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«Lichtspieler – Wie der geniale Lavanchy-Clarke die Schweiz ins Kino holte»

Von Rolf Breiner

 

Bereits 2019 publizierte der Filmwissenschaftler Hansmartin Siegrist das gewichtige Buch «Auf der Brücke zur Moderne. Basels erster Film als Panorama der Belle Epoque». Auf dieser Grundlage hat der Dozent, Publizist und Produzent Siegrist den Dokumentarfilm «Lichtspieler» kreiert.

Er beschreibt in bewegten Bildern von gestern und heute, «Wie der geniale Lavanchy-Clarke die Schweiz ins Kino holte». Die Biographie dieses unermüdlichen Pioniers, Unternehmers und Cinematographen liest sich wie ein Kapitel Schweizer Geschichte von der Landesausstellung in Genf 1896 bis zum Ende der Belle Epoque Anfang des 20. Jahrhunderts. Wir sprachen mit dem Dozent und Dokumentaristen aus Basel über die Anfänge des Kinos, Marketing, über Schatzsuche nach vergessenen Bildern und Filmen über Filmer.

 

Der Schweizer Unternehmer und Filmpionier François-Henri Lavanchy-Clarke
«Lichtspieler» – ein Brückenbauer zur Moderne

Wenn von Vätern des Kinos die Rede ist, werden meistens die Brüder Lumière genannt. Auguste (1962-1954) und Louis Lumière (1864-1948) lebten in Lyon und entwickelten 1894 den ersten brauchbaren Cinematographen. Sie wurden weltbekannt. Ein anderer ebenso innovativer und produktiver Pionier in der Entwicklung von Film und Kino stammt aus der Schweiz. François-Henri Lavanchy-Clarke betrieb 1896 anlässlich der Schweizer Landesausstellung in Genf ein erstes Kino. Filmhistoriker Hansmartin Siegrist aus Basel hat seine Spuren aufgenommen und mit seinem Team archäologische Arbeit geleistet, um das Werk dieses genialen Filmkünstlers und Unternehmens ans Licht zu bringen.
So entstand 2019 das voluminöse Buch «Auf der Brücke zur Moderne. Ein erster Film über Basel samt Panorama der Belle Epoque» (Christoph Merian Verlag, 439 Seiten). Hier werden nicht nur die Film- und Kinopioniere Ende des 19. Jahrhundert, ihre Arbeit, Errungenschaften und Produktivität beschrieben, sondern auch ein epochales Kapitel Schweizer und Basler Wirtschafts- und Kulturgeschichte beschrieben. Im Zentrum steht der erste Basler Film: «Lumière 308 Bale: Pont sur le Rhin», Anno 1896 gedreht mit 48 Sekunden oder 757 Einzelbildern. Akribisch wird dieser Film im wahrsten Sinn des Wortes aufgeblättert.
Buch und Forschung zum ersten Basler Film bildeten die Grundlage zum Dokumentarfilm «Lichtspieler». Wie der geniale Lavanchy-Clarke die Schweiz ins Kino holte» von Hansmartin Siegrist. Im Mittelpunkt steht der rührige Selfmade-Mann, Philanthrop und Unternehmer François-Henri Lavanchy, der infolge seiner Heirat (1879) mit der Engländerin Jenny Elisabeth den Namen Clarke annahm. Er war ein Phänomen: Forscher, Tüftler, Produzent, Konzessionär des Hauses Lumière, Marketingpionier, Netzwerker und Unternehmer. Er forcierte als Generalagent 1889 die Marke «Sunlight Soap» der Lever Brothers in England, gründete die eigene Seifenfabrik Helvetia, in Olten, 1909 in «Sunlight» umbenannt. Er engagierte sich für Sehbehinderte, drehte unzählige Filme und trat oft selber darin auf.

