FRONTPAGE

«Unterm Strich zähl ich»

Von Thomas Assheuer

Links? Rechts? Frank Schirrmacher legt eine bemerkenswerte Kampfschrift gegen den Kapitalismus vor.

Als kürzlich das Gerücht die Runde machte, die konservative FAZ würde die pleitegegangene linke Frankfurter Rundschau übernehmen, zuckten ein paar Hartgesottene nur mit den Schultern. Frank Schirrmacher, einer der Herausgeber der FAZ, sei inzwischen so links und sein Feuilleton so kapitalismuskritisch – das falle gar nicht weiter auf. Auch wenn künftig FAZ draufstehe, sei immer noch FR drin.
Ganz falsch ist das nicht. In seinen publizistischen Anfängen hatte Schirrmacher in seinem Feuilleton oft genug vor linken Quälgeistern gewarnt, vor vaterlandslosen Gesellen, Frankfurter Schülern und all den Schreckgespenstern, die systemkritisch in der Diskurslandschaft herumstanden. Dann plagten ihn plötzlich andere Sorgen. Schirrmacher schrieb ein Buch über das alternde Deutschland (Das Methusalem-Komplott), inzwischen verfasst er alarmistische Texte über die Pest der modernen Welt, den Finanzkapitalismus. Aufhorchen liess zuletzt sein Eingeständnis: «Ein Jahrzehnt enthemmter Finanzmarktökonomie entpuppt sich als das erfolgreichste Resozialisierungsprogramm linker Gesellschaftskritik». Mit nur einem Satz zerschnitt Schirrmacher das goldene Band zwischen Konservativen und Neoliberalen, nachdem es die Anhänger von Maß und Mitte verblüffend lange mit den Predigern von Enthemmung und Exzess ausgehalten hatten.
Der Finanzmarktkollaps hat Schirrmacher nicht ruhen lassen, er hat seine Artikel noch einmal hervorgeholt und mit viel Schwung in ein Buch gegossen, von dem Fachleute vermutlich behaupten, darin stünde nichts, was sie nicht längst schon wüssten. Aber die Sache ist packend geschrieben, ohnehin ist der Autor ein rhetorischer Kosmiker, für den eine Formulierung gar nicht hoch genug greifen kann. Mit Riesenschritten rennt Schirrmacher in seinen handgenähten Epochenstiefeln durch die Weltgeschichte, wobei man als Leser zuweilen um all die Tatsachen fürchtet, die sich ihm empirisch in den Weg stellen. Diesmal beteiligt er sich an dem Fragespiel, das die Intellektuellen derzeit in Atem hält: Was treibt unser Zeitalter an, was ist sein «Wesen»? Ist es die Beschleunigung von allem und jedem? Oder das Kapital? Oder die Globalisierung der Demokratie?
Schirrmachers Antwort ist, moderat formuliert, eindrucksvoll. Für ihn sind wir Zeugen davon, wie gerade ein neuer Mensch programmiert wird, eine neue Gesellschaft oder, um für Soziologen verständlich zu bleiben: eine neue Kodierung des Sozialen. Alles, in dem ein Funke menschlichen Lebens steckt, wird auf Marktförmigkeit umgestellt – die Herrschaft des «Informationskapitalismus» legt ein Raster über die Welt, dem niemand entkommt. In diesem Raster gibt es nur eine Vernunft, nämlich den Eigennutz, und es existiert nur ein Sozialcharakter, der rationale Egoist. In der neuen Welt des Informationskapitalismus ist alles ein Investment, und alles, von den Träumereien eines einsamen Spaziergängers bis zum Kinderkriegen, muss sich rechnen, alles Tun und Trachten folgt der Ökonomie des selbstsüchtigen Herzens. Und wer bei der Totalbewirtschaftung des Lebens nicht mitspielt, landet in der Gosse.
Lesern von Wirtschaftsteilen in Zeitungen kennen diesen Typus als Homo oeconomicus, als eine Kopfgeburt aus den Ideenlabors von Wissenschaftlern. Gegen diesen blutleeren Modellmenschen, für den das Leben eine einzige Gewinn- und Verlustrechnung ist, war bislang wenig zu sagen. Es war ja nur ein stubenbleiches Artefakt zur Berechnung von Marktverhalten, ein mathematischer Schatten aus den Denkerstuben der Ökonomen.

Damit ist es vorbei. Im Informationskapitalismus, schreibt Schirrmacher in seinem Buch Ego: Das Spiel des Lebens, gilt das nicht mehr. Der Homo oeconomicus hat das Labor verlassen und ersetzt den naturbelassenen Altmenschen auch in der Wirklichkeit. Der normale Bürger denkt, fühlt und handelt genau so, wie es sich die Wissenschaftler für ihn ausgedacht haben, er verwandelt sich in ein Rechenmodell und verschmilzt mit seinem theoretischen Schatten. Das wahrhaft «Menschliche» ist jetzt das Ökonomische («Unterm Strich zähl ich»), oder etwas eleganter mit Michel Foucault gesagt: Der (alte) Mensch «verschwindet wie ein Gesicht im Sand », er verwandelt sich in den rationalen Spieler. Er lächelt, um zu gewinnen, er kooperiert, um den anderen auszutricksen, er ist ehrlich, um zu betrügen. Wenn er spricht, weiß niemand, ob er blufft oder die Wahrheit sagt. Schön ist das Leben in der Gesellschaft der ökonomischen Menschen nicht, denn das Leben ist Krieg, und Krieg ist Leben. Like it!
Schirrmachers Buch lebt von seinen Übertreibungen und schrillen Zuspitzungen, es ist auch kein Tatsachenbericht, sondern eine Trendbeschreibung. Für seine Ausgangsthese zitiert der Autor zentnerweise Literatur, und diese These wäre auch dann noch originell, wenn sie bei näherer Überprüfung zusammenbräche wie das Kartenhaus der Lehman Brothers. Die These, die durchaus an eine Agentenfantasie erinnert, geht so: Der Kalte Krieg wurde von den Amerikanern (auch) mithilfe der Spieltheorie gewonnen, also einer Theorie, die mit komplizierten Formeln zeigt, mit welchen Schachzügen man den Gegner niederringt in der Gewissheit, dass dieser genau dasselbe vorhat. Doch dann war der Kalte Krieg plötzlich zu Ende, und die Spieltheoretiker wurden arbeitslos. Wo landeten sie? Genau: in der Wall Street.

