FRONTPAGE

«Kunstmuseum Luzern: Vom Zeitgeist der 1970er Jahre»

Von Niklaus Oberholzer

 

Michael Buthe (1944-1994) war 1969 in Harald Szeemanns Ausstellung «When Attutides Become Form» in der Kunsthalle Bern vertreten. 1970 bezog ihn Jean-Christophe Amman in eine Gruppenausstellung im Kunstmuseum Luzern ein. 1974 richtete er ihm eine legendär gewordene Einzelausstellung ein. Das gleiche Haus widmet nun dem Künstler, dessen Werk für viele nur mehr ein Gerücht ist, und der den Zeitgeist der 1970er Jahre wie kaum ein anderer vertrat, eine umfassende Retrospektive.

 

«Und ich glaube, dass Kunst, wirkliche Kunst, ganz viel mit Mystik und diesen Dingen zu tun hat. Und wenn es nichts damit zu tun hat, darf man es nicht Kunst nennen». Michael Buthe

Im grossen abgedunkelten Raum, mit dem das Kunstmuseum Luzern die Retrospektive Michael Buthes eröffnet, steht ein eiserner Leuchter voller brennender Kerzen, der sich spiralförmige bis auf eine Höhe von vier Metern windet, und den zwei grosse goldene Eier bekrönen. An der Wand sind, wie Kreuzwegstationen, vierzehn 260 cm hohe Kupfertafeln aufgereiht. In ihre geschwärzte Oberfläche sind Umrisse von mit Sternen übersäten menschlichen Figuren eingeritzt. Ihre Arme sind ausgebreitet oder in grosser Geste in die Höhe gereckt. Sie scheinen schwebend zu tanzen.
Der merkwürdige Titel des für die Documenta 9 in Kassel (1992) geschaffenen Werkes: «Die heilige Nacht der Jungfräulichkeit». Es handelt sich um die letzte grosse und raumgreifende Installation Michael Buthes. Mit ihren mehrfachen Verweisen auf Religiöses, auf jenes Mystische, ohne das es gemäss Buthe keine wirkliche Kunst gibt, fügt sich die Installation in jene Themenreihe ein, die der Künstler seit den 1970er Jahren verfolgte. In ihrem definitiven und materiell gefestigten Charakter allerdings setzt sie sich von den früheren, oft ephemeren Werken Buthes ab, die häufig – als Teile spontan aufgebaute und raumbezogene Arbeiten – nur in Bruchstücken die Zeit überdauert haben.

 

 

«Taufkapelle für Papa und Mama»
Das Kunstmuseum Luzern kann auch eine zweite grosse Rauminstallation zeigen, die Michael Buthe 1984 im damaligen Museum van Hedendaagse Kunst (heute S.M.A.K.) in Gent und noch im gleichen Jahr in der Villa Stuck in München aufbaute. Im Unterschied zur „heiligen Nacht“ ist die Präsentation eher eine Rekonstruktion: Für die Anordnung ihrer Teile musste man sich auf Fotodokumente verlassen. Rätselhaft und geheimnisvoll ist auch dieser Titel, und auch er verweist auf Sakrales und religiöse Praxis: «Taufkapelle für Papa und Mama». Das Werk ist opulent und überbordend in seiner Vielfalt der Materialien (Leinwand, Holz, Äste, Kerzen, Wachs, allerlei Alltagsgegenstände, Körbe, Eiern usw.) und Formen. „Taufkapelle“ wirkt wie die Summe aus dem bisherige Schaffen des Künstlers, dessen Laufbahn in den späten 1960er Jahren mit Arbeiten im Umfeld der damaligen westlichen Kunst und ihrer Diskurse – Aufbrechen der Bildfläche, Befragen von Leinwand und Malerei – einsetzte.

Bald allerdings änderte Buthe unter dem Einfluss zahlreicher Reisen und vieler Aufenthalte in Marokko und Zentralafrika seine Praxis und befragte ein sehr viel breiteres kulturelles Umfeld, zu dem für ihn einerseits Stammeskunst, Alltagskultur, religiöse Rituale afrikanischer Völker oder triviale Bildwelten, andererseits aber auch jene spirituellen oder wohl kirchenfernen religiös-christlichen Elemente gehörten, die schliesslich zu Werken wie der „heiligen Nacht“ führten.

 

 

 

Brücken schlagen, Räume öffnen
Entscheidend war stets ein Bestreben Buthes, in seiner künstlerischen Praxis eine Welt entstehen zu lassen, in der sich Gegensätze vereinen, Brücken schlagen und Räume öffnen lassen. Beispiele dafür sind nicht nur seine collagierte «Weltkarte» (um 1970) oder seine vier grossformatigen Collagen von 1987/88, sondern beispielsweise auch ein kleines Objekt «Mäusenest» (1970-1982), eine mit Staniol ausstaffierte Kartonschachtel, in der er Mäusekot, Papier, Farbe, Wachs, aber auch Goldfarbe kombiniert. Gold und glitzernde Pailletten und anderes Flitterwerk spielen in Buthes Bilderwelt mit ihrem Sonnen- und Sterne-Kult ohnehin eine tragende Rolle.

