FRONTPAGE

«Von Dubuffet zu Camille Graeser»

Von Niklaus Oberholzer.

 

Dynamisch und rhythmisch reihen sich die bunten Quadrate und Balkenelemente in den Gemälden und Skizzen aneinander. Die Arbeiten des gebürtigen Genfers Camille Graeser (1892 – 1980) wirken mal streng geometrisch, mal erscheinen sie als ein tanzendes Gefüge bewegter Bildelemente. Mit der Ausstellung Camille Graeser und die Musik rückt ein wichtiger, bisher wenig erforschter Aspekt im Schaffen des Künstlers in den Blick: Camille Graesers Verhältnis zur Musik.

 

Camille Graeser und die Musik

Camille Graeser, 1892 in Genf geboren und 1980 in Wald im Kanton Zürich gestorben, gab manchen seiner Werke Titel aus dem Bereich der Musik. Tatsächlich hat sich der Künstler, der lange in Stuttgart lebte und während der Nazi-Diktatur nach Zürich übersiedelte, intensiv mit der Musik und ihren Gesetzmässigkeiten auseinandergesetzt. Graeser, zur Gruppe der Zürcher Konkreten zählend, ist Thema einer Ausstellung im Aargauer Kunsthaus Aarau.

 

Ein wichtiges Werk Camille Graesers, Ende der 1940er Jahre entstanden, trägt den Titel «Sinfonie der Farbe». Es zeigt auf Anthrazit-Grund zahlreiche zu senkrechten und rhythmisiert über die Fläche verteilten Stäben gefügte Farbquadrate. Im Gegensatz zu den „klassischen“ – und das heisst hier: fast schulmeisterlich strengen – Vertretern der Konkreten Kunst wie Max Bill und Richard P. Lohse sind die Farben freier gewählt und reich an Zwischentönen. So gibt es zum Beispiel zartes Lila und fein abgestuftes Orange. Die Folge der vertikal angeordneten Quadrate wird einmal durchbrochen durch ein ansteigendes gelbes Element, das im linken Bild-Drittel einen unübersehbaren Akzent der Irritation setzt. Der Bildtitel spielt auf Musikalisches an. Das ist kein Zufall: 1951 stellte Graeser eine Ausstellung in Zürich unter den Titel „Optische Musik“, womit er unüberhörbar auf eine Verbindung der beiden Künste und der optischen und akustischen Wahrnehmung pochte.
Starkes Interesse an Musik
Vor Graesers Werken mag man in viel höherem Masse als vor jenen Bills oder Lohses an Musikalisches denken. Graeser, der selber allerdings kein Musikinstrument spielte, hat sich auch intensiv mit Theorien der Musik auseinandergesetzt, vor allem mit Harmonien und den ihnen zugrunde liegenden Verhältnissen der Schwingungszahlen, aber auch mit Rhythmischem und mit jenen neuen Wegen der Musikentwicklung, die Arnold Schönberg und sein Kreis einleiteten. Es gibt dazu zahlreiche Äusserungen Graesers selber sowie entsprechende Notizen und Verweise auf den Skizzen, mit denen der Künstler seine Malereien vorbereitete: Sie belegen seine Suche nach Verbindendem zwischen musikalischem und bildkünstlerischem Ausdruck. (Fragen der Synästhesie fanden allerdings kaum Graesers Interesse.) In manchen Werken setzt Graeser kleine schwarze Quadrate wie Musiknoten in den Bildraum. Über das Verhältnis des Künstlers zur Musik und ihrer Theorie gibt es auch verschiedene Untersuchungen – auch im informativen Katalog zur Aarauer Ausstellung (eine Übernahme vom Kunstmuseum Stuttgart), aus dem auch deutlich wird, das Graeser sich nicht nur für die Grenzbereiche zwischen Musik und Malerei interessierte, sondern auch für den modernen Tanz Labans oder für Schlemmers Triadisches Ballett.

