Auf dem mäandernden Bächlein lassen sie Sake-Schalen treiben / die adligen Herrschaften und wetteifern im Gedichteschreiben / wenn die Schnelligkeit des Dichtens die des Wassers übertrifft / lösen sich wohl die Wörter aus der ErdenSchwerkraft!  Shuntarô

 

7) Die adligen Herrschaften: sie stehen an einem Stausee, / legen die Angelruten nieder, packen ihre Sandwichs aus, / einer von ihnen sagt: Die wollen heute wohl nicht anbeissen, / machen wir eine Pause – die Wörter kommen gut ohne uns aus  Jürg

 

Renshi-Lesung japanisch-deutsch im Landhaus, Solothurn, Säulenhalle, Sonntag, 20 Mai 2012, 10.00 – 11.30 Uhr. Moderation: Eduard Klopfenstein

 

Jürg Halter, geboren 1980, lebt in Bern
Tanikawa Shuntarô, geboren 1931, lebt in Tokyo
Niimoto Fuminari, Germanist, Übersetzer, geboren 1964, lebt in Tokyo
Eduard Klopfenstein, Janpanologe, Übersetzer, Herausgeber Japan-Edition, geboren 1938, lebt in Langnau a.A.

 

 

Die 34. Solothurner Literaturtage finden 18. – 20. Mai 2012 statt. Programm: www.literatur.ch

 


 

Jürg Halter

Aus: «Ich habe die Welt berührt»,
Ammann Verlag Zürich 2005

 

Ich bin ein schwarzer, in die Mitte des Denkens
Fliehender Punkt

Ich bin ein schwarzer, in die Mitte des Denkens fliehender
Punkt
und bestehe in der Vernunft der Buntheit der Welt der
Ich nicht entkomm

Ich bin gestossen aus der trockenen, kalten Erde
geboren unter einem dunkeln, hinfälligen Stern
ich wurde aus der finster leuchtenden Erde gehoben

Ich sitze gebeugt auf einem Stein im Feld
das Zirpen der Grillen:
Aphorismen über den Tod, doch –

Breite ich die Arme aus, sehe ich hoch zur Sonne als ihr
traurigster Strahlenempfänger
ist meine Anwesenheit auf der Erde das letzte Streichholz
im Mundwinkel
meines Feindes, der Handlung
in meinem Kopf: auf einer Kreuzung hält sich
ein müder Flaneur die Hände vors verbrannte Gesicht und –

Meine Beine knicken ein, es flieht die Erde an die Kniee

Was ist mein Status? – Ich bin betrübt
und finde keine Lücke.
Ich lerne zu sterben, ohne aufzugeben
ohne an mir zu verarmen, ohne einen Schritt zu vollziehen
ohne zu streben
übe ich mich, verteidige und verrate ich mich

Dem hellen folgt der dunkle Augenblick
Senkt sich das Lid
setzt sich hinter dem Auge die Geschäftigkeit fort

Dort, angesichts der Unendlichkeit bin ich
ein in den Weltraum gespuckter Kirschstein, der fragt:
«Was ist ein Lichtjahr?»

– mein Flug dauert keine drei Meter –
welches wäre die notwendige Tat?

Ich halte und lehne mich
im schweren Sessel zurück

Ich bin der, der fragt: «Und wenn ich nun melancholisch
gern mich fühlte?»

So hält sich eine leichte Melancholie
für die Dauer eines Barbesuches in meiner Brust auf.
Meine Gedanken sind ein Spaziergang durch die beiläufigen
Städtefotografien an der Wand und –

Du fragst nach dem Bestand? – Ich sage, es nimmt mein Toten-
Kopf nach der Apokalypse den unversehrten Spiegel in die
Hand und fragt: «Bin ich das Paradies oder die Hölle oder doch
nur der eine ungläubige Schädel in der Stätte der mensch-
lichen Geschichte? Könnte es sein? Ich, der letzte Schädel?»

Du fragst nach deinem Platz? – Du verkündest, du seist eine
Impfung
die nach ihrem Verstand fragt
der Glaube sei ein Schloss, gebaut aus Luft, die du nicht in
deinen Lungen führst
und du sprichst gewiss, doch unvernünftig an mir vorbei
du liegst, du schläfst, ich sehe dir zu
du sagst, der Wille sei ein unruhiges Pferd, die Zunge ein
in Fäulnis übergehendes Lorbeerblatt

Du sitzt auf dem Bettrand
schluckst Wasser
gehst durch die Türe, steigst die Treppe empor
du stehst auf dem Dach, ich sehe du
nimmst auf einem Stuhl Platz
du stützt deinen Kopf, deinen Blick –

 

Zwischen Himmel und Erde – es passiert nichts
du hast hellwache Augen – ich kenne dunkle Tricks

 

 

Am 23. April 2012 erscheint das neue Buch „Sprechendes Wasser“ (Secession Verlag für Literatur) von Jürg Halter, das er gemeinsam mit dem japanischen Dichter Shuntaro Tanikawa geschrieben hat. Im Mai werden die beiden in Deutschland und in der Schweiz gemeinsam auf Lesetournee gehen. Alle Termine hier: www.juerghalter.com/auftritte/
Jürg Halter ist auch Kutti MC: Das neue und mittlerweile vierte Album von Kutti MC heisst «Freischwimmer» und ist 2011 bei Universal Music erschienen. Komponiert und geschrieben hat Kutti MC «Freischwimmer» zusammen mit Stephan Eicher. Alles dazu: www.kuttimc.ch

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