FRONTPAGE

«Zorro mit Professorentitel»

Von Sacha Verna

Über sich selber zu schreiben hat Jeffrey Eugenides schon immer gelangweilt. Nicht jedoch das Erfinden von Geschichten über selbstmörderische Jungfrauen und Hermaphroditen. In seinem ungeduldig erwarteten dritten Roman zeigt der US-Bestseller-autor nun, dass er sich auch auf die Quadratur des Liebesdreiecks versteht.

Viele angehende Schriftsteller halten sich beim Stoff ihrer Debüts an das, was sie kennen. Sie verarbeiten darin mehr oder weniger direkt den ersten Kuss oder den letzten Sommerjob oder die Erinnerung an Grossmamas Weihnachtskekse. Nicht so Jeffrey Eugenides. Der liess in seinem Erstling einen Chor junger Männer die Selbstmorde von fünf Schwestern im Teenageralter besingen. Inspiriert hatten ihn zu diesem modernen Schauerroman weder ein eigenes Erlebnis noch eine Zeitungsnotiz. «Die Selbstmord-Schwestern» (1993) war pure Erfindung und ein Erfolg bei Kritik und Publikum, der Eugenides zu Ruhm über die Literaturgemeinde hinaus verhalf, als Sofia Coppola «Virgin Suicides» später verfilmte.

 

Jeffrey Eugenides’ zweiter Roman war eine Familiensaga, erzählt aus der Sicht eines Hermaphroditen. In «Middlesex» (2002) steckte schon ein wenig mehr vom Leben ihres Autors. Cal/Calliope Stephanides entstammte griechischen Einwanderern und wuchs in Detroit, Michigan, auf wie Eugenides. «Middlesex» wurde mit dem renommierten Pulitzerpreis ausgezeichnet und verkaufte sich weltweit über 3 Millionen Mal. Damit avancierte Eugenides zum Star. Sein ungeduldig erwarterter dritter Roman enthält nun mehr autobiografische Elemente als das meiste, was Eugenides bisher geschrieben hat.

 

Von einer Nabelschau ist allerdings auch «Die Liebeshandlung» weit entfernt. Dafür, dass er sich lieber seiner Phantasie bedient, als dass er sein Seelen- und Privatleben entblösst, nennt Jeffery Eugenides zwei Gründe: «Es ist einfacher und spannender.» Die Dokumentation der eigenen Morgenroutine birgt nun einmal weniger dramatisches Potential als eine Geschichte über ein Ehepaar, das wegen einer geplatzten Zahnpastatube in eine Krise stürzt. «Wenn ich über mich schreibe, werde ich zum Realitätsfanatiker», fährt Eugenides fort. «Ich meine, die Leser zu belügen, wenn ich nicht jedes Detail festhalte. Das ist ebenso mühsam wie langweilig.»

 

Jeffrey Eugenides sitzt in seinem Büro auf dem idyllischen Campus der Princeton University, wo er seit vier Jahren kreatives Schreiben unterrichtet. Die Namensschilder an den Türen seiner Nachbarn lesen sich wie ein Who-is-who der zeitgenössischen amerikanischen Literatur: Joyce Carol Oates, A.M. Holmes, Edmund White, Colson Whitehead… eine illustre Gesellschaft, in deren Mitte zu wandeln Eugenides noch immer gelegentlich überrascht. In seinem geblümten Hemd, mit dem schmalen Schnurrbart und dem zurückgekämmten schwarzen Haar sieht der 51-Jährige ein bisschen aus wie ein Zorro mit Professorentitel. Sorgfältig formuliert er seine Gedanken, jene zum Verhältnis zwischen Fiktion und Autobiografie im allgemeinen und die zu Mitchell Grammaticus im besonderen.