 

Manche dieser Werke, die von ihrem Materialcharakter her wie zusammengebastelte Fetisch-Assemblagen wirken, scheinen heute vielleicht allzu stark verhaftet in ihrer Entstehungszeit und damit in der Atmosphäre der Kunst der 1970er Jahre und ihrer mitunter esoterischen Mythologisierungstendenzen. Überdies kann die gepflegt-saubere Präsentation im Museum kaum jenen unbekümmert-spontanen und unfertigen Charakter vermitteln, der die Aura der Werke damals prägte. Handkehrum ist in der Luzerner Ausstellung allerdings Werken des Künstlers von hoher Stringenz und von klarem Formwillen zu begegnen. Darunter finden sich sehr viele Arbeiten auf Papier, aber auch grossformatige Malereien – sowie die eingangs erwähnte monumentale Installation «Die heilige Nacht der Jungfräulichkeit».

 

 

Enge Beziehungen zur Schweiz
Die Verbindungen Buthes, der ab 1981 Professor an der Kunstakademie Düsseldorf war, zur Schweiz und ihrer Kunst waren über seine Auftritte in den erwähnten Institutionen wie Kunsthalle Bern und Kunstmuseum Luzern hinaus vielfältig und eng. Mit seinem Freund Toni Gerber, der in Bern eine einflussreiche Galerie betreute, führte er während mehr als 20 Jahren einen regen und farbigen Briefwechsel, in dem immer wieder die Namen von Künstlerfreunden wie Markus Raetz, Jean-Frédéric Schnyder, Claude Sandoz oder Urs Raussmüller auftauchen.

 

Es ist das Verdienst des Luzerner Unternehmens, Michael Buthe als bedeutenden Künstler endlich wieder in einer grossen Übersichtsausstellung bekannt zu machen – einem Publikum notabene, das bisher kaum Gelegenheit hatte, seinen Werken zu begegnen. Zudem werden Buthes Werke jenen wieder Erinnerung gerufen, die es vor Jahrzehnten in Ausschnitten gesehen, es später aber wieder aus dem Blick verloren haben: Eine spannende Wiederbegegnung vielleicht auch mit der eigenen Vergangenheit.
Kunstmuseum Luzern. Bis 31.1.2016.

 

www.kunstmuseumluzern.ch
Die Ausstellung wird später in Gent (S.M.A.K.) und in München (Haus der Kunst) gezeigt.

Publikation im Verlag Hatje Cantz. Der Briefwechsel Michael Buthe-Toni Gerber erschien 2013 in den Edizioni Periferia Luzern)

 

 

L&K-Buchtipp

 

Otto Morach

 

Otto Morach (1887–1973) gehört zu den bedeutendsten Vertretern der Schweizer Moderne. Ab 1910 reiste der in Solothurn geborene Künstler wiederholt nach Paris, wo er den Kubismus und Futurismus kennenlernte und in seinem Schaffen verarbeitete. Thema dieser neuen Monografie sind die im Vergleich zu Morachs Malerei weniger bekannten, doch ebenso hervorragenden Arbeiten auf Papier.

Die Publikation versammelt eine Auswahl von selbstständigen Arbeiten auf Papier, in denen sich die zeichnerische Virtuosität Morachs eindrucksvoll zeigt: Gouachen und Aquarelle, Kohle-, Bleistift- und Federzeichnungen. Daneben werden auch seine expressionistischen Holzschnitte und eine Auswahl der selbst gestalteten Postkarten gezeigt. Einen der Höhepunkte bilden die Gouachen, mit denen Morach 1918 seine Puppen zum Marionettentheater Boîte à joujoux vorbereitet hat und die zeitgleich zu den Marionetten von Sophie Taeuber Arp entstanden sind. Die Essays beleuchten das zeichnerische Schaffen von verschiedenen Seiten. Ein besonderer Fokus gilt Morachs Aufenthalt in der Pariser Künstlerkolonie Ruche und seiner Beschäftigung mit den Stilmitteln des Kubismus.

Die reich bebilderte Publikation erscheint zur Ausstellung «Otto Morach (1887–1973) – Arbeiten auf Papier» im Kunstmuseum Solothurn (24. Oktober 2015 bis 31. Januar 2016).

 

 

Otto Morach
Arbeiten auf Papier

Herausgegeben von Christoph Vögele, Kunstmuseum Solothurn.
Mit Beiträgen von Patricia Bieder, Doris Fässler und Christoph Vögele
Scheidegger & Spiess 2015
Geb., 184 Seiten, 151 farbige und 19 s/w-Abbildungen
Format: 22 x 28 cm
CHF 49. € 48.
ISBN 978-3-85881-484-5

NACH OBEN

Kunst