FRONTPAGE

«Vom Urknall des Lebens»

Von Urs Widmer

 

Als grossen «magischen Realisten» bezeichnete ihn «Die Welt», den Schweizer Autoren Urs Widmer, geboren 1938 in Basel. Nun hat er ein selbstreflexives Werk verfasst, das sich mit den ersten dreissig Jahren seines Lebens befasst. Darin soll es vor allem um eins gehen: «the truth, the truth, the truth and nothing but the truth»… Wie es damit steht, schildert er untenstehend in seinem Essay über die Leiden und Freuden beim Schreiben der «Reise an den Rand des Universums», erschienen im Diogenes Verlag Zürich, 2013.

 

 

«Bevor ich mit dem Schreiben einer Autobiografie begann, war für mich das Auffälligste und auch Beklemmendste, dass ich gar keine andere Wahl zu haben schien. Es gab kein anderes Buch in mir. Ich hatte in den letzten Jahrzehnten beim Schreiben meiner Bücher (die doch so sehr der sogenannten Phantasie verpflichtet zu sein scheinen und doch aus viel mehr autobiografischem Material gespeist werden, als man ihnen ansieht) so radikal alle Stollen meiner Erinnerung ausgeräumt (und mal so, mal anders metaphorisiert), dass mir nur noch eine Möglichkeit übrig zu bleiben schien: The truth, the truth, the truth and nothing but the truth.

 

Lebensgerümpel
Das heisst, ich fühle mich gezwungen und war sehr weit von einem freien Entschluss entfernt, nur und ausschliesslich mit dem zu arbeiten was ich wirklich gelebt hatte oder – in aller Aufrichtigkeit – gelebt zu haben glaubte, und für einmal auf alle darüber hinausgehenden Kapriolen meiner Einbildungskraft zu verzichten. Ein solches Buch schien mir allerdings zu bedeuten: Es ist ein letztes Buch. Der Abschluss einer langen Schreibreise. Denn was soll hinter dem Autobiografischen noch verborgen sein? – Ich bin mir heute, da das Buch fertig ist, nicht mehr so sicher. Gottseidank. Vielleicht habe ich ja auch das letzte Lebensgerümpel weggeräumt und kann nun unbeschwert in eine für mich völlig neue Landschaft hineinwandern.

 

Kaum hatte ich mit dem Schreiben begonnen – irgendwann im vorletzten Jahr -, merkte ich, dass der Unterschied zum Schreiben eines «normalen» Romans auch nicht so gross war. Obwohl ich mir die allergrösste Mühe gab, diesmal strikte beim tatsächlich Erinnerten zu bleiben – richtige Namen, richtige Daten -, war mir auf Anhieb klar, dass ich doch erfand. Es ging einfach nicht anders. Unser Gehirn, meines jedenfalls gewiss, ist ununterbrochen damit beschäftigt, Erinnerungslöcher zu stopfen bzw. die einzelnen Erinnerungstrümmer in eine scheinbar stimmige Form zu bringen. Was an zwei Tagen mit zwei verschiedenen Mitspielern geschehen ist, mag in der Erinnerung durchaus zu einem Erlebnis verschmelzen, und du glaubst das aufrichtig. Denn so – das ist der Sinn des ganzen Manövers – ist das Erlebte in der veränderten Form besser zu ertragen, als es das in der originalen gewesen wäre.

 

Nietzsche prägte dazu einen Aphorismus: «Das Gedächtnis sagt: So war es. Der Stolz sagt: So kann es nicht gewesen sein. Endlich gibt das Gedächtnis nach». Ich denke allerdings auch, dass die Dichter – einer wie Nietzsche; und auch wir anderen – eine besonders grosse Durchlässigkeit jener Wand haben, die das Unbewusste vom Bewussten trennt und also besser mit dem umgehen können, was diese Wand von uns fernhalten soll: mit den schwarzen Erinnerungen. Den Ängsten. Den Kränkungen. Den schambesetzten Handlungen von einst.

 

Das Schreiben, das sich also auch ans Schmerzhafte wagen musste und dadurch den altverkrusteten Schmerz oft wieder aufweckte, brachte auch unerwartetes Glück: Eine ganze, eigentlich längst abgelebte Zeit erwachte wieder zum Leben. Da waren sie wieder!, zusammen mit mir!, quicklebendig, all die, die inzwischen fast alle im Abgrund der Geschichte verschwunden sind. Das belebte mich ungeheuer – auch ausserhalb des Schreibens -, und ich hoffe, dass etwas von diesem bewegenden Wiederfinden einer verlorenen Zeit auch für die Leserinnen und Leser spürbar ist. Kommt dazu, dass es wohltat, ein gänzlich todfernes Buch zu schreiben. (Ich hatte mich zuvor – am deutlichsten mit «Herr Adamson» – ziemlich heftig mit dem Tod beschäftigt).