 
Weiterhin Raum für Fragen
Dass Graeser sich manche Inspiration zu seinem Tun bei der Musik holte, ist nicht zu bezweifeln. Ob sich allerdings diese Erfahrungen des Künstlers auch in den Empfindungen der Betrachterinnen und Betrachter niederschlagen? Was Hörerinnen und Hörer im Zusammenhang mit Musik – und mit welcher Musik? – empfinden, ist nur schwer zu verbalisieren und kaum auf einen Nenner zu bringen. Es mag eine allgemeine Übereinkunft über das, was an Zusammenklängen „schön“ ist, geben; und offenbar ist da auch Graeser mit von der Partie. Doch spielt in der Musik seit jeher auch die störende Disharmonie als Kontrast zur ausgleichenden Harmonie eine wesentliche Rolle; und wichtig ist auch, in der von Graeser ebenfalls mit wachem Interesse verfolgten Technik der Fuge zum Beispiel, das Wechselspiel von Notwendigkeit und Zufall. Disharmonien und Zufall/Notwendigkeit scheinen nun allerdings nicht gerade Hauptthemen in Graesers künstlerischem Schaffen zu sein.

Da bleibt also noch Raum für weitergehende Auseinandersetzungen im Spannungsfeld von Musik und bildender Kunst. Ein erster spontaner Eindruck, Graesers Bilder würden wie Musik wirken, droht an der Oberfläche zu bleiben.
Schwerpunkt der im Aargauer Kunsthaus von Thomas Schmutz schön präsentierten Ausstellung bildet die zwischen 1946 und 1955 entstandene Werkgruppe «Loxodromische Kompositionen». Zahlreiche Skizzen illustrieren die Fragestellung. In der Ausstellung ist, im Anblick von Graeser-Werken aus den 1960er Jahren, auch Musik Bachs, Schönbergs und Hindemiths zu hören.
Aargauer Kunsthaus Aarau. Bis 10. April. www.aargauerkunsthaus.ch

 

«Ceal Floyers treffsichere Interventionen»
Sie ist eine der bedeutendsten britischen Konzept-Künstlerinnen – Ceal Floyer (geboren 1968). Ihre Arbeiten überzeugen durch die gedankliche Klarheit, auf der sie aufbauen, und auf der hohen Präzision der Umsetzung. Im Aargauer Kunsthaus realisierte sie eine spannende Ausstellung.
In der Sammlung im Obergeschoss des Kunsthauses in Aarau hängt eine Landschaft Paul Gaugins von 1879, das Legat des Aargauer Fabrikanten und Kunstfreundes Dr. Max Fretz. Irritierend: Rechts unterhalb des Bildes sehen wir einen kleinen roten Punkt. Damit zeigen Galerien üblicherweise, dass ein Bild verkauft ist. Ist der Aarauer Gauguin verkauft? Zu Welchem Preis? An wen? Warum? Ist da Haus in Finanznöten und bessert so das Budget auf? Sind auch andere Werke zu haben? Herrscht da Ausverkauf? Sieht man genau hin, so handelt es sich eben nicht um einen „Verkauft“-Punkt, sondern um eine winzige kreisrunde Malerei in Kadmium-Rot – eine Intervention der britischen Künstlerin Ceal Floyer, die in ihrer retrospektiv angelegten Ausstellung im Parterre des Hauses weitere Arbeiten präsentiert: Sie sind scharfsinnig, witzig, irritieren die Besucherinnen und Besucher. Vor allem rufen sie nach Fragen und reissen Gedankenräume auf, die wir mit unseren Ideen und Antwort-Versuchen füllen können.

 

