FRONTPAGE

«Tamara Štajner: Schlupflöcher. Melodisches Gedicht-Debüt»

Von Ingrid Isermann

 

Der Debüt-Gedichtband Tamara Štajners ist ein virtuoser Auftakt der Autorin und Violistin. Ihre poetischen Texte unterlegt sie mit musikalischen Vortragsanweisungen mit Zugang zu Video- und Audio-Versionen.

Auf der Ausklappseite des ungewöhnlichen Gedichtbandes zeigen QR-Codes den Zugang zu Štajners Video- und Audio-Versionen der Texte an.
 
Die Thematik der Gedichte bezieht sich vielfältig auf Štajners slowenische Herkunft. Krško ist beispielsweise ihr in Südostslowenien liegender ursprünglicher Heimatort. Gedichte über der Sava, Green louie, von Infusionsbäumen und von Wachträumen greifen die Corona-Erkrankung ihrer Eltern in der Infektionsklinik von Ljubljana auf.
 
Küstenkind beleuchtet Augenblicke aus dem Leben ihres Grossvaters, der auf der Insel Lošinj eine Ferienanlage gründete, nachdem er sieben Jahre lang auf der nahegelegenen Insel Goli Otok ein politischer Gefangener war, weil er in den Reihen der slowenischen Partisanen gekämpft hatte.

 

Auch Szenen aus ihrem professionellen Wiener Künstlerinnenlebens mit ästhetischen, sinnlichen wie existenziellen Verflechtungen kommen in den Gedichten Tamara Štajners zur Sprache. Im Geschwindigkeitsrausch erhaschte Zeilen, die vorauseilende Emotionen überholen.

 

Tamara Štajner, 1987 in Novo mesto, Slowenien, geboren, ist klassische Violistin, Autorin und Performerin. Sie schloss ihr Master-Studium im Konzertfach Viola an der Wiener Musikuniversität ab. Derzeit promoviert sie im Fach Musiktheorie an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz. 2020 wurde sie als Mitglied der Jungen Akademie in die Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz aufgenommen. Schlupflöcher ist ihr erster Gedichtband.

Foto © Andrej Grilc

 

 

visions of reality
 
i
hören: you know when
yoko + john met they
took it slow know
the story + wieder
hören: ‘cause they
knew it was the big
one + sehen: zigarette im
mundwinkel brennt links beide
hände am volant marineblau ford
mustang convertible alle
scheiben unten ganz wien im
vorfrühling durch aussenbezirke
rasen + hören: well that’s how i
feel about us + hören: listen to yoko
+ hören: people say vorfreude ist die
grösste freude + hören: well I say bull-
shit freude ist die grösste freude
zum arsenal weiter kaisermühlen von
freiheit + abenteuer + marlboro
man erzählen lachen verliebt
schwören + später aus dem
staub machen verschwinden
wochen später lesen: you ok
herzklappen aufatmen nicht
wollen aber

 

 

ii
zu dritt zu zweit im hochhaus
meet my marilyn hören
+ denken: malteser
cocker spaniel chihuahua so wegen
namen: marilyn + sehen: kolossales
fellgeschöpf agile pfoten ungeheuer am
balkon + denken: ein pferd vorstellen
auf der donauinsel galoppieren
also marilyn: landseerhündin + hören:
well you two get along
verstohlenes nicken

 

 

 

Tamara Štajner
Schlupflöcher
Gedichte
Wunderhorn, Heidelberg 2022
Geb., 70 S., CHF 34.90
ISBN 978-3-88423-672-7

 

 

 

«Simone Lappert: längst fällige verwilderung»

 

Am Feldrand flaumt der Mais, die Zeit ist reifer als Juliaprikosen, das Graulicht über der Donau, es ist kein Problem, es ist eine Präsenz.

 

Eine genaue Beobachtungsgabe zeichnet die Gedichte von Simone Lappert aus. Es lückt und lückt überall, auf der Casinobaustelle stehen die Bagger still. Fragmente, die still und schräg im Alltag stehen.

 

Gedichte über die fragile Gegenwart, Aufbruch, Sehnsüchte und existenziellen Fragen, deren Antworten in wilde Horizonte führen und die Natur als Spiegelbild erkennen lassen.
 
 
lieblingsmensch
ich stürze mich in deinen brombeerblick,
will wurzeln schlagen hinter deinen ohren,
wo du nach katze riechst und sommerfell,
ich will moosraufen und mohnwälzen mit dir
und ohne adresse hausen am hang.
ich will deine schatten streicheln,
in deinen dunklen ecken singen,
ich will dir sämtliche monde kaufen,
eine veranda und einen schaukelstuhl,
ich will dich einatmen und aussprechen,
mich rau reden an dir.

 

 

Widerspruch

schief steh ich
zwischen den zankenden möwen,
beneide sie um ihre windefestigkeit
und ihre warmen bäuche.
sie picken mein hart gewordenes brot.
trauere nicht, sagen die möwen,
es warten noch weichere tage.
die flauschigen! sie wissen nicht,
dass mit der zeit nicht nur brote
nach innen verhärten.

 

 

Simone Lappert, geboren 1985 in Aarau, studierte am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel. Mit ihrem Debütroman «Wufschatten» stand sie auf der Shortlist des aspekte-Preises, ihr Roman «Sprung» war für den Schweizer Buchpreis nominiert. Für ihre Lyrik wurde sie mit dem Heinz-Weder-Preis ausgezeichnet. Sie lebt in Zürich.

 

 

 

Simone Lappert
längst fällige verwilderung

Gedichte und Gespinste
Diogenes, Zürich 2022
Hardcover Leinen
80 S., CHF 27.
ISBN 978-3-257-07189-4

NACH OBEN

Lyrik