 

Wahrscheinlich aber ist alles viel einfacher, und ich gehorche nur einem simplen Menschengesetz: Zu Beginn unseres Lebens träumen wir von der Zukunft, dann leben wir sie, und am Ende, wenn die Zukunft zu Ende gelebt ist, erzählen wir sie uns noch einmal.

Im Übrigen werde ich den Teufel tun, meine weiteren Jahre zu beschreiben versuchen. Ein Grund, der naheliegendste, ist gewiss, dass ich sofort in Teufels Küche käme. Nun wären ja die Protagonisten, alle, fast alle, noch irgendwo zu Gange, Freund und Feind und alle ihre Mischformen, und da eine Autobiografie nur dann Sinn erhält, wenn der Autor «alles» sagt, gäbe es gewiss rechts und links von meinem Schreibweg Verwundete, Gekränkte, Sich-verraten-Fühlende. Ich will aber, zum Beispiel, das Intime intim behalten, das ist ja auch Sinn und Bedeutung des Intimen. Und warum soll ich einem geschätzten Kollegen wehtun, wenn ich erzähle, dass er volltrunken und johlend in die von meiner Frau gekochten Spaghetti gefallen ist?

 

Die nahe Ferne
Vor allem aber merkte ich, dass ich die ersten dreissig Jahre mit (scheinbar) völliger Klarheit und Stringenz in mir gestapelt habe. Mein Leben scheint sich ganz selbstverständlich in Dekaden aufzuteilen: 1938 bis 1948 (Kindheit und die Vertreibung aus dem Paradies), 1948 bis 1958 (die Entdeckung des Triebs), 1958 bis 1968 (ich war nun so etwas wie erwachsen und – ein kleiner Schritt für die Menschheit, ein sehr grosser für mich – schrieb am Ende dieser dritten Dekade mein erstes Buch). Ja, im Grund steuert das ganze Buch auf diesen Urknall zu, kümmert sich aber auf dem Weg dahin nicht sonderlich um das, was später mein Leben so sehr bestimmen wird: das Schreiben. – Meine späteren Jahre von 1968 bis heute sind in mir viel diffuser aufbewahrt. Ich verwechsle ganze Jahrzehnte! Das Gedächtnis ist ein seltsames Ding: Das ganz Ferne steht glasklar da, voll ausgeleuchtet, und das Nahe ist von so viel Nebel umgeben, dass es öfter als oft gänzlich unsichtbar wird».

 

(Erstveröffentlichung in der NZZ, 17. Juli 2013; mit freundlicher Genehmigung des Autors).

 

 

Auszug aus «Reise an den Rand des Universums»

 

«Am nächsten Morgen war der Himmel blau. Eine helle Sonne und eine Luft, die die Lungen liebkoste. Die Berge strahlten, und die Wiesen glänzten. Es war das Licht für die Erwählten. Für uns. In meiner Erinnerung gab und gibt es fortan nur dieses frische Leuchten. In den Nächten so viele Sterne am Himmel, dass es gewiss alle waren. Das gesamte Universum über uns, bis in seine fernsten Tiefen. Die Galaxien überlagerten sich. Ich sah durch die näheren hindurch die Signale der ferneren, hinter der blass eine noch entferntere schimmerte. Dahinter, gerade noch zu sehen, der Schein des Urknalls. Sternschnuppen rasten über den Vordergrund, während wir zur grande curva hinabbummelten, zur grossen Kurve der Passstrasse, die der magische Umkehrort für unsere Spaziergänge war, wenn wir Lust auf die Nacht hatten, auf den Mond, auf die schwarzblauen Silhouetten der Berge. Vorne, zu dritt untergehakt und – wenn wir nicht schnatterten – Addio la caserma oder Quattro cavai che trottano singend…» (1948-1958). Diogenes Verlag Zürich, 2013.

