FRONTPAGE

«Was der Fall ist & Films before Revolution»

 

 

Zwei neue Ausstellungen im Museum Haus Konstruktiv: Hans Jörg Glattfelder und Adrián Villar Rojas. Der 1939 in Zürich geborene und seit 1998 in Paris lebende Künstler Hans Jörg Glattfelder zählt zu den wichtigsten zeitgenössischen Repräsentanten der konstruktiven und konkreten Kunst. Adrián Villar Rojas, 1980 in Rosario, Argentinien geboren, erhält den «Zurich Art Prize 2013»: Installation mit Konzertflügel und Mobiliar: ein Universum aus Zeichnungen, Fotos und Aquarellen.

Mit einer umfangreichen Einzelpräsentation des Schweizer Künstlers Hans Jörg Glattfelder lässt das Museum Haus Konstruktiv sein Ausstellungsprogramm 2013 ausklingen. Hans Jörg Glattfelders Arbeiten, in deren Konzeption oft auch mathematische und naturwissenschaftliche Erkenntnisse einfliessen, bestechen genauso durch ihren intellektuellen und ästhetischen Reiz. Mit rund 80 Leihgaben aus öffentlichen und privaten Sammlungen gibt das Haus Konstruktiv einen Einblick in das vielseitige Oeuvre.

 

Mit dem Titel «Was der Fall ist» spielt Hans Jörg Glattfelder auf Ludwig Wittgensteins oft zitierte Aussage «Die Welt ist alles, was der Fall ist» an, mit der der österrreichische Philosoph 1922 sein berühmtes Werk «Tractatus logico-philosophicus» begann. Glattfelder selbst betrachtet alles, was der Fall ist – Dinge, die zueinander in Beziehung stehen, d.h. Sachverhalte – als etwas Konkretes, das sich stets im Wandel befindet: «Das Konkrete ist unentwegt in Wandlung begriffen, wobei es gewisse Eigenschaften verliert und andere ansetzt, ohne aber seine Identität zu verlieren. In den Wandlungen tritt die Identität erst in voller Bestimmtheit hervor».
Der permanente Wandel spiegelt sich auch im Ausstellungskonzept wider, gezeigt werden in der grossen Retrospektive Werke aus allen Schaffensphasen neben Gemälden auch industriell hergestellte Reliefs sowie installative und eigens für die Ausstellung konzipierte Werke. Glattfelder selbst meidet den Begriff Retrospektive und spricht lieber von «Statements».

 

Seine Affinität zu wissenschaftlichen und philosophischen Fragestellungen geht zurück auf seine Zürcher Universitätszeit; in jungen Jahren studierte Glattfelder einige Semester Jura, Kunstgeschichte und Archäologie, bevor er Anfang der 1960er Jahre nach Italien umzog, um dort seine künstlerische Laufbahn zu beginnen. In Florenz wurde sein frühes Schaffen von verschiedenen Avantgardebewegungen geprägt, inspiriert von Op-Art und der kinetischen Kunst entwickelte er eine eigene Formensprache. Die Auseinandersetzung mit räumlichen Strukturen führte zu ersten industriell hergestellten Reliefs, die eine Aneinanderreihung prismatischer Stäbe zeigen. Später arbeitete Glattfelder mit einem modularen System aus Pyramidenelementen.

 

Anfangs der 1970er Jahre wandte sich der Künstler verstärkt der Malerei zu, wobei die Frage nach der Darstellbarkeit von Raum auf einer Fläche im Zentrum steht. Er setzte sich intensiv mit wissenschaftlichen Raumdefinitionen auseinander, studierte u.a. verschiedene Theorien zur nicht-euklidischen Geometrie und findet 1977 zu einer Bildschöpfung, die er folgerichtig «nicht-euklidische Metapher» nennt: Diese besteht aus meist viereckigen, jedoch nicht orthogonalen Bildträgern, die, in konvergierende Farblinien oder Farbfelder unterteilt, eine perspektivische Verzerrung und die Illusion eines gekrümmten Raumes hervorrufen. Es ist der Versuch, abstrakte Erkenntnisse aus der Naturwissenschaft in visuelle Äquivalente umzusetzen, wie das Prinzip in der Allgemeinen Relativitätstheorie von Albert Einstein beschriebenen Krümmung des Raums.

Auch wenn Glattfelders Arbeiten ein wissenschaftlicher Ansatz zugrunde liegt, sind sie keine mathematischen Anschauungsmodelle: «Ich bin ja Maler und kein Mathematiker. Ich kann von mathematischen Aspekten lernen, kann mir Anregungen holen, aber letztlich werde ich versuchen, den Raum zu gestalten, nach Grundsätzen der künstlerischen Tradition, nach Rhythmus, nach Dimension, nach formalen Entscheidungen. Die Formen, die ich erfinde, haben eine Beziehung, sie weisen auf etwas hin, das ich konkret eben nicht darstellen kann». Aus diesem Spannungsfeld zwischen dem Rationalen und dem Sinnlichen entsteht die poetische Kraft seiner Werke.

Die jüngsten Arbeiten spielen ebenfalls mit der Thematik einer gekrümmten Raumstruktur. Die Beschäftigung mit der nicht-euklidischen Geometrie und die Anwendung einer rational nachvollziehbaren Methode ziehen sich wie ein roter Faden durch Glattfelders Schaffen.

Was sofort ins Auge fällt, sind die von Rhythmus geprägten Farbfelder, die eine unmittelbare Frische und Lebendigkeit ausstrahlen, eine vibrierende Vitalität in vielfältigen Farb- und Raumkompositionen, die in den Bann zieht. Konstruktiv, konkret und zeitlos.