Das ist für Schirrmacher der entscheidende Augenblick. Denn nun wurde die Finanzindustrie spieltheoretisch aufgerüstet für den Kampf gegen Wettbewerber oder, eine Nummer größer, für den Kampf gegen Staatshaushalte. Bis 1989, so geht die Pointe, war der Kalte Krieg «draussen», aber als die Spieltheoretiker überall an Boden gewannen und den Typus des rationalen Egoisten durchsetzten, verwandelten sie die Gesellschaft in ein Kriegsgebiet. Neoliberale Ökonomen, Computerfreaks, Informationstheoretiker, die ganze digitale Elite von Silicon Valley, sogar ein Soziobiologe wie Richard Dawkins (Das egoistische Gen) – alle waren heimliche Spieltheoretiker und träumten in ihrer Weltbildfabrik vom Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Ineffizienz, kurz: vom Informationskapitalismus. Für Schirrmacher ist das – nach Faschismus und Kommunismus – schon wieder ein soziales Großexperiment am lebenden Menschen, und zwar mit dem Ziel, jede individuelle Regung durch eine «soziale Physik» zu berechnen und zu kontrollieren.

Unterdes hat sich der Informationskapitalismus durchgesetzt, er ist der Fürst dieser Welt und hält die Demokratien fest im Griff. Wenn Angela Merkel, wie Schirrmacher entgeistert bemerkt, die «marktkonforme Demokratie» lobt, dann hat sie bereits kapituliert. «Bürger und Staat haben keine Souveränität, sondern ›spielen‹ sie nur. Darum werden Parlamente zu Staffagen und Öffentlichkeiten zu Echoräumen, die man anspricht, um Märkte zu beeinflussen». ‚Der Staat spielt’ gegen den Markt, und die Öffentlichkeit ist die Bühne, auf der er seine Spielzüge publik macht. «Regierungen reden nur noch taktisch mit ihrer eigenen Öffentlichkeit, sie übergehen Parlamente und Gesetze, sie müssen falsche Fährten legen und widersprüchliche Erwartungen hegen, Regulierungen ankündigen, durchsetzen, verwerfen – alles nur, um im Rüstungswettlauf mit den Märkten den Gegenspieler zu verwirren».
Zugegeben: In diesen Beschreibungen steckt ein missverständlicher, sehr deutsch klingender Unterton: Alles Übel kommt aus dem Westen, es kommt aus England und Amerika, Wall Street und Silicon Valley haben sich gegen Europa verschworen, sie rupfen die blaue Blume der deutschen Romantik von den blühenden Wiesen der Kultur, sie zerstören den Sozialstaat und das Politische gleich mit. Anderseits macht Schirrmacher dem Leser klar, dass Europa seit zweihundert Jahren vom Maschinenwesen fasziniert ist und sich bis auf wenige Ausnahmen in die Automatenmenschen hineingeträumt hat, in den kalt kalkulierenden Spieler, den rationalen Egoisten.
Dieser Traum von der menschlichen Maschine geht nun in Erfüllung, aber für Schirrmacher ist es ein Albtraum, eine große Säuberung und vielleicht auch der Untergang des Abendlandes. Der Informationskapitalismus installiert nämlich nicht nur den Kalten Krieg im Sozialen; er bereinigt das alte Menschenbild und macht es semantisch nackt. Wörter sind nur noch Information, und Information ist Geld, und Geld ist das Mass der Vernunft. Seele, Moral, Liebe, Leidenschaft, Gott – die Pathosformeln einer abgelaufenen Epoche werden nun liquide, und was früher ganze Bibliotheken über die Wahrheit des Menschenwesens gefüllt hat, das passt heute auf einen Bierdeckel: «Der Mensch ist ein Ökonom», er ist Kalkül, ein Vorteilnehmer und Selbstvermarkter.
Wer es unbedingt im Links-rechts-Schema sagen will: Jetzt bekommt es das konservative Bürgertum mit sich selbst zu tun. Schirrmacher versucht, die bürgerlich-konservative Intelligenz auf die Höhe der Zeit zu bringen, all jene Denker, die schöne, kostbare Jahre mit Gezeter («Kapitalismus oder Barbarei») vergeudet haben, mit Spiegelfechtereien gegen Gutmenschen und Moralapostel.
(Courtesy Copyright DIE ZEIT, 14.2.2013, Nr. 8).

 

 

Frank Schirrmacher
Ego: Das Spiel des Lebens
Blessing Verlag, München 2013
352 S.,
CHF 29.90. 19.99 EUR. E-Book 15,99 €;

 

 

 

 

 

 

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