 

Eine Autobiografie, um sich selbst auf die Spur zu kommen  – dass der Blick auf die eigene Geschichte auch einen blinden Fleck enthält, ist nicht zuletzt Urs Widmer selbst klar. Nicht nur ein Schriftsteller ist ein Erfinder der eigenen Wirklichkeit. Die ganz profane Dichtung und Wahrheit liest sich in seinem Buch zauberhaft unterhaltsam, markiert aber auch dunkle Stellen und Geheimniskammern. Wir werden eingehend informiert über seine Entstehungsgeschichte im mystisch-urchigen Lötschental, die ersten Geh- und Seherlebnisse und die Dämonen der Kindheit. Der beschwingte Ton könnte leicht darüber hinwegtäuschen, dass die Grundstimmung des Urs Widmer eher eine melancholische Haltung ist, und er mit einem nicht gerade entrückten oder entzückten, aber doch distanzierten und auch zärtlichen Blick, staunend auf die Wunder des eigenen Lebens schaut, als Kind, als junger Mann, als Student, auf Freunde, Elternhaus, die ersten Lieben, wo es ganz schön zur Sache geht, da lässt es Urs Widmer richtig krachen mit dem Urknall der Sexualität, Studienerfahrungen im Ausland, seine Frau May, der Anfang als Schriftsteller, die Wirrnisse der Zeit, – in sachlichen Geschichtslektionen den jeweiligen Zeitabschnitten beigefügt, wohl auch für jüngere oder jugendliche Leser im In- und Ausland gedacht, die in der Schule oft mehr über die Antike als über die jüngste (Schweizer) Vergangenheit lernen -, denn es ist ja nicht nur eine sentimental journey, und immer wieder die Eltern, die grossen Schatten in seinem Werk, die bereits in «Der Geliebte der Mutter» und «Das Buch des Vaters» thematisiert wurden. Das Schreiben ist wie das Leben gefährlich, unversehens in Abgründe fallen zu können und was gut oder böse ist, kann sich im Laufe der Zeit auch wandeln. Fazit: Das Ende unseres Denkens ist das Ende unseres Universums.             Ingrid Isermann

 

 

 

 

Urs Widmer, geboren am 21. Mai 1938 in Basel. Studium der Germanistik, Romanistik und Geschichte in Basel, Montpellier und Paris. 1966 Promotion über die deutsche Nachkriegsprosa. Lektor im Walter Verlag, Olten, und im Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, wo er siebzehn Jahre lebte. Für sein umfangreiches Werk wurde er u.a. mit dem «Friedrich-Hölderlin-Preis 2007» der Stadt Bad Homburg ausgezeichnet. Er lebt und arbeitet als Schriftsteller in Zürich. Urs Widmer ist verheiratet und hat eine Tochter.

 

Urs Widmer
Reise an den Rand des Universums
Autobiografie
Diogenes-Verlag Zürich 2013
352 S. CHF 32.90

ISBN 978-3-257-06868-9

 

 

 

 

Buchtipps Literatur & Kunst:

 

«immeer» von Henriette Vásárhelyi.

«Konzert der Unerschrockenen» von Bettina Spoerri.

«Ingrid Bergman. A Life in Pictures». Biografie. 

«Henriette Vásárhelyi: immeer»

Der Debütroman von Henriette Vásárhelyi «immeer» beginnt am Meer, endet am und im Meer. Eva erzählt von Jan, ihrem Geliebten, von Heiner und Jan und der Dreier-WG, von Monn, den sie kennenlernt, weil er Jans Handy-Nummer übernommen hat. Und sie erzählt vom Schmerz, als Jan krank war und starb, und wie sie sich verschanzt in der Wohnung, die an früher erinnert. Eva spricht über ihren Verlust mit sich und mit den Fliegen, nicht aber mit den Menschen, die ihr helfen wollen.

 

Ein Drehbuch, ein fast filmisches, surreales Gedächtnis. Das Meer, die Toskana, das Leben, der Tod. Die Erinnerung an Jan in Berlin, eine Geschichte der verschiedenen Ebenen, Bewusstseinsebenen der Protagonistin Eva, die Schnitte sind auch typografisch markiert; schmerzhaft grelle Momentaufnahmen, dann wieder farbige Impressionen vom Meer, erzählt ohne Sentimentalität, lapidar entfaltet sich die Katastrophe vom Sterben des Freundes, dem Ohnmächtigsein, in der sprachlos glasklaren Sprache, eine unendliche Geschichte von Tragik, Glück und Unglück.

Ingrid Isermann

 

«immeer »wurde 2012 mit dem Studer/Ganz-Preis für das beste unveröffentlichte Prosadebüt ausgezeichnet. Der Roman steht auf der Shortlist für den Schweizer Buchpreis, der am 7. Oktober 2013 verliehen wird.

 

Henriette Vásárhelyi, geboren 1977 in Ostberlin und aufgewachsen in Mecklenburg, ist ausgebildete IT-Systemkauffrau und studierte am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig. Derzeit absolviert sie ein Masterstudium Contemporary Arts Practice an der Hochschule der Künste in Bern. Henriette Vásárhelyi lebt mit ihrer Familie in Biel.