Dozent und Filmhistoriker Siegrist fächerte das Leben dieses verkannten, vergessenen Genies auf. Dazu dienten besonders 50 frühe Filmrollen mit Schweizer Sujets, die in einem Pariser Archiv entdeckt wurden. Zu sehen sind etwa Bilder vom Schaffhauser Rheinfall, St. Gallen (Broderbrunnen), von der Landesausstellung in Genf, der Eröffnung des Landesmuseum in Zürich 1898 und vom Streit um Hodlers Wandbilder, von Zermatt (Zermattbahn) oder Bern (Staatsbesuch des Königs von Thailand, Bärengraben). Und natürlich Basel mit Fasnachtsumzügen, Abriss und Neubau der Rheinbrücke oder vom letzten Pferderennen auf der Schützenmatte.
Dabei sind zwei Aspekte hervorzuheben, die der Film anschaulich illustriert: Die Inszenierung der dokumentarischen Aufnahmen und die geschickte Einstreuung winziger Werbung, heute würde man von Product Placement sprechen, immer wieder wird die Luxusseife «Sunlight» ins Bild gebracht. Gern platzierte sich Lavanchy-Clarke auch selber (wie später Hitchcock in seinen Kinofilmen).
Geschickt schlägt der akribische Filmforscher und Filmer Siegrist eine Brücke von damals zur Gegenwart, verschmilzt Ansichten von gestern mit heute. Die Statements von Historikern (Diana Blome, Roland Cosandey, Sabine Flaschberger, Jakob Tanner u.a.), Archivaren (Laurent Mannoni, Dominique Moustacchi, Jeanette Strickland) und anderen Experten (Jan Oldenhuizing, Cannes, Brigitte Paulowitz, Bern oder Ricarda Stegmann, Fribourg) vertiefen die historischen Aufnahmen. Allemal ein erhellendes Lichtspiel für den Lichtspieler aus der Schweiz.

 

Wir sprachen mit Hansmartin Siegrist in Basel über seinen Film, die Filmgeschichte und die Erforschung eines verborgenen Schatzes.
«Die Filmgeschichte beginnt fast ohne Filmgeschichten», schreibst du in deinem Buch. «Die frühen Filme wollen eher zeigen als erzählen.» Was willst du uns mit deinem Film «Lichtspieler» zeigen beziehungsweise erzählen?
Hansmartin Siegrist: Ich möchte, dass die Mediengeschichte in der ganzen Geschichte der Belle Epoque eingebettet und wahrgenommen wird. Es geht dabei weniger um Erfinder als vielmehr um Ausdruck einer Zeit im Wandel zwischen einem gewissen Rückwärtsblick, einer gewissen ästhetischen Oberflächlichkeit und einer radikalen Moderne, die sich abzeichnet. Da sehe ich den Cinematographen im Mittelpunkt. Er zeigt viele Umzüge, viele Repräsentationen, gleichzeitig ist er Apparat der Moderne, der zur Leitkunst der Moderne führt, zu Film und Kino.

 

 

François-Henri Lavanchy-Clarke (1848-1922) war seiner Zeit voraus als Philanthrop, Pionier, Künstler und auch Unternehmer mit sozialem Bewusstsein. Was bedeutet er dir persönlich?
Vielleicht zwei Dinge: Sein unglaublich breites Interesse, das keineswegs Tiefe ausschliesst, die teilweise religiös begründet ist. Gleichzeitig hat er – das zeigen seine Briefe – sein Tun stark reflektiert. Andererseits hat ihn weniger sein Status als Miterfinder des Cinematographen interessiert als das, was man damit machen kann. Da steckt sein absoluter Hang zum Zweckdenken dahinter.

 

Lavanchy-Clarke hat Film und Kino als Kommunikationsmittel eingesetzt…
Eindeutig. Auch die Brüder Lumiére wollten die Welt nicht unbedingt mit einer ihrer Erfindungen beglücken. Sie waren Industrielle, die auch ihre Fotomaterialen etc. verkaufen wollten. Sie haben mit dem Cinematopgraphen viel Geld verdient. Der Film war nicht Selbstzweck, und insofern war diese Haltung ein zukunftsweisender Zug. Dahinter steckte bei Lavanchy-Clarke auch ein protestantischer Zug. Alles musste einen Zweck haben, und als Calvinist wollte er durchaus auch reich werden.

 

Dieser Mann war ein unersättlicher Sucher und Erfinder…
Er war eben ein Tüftler, der mit seinen vielen Talenten selbst bei der Seifenherstellung einen unglaublichen Fortschrittsglauben an den Tag legte, der mit dem Ersten Weltkrieg brutal gekappt wurde.

 

Wie kann man diesem Mann nach 120 Jahren gerecht werden?
Er stand auf der Schwelle zwischen der Belle Epoque und Heute. Sie ist frappant. Keiner in der Schweiz verkörpert das besser als Lavanchy-Clarke, weil er den Beitrag der Medien forcierte in einer Zeit, als die Eisenbahn voll entwickelt war, wo Bergbahnen erschlossen wurden, wo Telephonie sich extrem durchgesetzt hatte.