 
Die Leiter ist keine Leiter
In einem der Ausstellungsräume – er ist abgedunkelt – stossen wir links des Zugangs auf Griffhöhe auf einen Lichtschalter üblicher schweizerischer Machart. Doch er existiert nicht real, sondern ist die Projektion einer höchst genauen und bis auf den feinsten Schatten auf die Lichtsituation angestimmten Fotografie eines Lichtschalters. Einer Leiter aus Aluminium von 280 cm Höhe fehlen bis die unterste und oberste alle weiteren Sprossen: Sie ist als Leiter unbrauchbar, also keine Leiter. Was denn sonst? Wir können sie, so verändert und ihrer Funktion beraubt, als minimalistische Skulptur lesen. In zwei weiteren Sälen hängen zwei grosse Fotografien, die man nicht gleichzeitig im Blick haben kann. Auf den ersten Blick sind sie bis auf die Titel identisch: „Half Full“ heisst die eine, „Half Empty“ die andere. Es sind allerdings zwei verschiedene Fotos des gleichen Glases, aufgenommen in einem geringen zeitlichen Abstand. „Halb voll“ und „halb leer“ sind trotz der Sprichwörtlichkeit der Formulierung eben doch nicht ganz dasselbe. Sprichwörtlich ist auch der Domino-Effekt. Ceal Floyer unterläuft aber seine Bedeutung, indem sie die schwarzen Dominosteine so zwischen die Wände eines Raumes klemmt, dass sie nicht umfallen können und zur sehr präzisen und doch fragil wirkenden schwarze Linie zwischen zwei weissen Wänden werden.
Ceal Floyer inszeniert diese und viele anderen Arbeiten in den Räumen des Kunsthauses souverän. Sie alle agieren mit sehr sparsam eingesetzten Mitteln und wirken damit wie beiläufig, aber bei genauem Hinsehen trotzdem entschieden und verbindlich. Ceal Floyer gibt den Werken Raum zum Atmen. Den Besuchern gibt sie Raum zum Weiterspinnen ihrer Denkanstösse.
Aargauer Kunsthaus Aarau. Bis 10. April. Publikation zur Ausstellung in Zusammenarbeit mit dem Kunstmuseum Bonn. www.aargauerkunsthaus.ch

 

 

«Jean Dubuffet: Vom Versuch neu anzufangen»

Von Simon Baur

Die Ausstellung zum Werk von Jean Dubuffet (1902-1985) erklärt die Kunst des 20. Jahrhunderts als logische Abfolge von Einflüssen, zeigt aber auch das Kunst und Humor durchaus Verwandtschaften aufweisen.

 

Die Fondation Beyeler zeigt einen Überblick über das Werk des französischen Künstlers Jean Dubuffet. Höchste Zeit, spielte doch der Künstler für den Galeristen Ernst Beyeler eine zentrale Rolle, verschiedene Male hat er ihn ab 1965 gross gezeigt, Bücher, Kataloge über ihn, Grafiken von ihm publiziert, eine der legendären Neujahrskarten aus der Galerie Beyeler ist gar im Shop günstig zu haben. Hatte man in der Galerie die Möglichkeit vor allem das Spätwerk in einem intimen Rahmen zu sehen, so bietet sich in der Fondation Beyeler das Glück den gesamten Dubuffet studieren zu können: Malereien aus allen Epochen, vor allem aber auch seine Skulpturen, mit denen er die Errungenschaften der von Carl Einstein beschriebenen „Negerplastik“ in die heutige Zeit transferiert, ohne sie zu schmälern oder plakativ darzustellen. Sei es „Saïmiri“, aus Naturschwämmen konstruiert, „Le Viandot“ aus Schlacke, „Vieillard“ aus Holzkohle oder „Madame J’ordonne“ aus Lava, sie alle zeugen von der ungemein fantasievollen Formen- und Bildsprache des Künstlers und ermöglichen uns gleichzeitig einen Einstieg in sein Werk, der einfacher nicht sein könnte. Einsteins erwähnte „Negerplastik“ erschien 1915, da war Jean Dubuffet erst 14 Jahre alt. Das Buch war sicherlich auch eine Reaktion auf Picassos „Les demoiselles d’avignon“, ein Bild, das wie vermutlich nur noch Courbets „L’origine du monde“ und Malewitschs „Schwarzes Quadrat“ die Kunst revolutionierte. Und das Buch versuchte für dieses Unverständliche den theoretischen Unterbau zu liefern.

