FRONTPAGE

«Tollkühne Weltstürmerin»

Von Daniele Muscionico

Annemarie Schwarzenbach enttäuschte sie, auf Expeditionen spielte sie mit ihrem Leben: Die Nomadin und Spitzensportlerin Ella Maillart (1903–1997) jagte durch verbotene Gebiete Asiens und fand am Ende, was sie suchte, in einem Bergdorf im Wallis. Arifé Aksoy (Illustration)

 

Jetzt gehört es ihnen, dieses Land mit den riesigen Bergen, seinen Ruinen, so alt wie die Welt! Niemand mehr hält sie davon ab, das Gebiet der Afghanen zu durchqueren. Eisige Flüsse, tiefer Frieden, famose Abgeschiedenheit – und was für ein prächtiges Volk! Toll vor Freude rumpeln die beiden Frauen in Annemaries Ford Roadster durch die Wüste, stossen ein Triumphgeheul aus, beglückwünschen sich, lachen wie Verrückte. Ist das Leben nicht schön?

Es ist Juli 1939, Ella Maillart und Annemarie Schwarzenbach haben ihr Ziel erreicht. Nach einer Autoreise durch den Balkan, die Türkei sind sie in Afghanistan angekommen. Ethnologische Forschungen über das nomadische Leben hat Ella sich vorgenommen, in Nuristan, einer abgelegenen, kulturell einzigartigen Region. Im Gepäck ist ihr Fotoapparat sowie eine Kamera für Schwarzweiss- und eine für Farbaufnahmen; sie will Artikel für Zeitungen und Zeitschriften verfassen, sie soll Filme drehen, sie muss ihren Lebensunterhalt verdienen – und Annemarie? Unter der Obhut der älteren Freundin will jene sich von ihrer Morphiumsucht befreien.

Annemaries Hoffnung ruht auf Ella, Tochter eines begüterten Genfer Pelzhändlers, Ella – die Wilde, Unabhängige, die Sportliche und Disziplinierte auch. Mit sechzehnJahren gründete sie einen Landhockeyklub, den ersten Frauenklub der Westschweiz. Segeln ist ihre Leidenschaft, ein Jahr vor der Matura bricht sie die Schule ab, sie will mehr Zeit für ihr Training haben. Nur hart erkämpfte Siege gelten:
als Seglerin im Schweizer Olympiateam 1924, als Mitbe-gründerin des Schweizer Damenskiklubs, als Mitglied der Schweizer Nationalmannschaft an mehreren Skiweltmeister-schaften.
Sie erfindet sich immer neu in verschiedenen Berufen, als Sekretärin, Künstlermodell oder Stuntfrau für die Berliner Ufa: In Bergfilmen riskiert sie ihr Leben, seilt sich von Felswänden ab, flüchtet über Gletscherspalten…
Wie kann Annemarie Schwarzenbach von dieser Frau nicht gefesselt sein?

Reisen heisst für Ella die Welt erobern, ihr Erbe in Besitz nehmen. Seit Veröffentlichung ihres Berichts aus der Sowjetunion 1932 ist sie als Reiseschriftstellerin bekannt. Für die französische Zeitung Le Petit Parisien reist sie 1934 über die von Japan besetzte Mandschurei nach China. Dort trifft sie den Korrespondenten der Times, Peter Fleming, und mit diesem beschliesst sie das Ungeheuerliche: Von Peking aus will sie Indien erreichen! Ella kennt das Karawanenleben, sie hat es bereits im sowjetischen Turkestan erprobt. Doch diese «verbotene Reise» ist nochwaghalsiger als jene. In einzelnen, gesperrten Gebieten herrschen Unruhen, Generäle bekämpfen Warlords, Warlords bekämpfen Räuberbanden.
Nichts wird gesichert sein unterwegs, das Leben der Abenteurer in der Hand des Schicksals liegen, und dieses ist so wechselhaft, dass die kurzlebigen Republiken der Gegend ihre Währung auf Maulbeerrinde drucken.
Dennoch will Ella das Halsbrecherische wagen: von der chinesischen Küste zum mongolischen Indien, sechstausend beschwerliche Kilometer auf Pferden, Kamelen und zu Fuss, durch Salzwüsten, Sandwüsten, Sumpfplateaus über die Gebirgsketten des Pamir und des Karakorum. Sieben Monate wird die Expedition dauern. «Eine Reise, in der nichts passiert, doch dieses Nichts wird mich ein Leben lang erfüllen», sagt sie danach.
Fern vom «tobenden, fiebernden Europa».