 

 

Zur Ausstellung ist im Wienand Verlag eine Publikation erschienen:

«Hans Jörg Glattfelder – Was der Fall ist» 

Hg. Sabine Schaschl, Stiftung für konstruktive, konkrete und konzeptuelle Kunst. Museum Haus Konstruktiv.

Hardcover in Deutsch/Englisch,

272 Seiten, 314 farbige und 25 s/w Abb.

Mit Texten von Sabine Schaschl, Hans Heinz Hotz,

Eugen Gomringer, Hans-Peter Riese, Marco Filoni, Stephan Geiger.

 

 

 

Adrián Villar Rojas: «Es braucht nur wenige Sekunden, um eine Welt auszulöschen».

 

Das Museum Haus Konstruktiv präsentiert die erste institutionelle Einzelausstellung des argentinischen Künstlers, *1980 in Rosario, Argentinien, in der Schweiz. Rojas ist der Gewinner des diesjährigen «Zurich Art Prize 2013», der das sechste Mal in enger Zusammenarbeit mit der Zurich Insurance Group vergeben wird. Die Preissumme von CHF 80’000 fliesst in eine speziell für das Museum Haus Konstruktiv konzipierte Einzelausstellung und ist zusätzlich mit einer Fördersumme von CHF 25’000 für die dazugehörige Publikation verbunden.

 

Bekannt wurde Rojas durch seine grossformatigen und meist ephemeren Skupturen aus Ton und Lehm. So zeigte die dOCUMENTA (13) in Kassel in den Weinbergterrassen unter dem Titel «Return the World» eine beeindruckende Serie von Skulpturen, die während hundert Tagen in Zusammenarbeit mit seinem Projektteam entstanden. 2011 füllte Rojas mit seinen gigantischen Objekten die Hallen der Arsenale auf der Biennale Venedig und 2009 liess er im südlichen Argentinien, an der 2. Biennale am Ende der Welt, einen skulpturalen Wal in einem Waldstück stranden.

Adrián Villa Rojas, der in Buenos Aires und Rosario seinen Lebensmittelpunkt hat, schlägt jeweils an den Orten seiner kommenden Ausstellungen sein mobiles Atelier auf und entwickelt ortsspezifische Installationen und Skulpturen. Beeinflusst sind seine Arbeiten von futuristischen Mangas, zeitgenössischer Literatur und Grunge Musik. Wiederholte Themen sind poetische und metaphysische Ideen, um neue parallele Universen zu erkunden und sich dem Zustand der Menschheit zu widmen.

 

 

Wie sehr sich in atmosphärischer Hinsicht die neuen Gedichte von Michel Houllebecq mit den künstlerischen Welten in Rojas’ skulpturalen Installationen treffen, erstaunt, so Sabine Schaschl, Direktorin Museum Haus Konstruktiv. Rojas, der nebst den Tagebüchern des verstorbenen Grunge-Musikers Kurt Cobain und den Gemälden von Caspar David Friedrich auch Texte des Schriftstellers Houllebecq («Elementarteilchen») als Inspirationsquelle angibt, legt in seinen Werken immer wieder eine vergängliche, melancholische, von existenziellen Gedanken und Emotionen geprägte Welt frei. Sätze aus dem kürzlich erschienenen Band «Configuration du dernier rivage» von Houllebecq wie «Es braucht nur wenige Sekunden, um eine Welt auszulöschen», könnten auch als Kurzbeschreibung auf manche Skulptur Rojas zutreffen.

In der Ausstellung «Films Before Revolution» im Museum Haus Konstruktiv greift er erstmals auf Readymades in Form von gebrauchten Möbeln zurück und integriert diese in ein Szenario, das als Metapher für die omnipräsente Auslöschung alles Seienden gelesen werden kann. «Alles kann eines Tages verschwinden», so der Künstler, der damit die Houllebecq’sche Gedankenwelt teilt.

 

Den Werkprozess seiner Arbeiten dokumentiert der Künstler mit Fotos und Zeichnungen, die ihm wiederum als Basis für Aquarelle dienen, als eine Kombination der Entstehung und Abbildung der Skulpturen in jeweils neuen Kontexten. Rojas arbeitet innerhalb eines kreislaufartigen Kunstsystems, auf eine Zeichnung folgt eine Skulptur oder Installation, daraus wiederum entstehen Fotos, Aquarelle und Zeichnungen, die Vorhrgehendes und Zukünftiges vereinen. Die Weiterentwicklung manifestieren sich aus jenen Momenten, die auf das geistig und visuell Skizzierte zurückgreifen.

 

Die Ausstellung im Museum Haus Konstruktiv geht erstmals der Bedeutung dieses kreislaufartigen Werkgefüges nach und gibt den Zeichnungen und Aquarellen ein Gewicht. Während der Aufbauzeit wird das Museum Haus Konstruktiv zu einer Art mittelalterlichen Bauhütte mutieren, in welcher der Künstler mit seinem siebenköpfigen Team und gebrauchten Möbeln, einem Konzertflügel und diversen Materialien ein neues Universum entstehen lassen will. (I.I.)

www.hauskonstruktiv.ch

(bis 2. Februar 2014)

 

 

Zur Ausstellung ist eine Publikation erschienen:

 

Adrián Villar Rojas

Films Before Revolution

Verlag The Green Box

 

 

Museum Haus Konstruktiv

Stiftung für konstruktive, konkrete und konzeptionelle Kunst

Selnaustrasse 25

8001 Zürich

T 044 217 70 80

F 044 217 70 90

info@hauskonstruktiv.ch

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