 

Henriette Vásárhelyi
immeer
Dörlemann-Verlag Zürich, 2013
Roman
192 Seiten. Geb., Leseband
CHF 26.00 (UVP).
€ [D] 18.90. € [A] 19.50.
ISBN 9783908777939

Auch als eBook erhältlich
ISBN eBook 9783908778325
€ 14.99 . CHF 18.00.

 

«Bettina Spoerri: Konzert für die Unerschrockenen»

Wie ein Familienmythos zur Geschichte eines Menschen mit einem schwierigen Schicksal wird: Der Tod ihrer jüdischen Großtante, der Cellistin Leah, verändert für Anna nicht nur den Blick auf einen geliebten Menschen, sondern auch die Perspektive auf ihr eigenes Leben. Anna reist von Zürich nach London, um Abschied von ihrer Großtante Leah zu nehmen. Zerrissen zwischen ihren Rollen als Mutter, Geliebte und Künstlerin versucht die jüdische Cellistin Leah ihren Weg zu gehen – unerschrocken und abenteuerlustig, aber auch hart geprüft von Flucht und Verlust, wagt sie den Aufbruch.

 

Ein wunderbar packendes, ergreifendes Buch, die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen durch den Tagebuchrückblick und durch die zunehmend bewusstere Veränderung im Leben der Ich-Gestalt des Romans. Mehrere Passagen berühren zutiefst in ihrer Schlichtheit – die Versöhnung mit dem Bruder, die Versöhnung mit dem Vater, die Versöhnung Annas mit sich selber. Aus der Verstrickung des Ungeklärten und Nichtwählbaren öffnet sich über sie langsam ein Weg für jede Person im Zusammenspiel der Generationen: ein Weg aus der Angst ins wachsende Vertrauen zum eigenen Lebenswert, damit aus der Einsamkeit in die Versöhnung. Selbst die Tragik der Geschichte bedarf einer Akzeptanz, damit die Zustimmung zur Zukunft, zum Leben überhaupt und zum Glück möglich werden kann.

Maja Wicki

 

 

Bettina Spoerri, geboren 1968, aufgewachsen in Basel, studierte Literatur, Musikwissenschaft und Philosophie in Zürich, Berlin und Paris. Nach einem längeren Aufenthalt in Israel arbeitete sie als wissenschaftliche Dozentin und als Literatur- und Filmkritikerin, u.a. als Redakteurin der NZZ. Sie war verantwortlich für die Solothurner Literaturtage 2013 und leitet seit Herbst das Literaturhaus in Lenzburg. Bisher veröffentlichte sie Kurzgeschichten in Zeitschriften, ein Theaterstück, u.a. «Tel Aviv Stories». «Konzert für die Unerschrockenen» ist ihr Romandebüt. Die Autorin lebt in Zürich.

 

Bettina Spoerri
Konzert für die Unerschrockenen
Braumüller Verlag Wien 2013
Hardcover mit Schutzumschlag, 462 S.,
ISBN: 978-3-99200-096-8
€ 22.90.

 

«Ingrid Bergman: A Life in Pictures»

Die Biografie mit vielen, bisher unveröffentlichten Fotos aus dem Privatarchiv, herausgegeben von Isabella Rossellini und Lothar Schirmer, wird am 4. Oktober 2013 im Haus der Photographie, Deichtorhallen, in Hamburg vorgestellt, da Ingrid Bergmans Mutter aus Hamburg stammte.

 

Her part as Ilsa Lund in Casablanca (1942) co-starring Humphrey Bogart made Ingrid Bergman (born in Stockholm in 1915) a Hollywood icon, followed by the Hemingway adaptation For Whom the Bell Tolls (1943) with Gary Cooper, Cukor’s Gaslight (1944) and Hitchcock’s Spellbound (1945). Reflecting Ingrid Bergman’s career and based on the family archive, this photo book features unpublished pictures that her father Justus took when she was a young and aspiring actress in Stockholm, film stills, and famous paparazzi shots. A breathtaking beauty, she was famous for her affair with photographer Robert Capa and her controversial marriage with Italian filmmaker Roberto Rossellini, with whom she had three children. Ingrid Bergman received three Academy Awards: Gaslight (Best Actress, 1945), Anastasia (Best Actress, 1956), Murder on the Orient Express (Best Supporting Actress, 1975). (Ingrid Bergman, 1915 Stockholm – 1982 London).

 

Ingrid Bergman
A Life in Pictures
Schirmer/Mosel Verlag, München 2013
Hrsg. Isabella Rossellini
und Lothar Schirmer
528 S., 376 Illustrationen, farbig und duotone
ISBN 978-3-8296-0660-8
€ 98.00, US $125.00, GBP 90.00, CHF 128.90.
Mit CD «As Time Goes By»

 

 

 

NACH OBEN

Literatur