 

Mitchell ist einer der drei Protagonisten in Eugenides’ neuem Roman. «Die Liebeshandlung» spielt 1982 und handelt von den Irrungen und Wirrungen Mitchell Grammaticus’, der Madeleine und die Mystiker liebt. Von Madeleine Hanna, die Romane des 19. Jahrhunderts und Leonard Bankhead liebt. Von Leonard Bankhead, der sich selber zu wenig liebt, um glücklich zu sein oder andere glücklich zu machen. Alle drei sind talentiert und vielversprechend und wissen mit der Entlassung ins Erwachsenendasein nicht so recht umzugehen. Nur Mitchell unternimmt jedoch nach dem College-Abschluss eine Weltreise und arbeitet eine Weile in Mutter Theresas Hospiz in Kalkutta. Wie Jeffrey Eugenides es in den 1980er Jahren tat. Nur Mitchell kämpft mit Rationalismus und Religion und versucht herauszukriegen, was es heisst, an etwas zu glauben. Wie Jeffrey Eugenides es tat und von Zeit zu Zeit noch immer tut.

 

«Ich bin zu gläubig, um Atheist zu sein und zu ungläubig, um mich einer Kirche fest verbunden zu fühlen», sagt Eugenides. Eingang gefunden in «Die Liebeshandlung» hat die spirituelle Selbstsuche freilich vor allem aus literarischen Gründen: «Mir ist aufgefallen, wie komplett die Religion aus der Gegenwartsliteratur verschwunden ist», so Eugenides. Das in einem Land, in dem acht von zehn Leuten angeben, an eine höhere Macht zu glauben. Und ob mit oder ohne Gott: «Die Grundsatzfragen der menschlichen Existenz – Warum sind wir hier? Welchen Sinn hat das Leben? – stellen wir uns doch weiterhin.» Mitchell, Madeleine und Leonard finden keine endgültigen Antworten auf diese Fragen und auch sich selber nicht wirklich. Doch fühlt sich Eugenides für Ratgeberliteratur nicht zuständig.

 

Im Rückblick auf seine Karriere, in deren Verlauf er auch eine Anzahl von Kurzgeschichten verfasst hat, sieht Jeffrey Eugenides eine deutliche Veränderung seiner Interessen: «In ‘Die Selbstmord-Schwestern’ ging es mir um die Erzählstimme«, erklärt er. Das ‚wir’, das in diesem Roman Todessehnsüchte und sexuelle Begierden im Milieu vorstädtischer Wohlanständigkeit schildert, bildete damals eine Neuerung, die inzwischen ins Repertoire literarischer Stilmittel eingegangen ist. In «Middlesex« konzentrierte sich Eugenides auf den Plot: «Ich wollte eine dichte, komplexe Handlung, die sich über mehrere Generationen und verschiedene Schauplätze erstreckt.« Ausserdem habe ihm gefallen, dass er sich als Cal/Calliope die weibliche und die männliche Perspektive zu eigen machen konnte.
Im Vordergrund von «Die Liebeshandlung»
stehen die Figuren. «Ich habe mich noch nie so sehr in die Köpfe meiner Protagonisten vergraben«, sagt Eugenides. Und in ihre Herzen. Denn dies ist in mancher Hinsicht ein altmodischer Roman. Die «Liebeshandlung« des Titels wird in geradezu klassischer Form durchexerziert, Heirat inklusive. Jane Austen wäre beglückt darüber. Auch deshalb, weil das Hin und Her zwischen den Protagonisten seinen Sog ganz ohne Handy, E-Mail und SMS entwickelt. Auf diesen Punkt hätten ihn manche Leser hingewiesen, sagt Eugenides: «Die Technologie mag die Kommunikation zwischen Liebenden verändert haben, aber Schmerz und Euphorie und Unsicherheit sind sich gleich geblieben.»