Vier Jahre später, 1939, heisst Ellas Reisebegleitung also Annemarie Schwarzenbach. Eine «Reifeprüfung» hat sich die Jüngere vorgenommen, Nächte im Schlafsack auf blosser Erde, unterwegs in einer Welt aus Steinen, Staub und Hitze. Afghanistan soll sie ermutigen, von den Drogen zu lassen, ein stolzes Land, das noch nie unterjocht wurde, eine Schweiz Asiens, ein Pufferstaat ohne Kolonien und ohne Zugang zum Meer, hohe Berge, die fünf Rassen schützen, «einfache Bergmenschen und wohlerzogene Städter», malt Ella der Freundin aus.
Doch die Zeichen für ein glückvolles Unternehmen stehen schlecht. Europa lebt in Vorahnung des Kriegs, die beiden Reisenden erfahren unterwegs nur Vages. Als erste Frauen befahren sie im August 1939 von Herat aus die Nordroute nach Masare Scherif und erreichen nach etwas mehr als drei Wochen über den Hindukusch Kabul.Und das Unfassbare geschieht: Bei ihrerAnkunft bricht der Zweite Weltkrieg aus. Annemarie flüchtet sich wieder in Drogen, für Ella ein Vertrauensbruch, die «Reifeprüfung» ist gescheitert, die Wege der Freundinnen trennen sich.
Auch die finanzielle Ausbeute der Afghanistan-Reise wird für Maillart zur Enttäuschung. Nur wenige ihrer Artikel werden gedruckt, die politischen Umstände verlangen nach anderen Themen. Immerhin: In der Grenzregion von Afghanistan dreht sie die letzten Szenen ihres Films, der mit ihrem Kommentar unter dem Titel «Nomads of the Frontier» am  17. September 1940 in Bombay uraufgeführt wird. Die Reiseschriftstellerin und Reisefotografin avanciert mit dieser und weiteren Produktionen zur Filmpionierin.

Das Afghanistan-Erlebnis mit Annemarie hat auch innere Konsequenzen: Ella bleibt in Indien, dann geht sie nach Tibet, sie sucht Einkehr, will die gescheiterte Reise in einem Buch aufarbeiten. Annemaries Mutter, die Tochter des Generals Wille, wird später auf Streichung sämtlicher kritischer Passagen bestehen. In Indien entdeckt Ella das meditative Leben.
Reisen wozu? Was wäre reisend zu finden, was zu verlieren? Sie besinnt sich, dass sie fern vom «tobenden, fiebernden Europa» unterwegs sein wollte, um ihr Innerstes zu erforschen.
War ihre Suche «nach einem im paradiesischen Urzustand lebenden Gebirgsstamm» nur ein Vorwand, um der Ratlosigkeit zu entrinnen, die sie in ihrer Heimat ergriffen hat?
Sie will Ruhe finden und Frieden. «Weite muss in uns sein, sie kann nur in uns  sein, denn sonst würde es sich nur um ein geographisches Mass handeln.»

Am 7. Mai 1945 kapituliert Deutschland, der Krieg ist zu Ende, wenige Tage später ist sie in Genf. Nach fast dreissig Jahren im Ausland ist sie in die Schweiz zurückgekehrt. Ihre Bücher, Reportagen, Diavorträge sind inzwischen so einträglich, dass sie sich davon ein kleines Chalet bauen lassen kann – im menschenscheuen, weltentlegenen Walliser Bergdorf Chandolin. Verwitterte Holzhäuser, Arven, Lärchen, eine wild-erhabene Landschaft auf zweitausend Höhenmetern, ist es die Erinnerung an Tibet, die sie Wurzeln schlagen lässt zum ersten Mal?
«Atchala» tauft sie ihre Behausung, nach einem heiligen Berg in Südindien, in ihrem Garten pflanzt sie den blauen Mohn Tibets. Vom ersten bis zum letzten Schnee wohnt sie hier, die andere Jahreshälfte ist sie unterwegs, organisiert Kulturreisen, führt auch Reisegruppen, am liebsten nach Asien. Ihre Reiseberichte werden in mehrere Sprachen übersetzt und gelten als Klassiker des Genres.
Die Sprache des Herzens ist auf allen Breitengraden dieselbe, stellt sie in Chandolin fest, und die Bewohner nehmen sie als eine der ihren auf. Ella Maillart stirbt im Alter von  94 Jahren. Noch einen Tag vor ihrem Tod sitzt sie an ihrem Lieblingsplatz unter dem weiten Walliser Himmel, beim Wegkreuz auf dem «Calvaire». Ihr Leben war ein Fest des Aufbruchs.
Jetzt hört sie, was sie suchte, hier ganz klar – die Stille.

 

Ella Maillart (20. 2. 1903 bis 27. 3. 1997)
war Olympia-Seglerin, Stuntfrau, Reiseschriftstellerin und Fotografin. Sie bereiste 1932 Russisch-Turkmenistan, fuhr 1935 von Peking nach Kaschmir durch verbotene Gebiete Zentralasiens und 1939 mit Annemarie Schwarzenbach von der Türkei nach Indien, wo sie bis 1945 blieb. Später lebte sie im Wallis auf 2000 m ü. M.; ihre Bücher «Verbotene Reise» und «Turkestan solo» sind Klassiker der Reiseliteratur.

 

© Erstveröffentlichung Weltwoche Nr. 12.11 55.
Bild: Photopress Archiv (Keystone).
Die Porträtserie ‚Grosse Schweizer Frauen, die Geschichte schrieben’ von Daniele Muscionico, wird im August 2011 im Limmat-Verlag Zürich veröffentlicht.

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