 

 

Neue Wege
Von da an galt es, die Kunst neu zu denken, die Tradition zwar weiterhin im Auge zu haben, jedoch neue Bildsprachen zu entwickeln, um die Kunst für die Gegenwart fit zu machen. Dubuffets Objekte standen in ihrer Zeit anachronistisch im Raum, seine Malerei jedoch hatte noch viel weniger den Anschluss an die Gegenwart geschafft. Sie orientierte sich an den „Fauves“ und dem österreichischen Expressionismus von Oskar Kokoschka und Egon Schiele. Doch Dubuffet gelang es, sich von den Vorbildern und den gegenständlichen Motiven zu lösen und über die Erkenntnisse der Natur eine Bildsprache zu entwickeln, die damals zwar nicht neu, aber weitgehend unbekannt war. Wesentlich dazu beigetragen hatte eine Reise durch die Schweiz, 1945, bei der sich Dubuffet zum ersten Mal konzentriert mit der „Art brut“ befasste und entsprechende Sammlungen in psychiatrischen Anstalten und Gefängnissen besuchte. In der Folge war man versucht ihn immer wieder in die Nähe der „Art brut“ zu rücken, wobei vergessen ging, dass er auch ein Kind des Surrealismus war, dessen Vertreter ihrerseits von dieser Kunstform fasziniert waren. Dubuffet hat sich mit unterschiedlichsten Eindrücken vollgesogen und daraus, aus afrikanischer Plastik, Abstraktion, „Art brut“ und Surrealismus eine höchst eigenwillige Sprache entwickelt, die auch heute noch aktuell ist, wie seine zahlreichen abstrakten Bilder unterstreichen, in denen man Vorbilder aus der Natur sehen mag, ihnen doch aber auch ein allgemein verständliches abstraktes Vokabular zugestehen muss. Waren es bis Mitte der fünfziger Jahren grossformatige Figuren, die an Golemfiguren erinnern, so verflüchtigen sich diese Formen bis gegen Ende der 1950er Jahre und abstrakte Muster, die an die Struktur eines Terrazzo-Bodens erinnern, wurden aktuell.

 

 

Kunst und Tanz
Aus diesen flechtenartigen Malereien entwickelt er seine grossartige „Hourloupe“-Serie, in der er abstrakte und gegenständliche Formen verquickt und mit den typischen weissen und schwarzen Umrandungen versieht, sodass eine Art Vexierbilder entstehen, die ein doppeltes Sehen ermöglichen. Darauf basieren schliesslich seine architektonischen Landschaften, die er aus Polyester und Beton erstellt, die wie grossflächige Topographien wirken und die er mit seinen neuen, wolkenartigen Formen bemalt. Und da ihm der Stillstand im Raum nicht genügt, versucht er diesen Raum in Bewegung zu halten und schafft aus den neuen Formen Figurengruppen, die an seine ersten Skulpturen erinnern, die aber gleichzeitig die Errungenschaften der unter Sergej Diaghilev weltbekannt gewordenen „Ballets russes“ neu interpretieren und aktualisieren. Jean Dubuffet als Kunstvermittler zu sehen, ist bestimmt nicht falsch, er hat zwischen den Ismen und den Disziplinen vermittelt und in allen Bereichen neue Bildsprachen entwickelt. Sprachen mit neuen Zeichen und Formen, die erfrischend neu waren und bis heute aktuell geblieben sind. Man vergleiche nur seine späten Arbeiten und denke hierbei an die „Tags“ und die gesprayten „Malereien“ auf den Betonwänden, vornehmlich entlang der Bahnlinien. Damit spricht Dubuffet nicht nur ein kunstspezifisches Publikum an, seine Kunst enthält auch zahlreiche Entdeckungen für Jugendliche und Kinder bereit, ähnlich wie beispielsweise auch Cy Twombly, der parallel dazu und bis zum 13. März im Basler Museum für Gegenwartskunst zu sehen ist. Diese Kunst ist frisch, frech, ungezwungen und aktuell, ein Besuch in Riehen lohnt sich allemal, man wird danach Kunst neu denken können und viel besser verstehen, wie eng im 20. Jahrhundert Gegenständlichkeit und Abstraktion miteinander verbunden sind.

 

Die Ausstellung «Jean Dubuffet. Metamorphosen der Landschaft» in der Fondation Beyeler dauert bis zum 8. Mai 2016. www.fondationbeyeler.ch.

Begleitend zur Ausstellung ist ein fulminanter Katalog im Verlag HatjeCantz erschienen, indem die meisten Bilder farbig abgebildet und erläutert werden.     

Die Ausstellung wird von Dr. Raphaël Bouvier kuratiert.

https://www.fondationbeyeler.ch

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