 

Überhaupt bedeuten die rasenden Innovationen der Gegenwart Eugenides’ Meinung nach keineswegs das Aus für gewisse Pfeiler der Vergangenheit. Erst recht nicht für den Roman. «Ich habe eben die ersten Kurse des neuen Semesters abgehalten und meine Studenten nach ihren Lieblingsbüchern gefragt«, sagt er. «Die lesen Virginia Woolf, Herman Melville, Henry James.« Wie Madeleine und das trotz Blogomanie und Twitterismus. Natürlich sind Eugenides’ Studenten selber Möchtegern-Literaten und deshalb nicht unbedingt repräsentativ für die gesamte Facebook-Generation. Und natürlich muss Eugenides das Fähnchen der Literatur aufrechthalten, weil er sich sonst arbeitslos machen würde. Allerdings hat Eugenides nicht vor, in naher Zukunft nur noch für eine gebildete Elite zu schreiben: «Auf meinen Lesereisen zeigt sich immer wieder, dass mein Publikum aus allen Schichten und Altersgruppen stammt. Ich hoffe doch sehr, dass das so bleiben wird.«

Madeleines Lieblingsautoren sind auch jene, mit denen Jeffrey Eugendies aufgewachsen ist. Er hat George Eliots ‚Silas Marner’ verschlungen, um sich gleich danach Tolstois ‚Anna Karenina’ vorzunehmen. Das lag zum einen an seinem griechisch-irischen, seinem europäischen Erbe. Zum anderen aber hat Eugenides die Amerika-Fixiertheit vieler seiner Landes- und Berufsgenossen nie geteilt: «Ich wollte immer schon einen Blick von aussen auf dieses Land werfen können und nach Möglichkeit für längere Zeit woanders leben.»

 

Tatsächlich lebte Eugenides mit seiner Frau, der japanisch-amerikanischen Fotografin Karen Yama von 1999 bis 2004 in Berlin. Als Stipendiat der prestigträchtigen Amerikanischen Akademie hatte er ausreichend Gelegenheit, bei Currywurst über Hotdogs und Hamburger zu diskutieren und über die Unterschiede und Gemeinsamkeiten seiner Heimat und seiner Wahlheimat nachzudenken. Der Vergleich ist weder zu Ungunsten der einen noch der anderen ausgefallen. Allerdings spricht für sich, dass er mit seine Familie – Eugenides hat eine 11-jährige Tochter – seit seiner Rückkehr in die USA bis auf einen jeden Sommer in Berlin verbracht hat. «Dieses Jahr einen völlig verregneten«, sagt er mit schiefem Lächeln.

 

Auf dem Weg zum Ausgang des Instituts winkt Jeffrey Eugenides seinem Kollegen Chang-rae Lee zu. Dessen neuer, noch nicht auf deutsch erschienener Roman wurde soeben für den diesjährigen Pulitzerpreis nominiert. In den hiesigen Literaturkreisen ist man sich ziemlich sicher, dass Eugenides mit «Die Liebeshandlung« demnächst ebenfalls auf der Liste der Kandidaten landen wird.

 

 

 

Der Roman

Mitchell ist auf der Suche nach einer Möglichkeit, Madeleine für sich zu gewinnen, und auf jener nach dem Sinn des Lebens. Madeleine braucht jemanden, der sie braucht, und glaubt diesen in Leonard gefunden zu haben. Leonard wiederum ist manisch-depressiv und wünscht sich nichts sehnlicher, als die Welt nicht mit sich zu behelligen und nicht von ihr behelligt zu werden – was leider das Gegenteil zur Folge hat. Alle drei kämpfen mit den Ansprüchen von Eltern, die ihnen eine teure Ausbildung bezahlt haben. Sie sehen sich mit den Realitäten des Erwachsenenlebens konfrontiert, von dem sie nach Jahren im intellektuellen Spa einer amerikanischen Eliteuniversität gnädig verschont worden sind. “Die Liebeshandlung” ist ein mit sämtlichen Raffinessen der Postmoderne gespickter Roman über klassichen Herzschmerz und verlorene Unschuld. Und nicht zuletzt ein starkes Plädoyer für die transformierene Kraft der Literatur.

 
 

Jeffrey Eugenides:
Die Liebeshandlung
Roman.
Aus dem Amerikanischen von Uli Aumüller und Grete Osterwald. Rowohlt Verlag, Reinbek 2011. 623 Seiten. 26.90 Euro/ 36.90 Franken

NACH OBEN

Literatur