 

Der Film konzentriert sich auf Lavanchy-Clarke, ein Brückenbauer zwischen zwei Epochen.
Genau. Man sieht, wie sich ein Mensch mit Willenskraft, sehr viel Talent und Geschick sehr wohl durchsetzen kann.

 

Er war auch missionarisch unterwegs in Ägypten…
Diese Pilgermission wurde von Genfer Bankiers unterstützt. Die hatten bereits den Einsatz des Roten Kreuz im deutsch-französischen Krieg mitfinanziert, wo sich Lavanchy-Clarke bewährt hatte. Wegen Tuberkulose reiste er nach Kairo und wurde Sachverwalter der Genfer Bankiers, die an der Entschuldung des Suezkanals beteiligt waren. Dort kam er wohl zu Geld, ein Teil davon hat er in eine gute Sache investiert und so das Blindenwesen in Ägypten umgekrempelt.

 

Er hat ja auch die Blindenschrift international vereinheitlicht. Er war also aus gesundheitlichen und missionarischen Gründen in Ägypten.
Das war vielleicht das Bemerkenswerteste an diesem Mann: sein Anschlussfähigkeit, seine Kombination. Umgekehrt hat ihm das auch viele Feinde und Neider eingebracht. Er war ein Mann, der jährlich 40 000 Kilometer unterwegs war.

 

Ein Weltenbummler…
Ja, das können wir aufgrund seiner Agenda nachweisen.

 

 

Er leistete unheimlich viel als Philanthrop und Unternehmer, beispielsweise durch seine Automaten. Was steckte dahinter?
Er war gleichzeitig als Moneymaker und Philanthrop unterwegs, denn ein Teil des Gewinns durch die Automaten wurde für die die Blindenschulen abgezweigt. Dese Automaten musste abgepackte Dinge verkaufen wie Schokolade, Bonbons oder Raucherwaren. Es war das gleiche Verkaufsprinzip, wie wir es heute noch haben. Lavanchy-Clarke dachte also daran, sein Geschäftsmodell auszubauen. Er wollte nicht nur die Automaten und das Verkaufsgut verkaufen, und das hat ihn in die Schokoladenindustrie getrieben. Er hat eine marode Edelmarke in Paris aufgekauft, aber das funktionierte nicht. Man riet ihm, sich mit dem innovativen Seifenhersteller in England zu verbinden. Und so kam das Geschäft mit «Sunlight» zustande. Das durchschlagende Geschäftsmodell der «Sunlight»-Gründer war es, die Seife nicht mehr en bloc, sondern schön verpackt und parfümiert anzubieten. Ideal für die Automaten.

 

Das war also der Beginn werbewirksamer Verpackungen wie wir sie heute noch haben…
Natürlich. Dort kam die Werbung zur Geltung – konsumgerecht und hygienisch. Ein perfekter Werbeträger. Eine Entwicklung aus England. Das war für Lavanchy-Clarke eminent wichtig: So konnte man auf den Papierchen, auf Schachteln oder Kisten Werbung machen.

 

Wie entwickelte sich das Geschäft mit der Seifenmarke «Sunlight»?
Die «Sunlight»- Produkte waren innerhalb von zwei, drei Jahren regelrecht explodiert. Ein expansives Wachstum. 1888 erhielt Lavanchy-Clark die kontinentaleuropäische Konzession für diese neu Seife. Ein umkämpfter Markt. In der Schweiz gab es ein starkes Kartell, auch weil viele lokale Seifenhersteller existierten, denn Seife war ein Abfallprodukt der Schlachtindustrie. Zwei Jahre später hatte Lavanchy-Clarke ein Netz von Unterkonzessionären, u.a. auch in Basel. Und er wurde reich – nach dem Schokoladenkonkurs. So hatte er Zeit, sein fotographisches Interesse weiter zu verfolgen -parallel.

 

Zur Landesausstellung in Genf 1896. Er war erster ausländischer Konzessionär der Brüder Lumière. Was lief da ab?
Ein, zwei Jahre war das Konzessionärsmodell der Brüder Lumière erfolgreich. Dann haben sie Cinematographen verkauft. Das hat auch Lavanchy-Clarke gemacht. Für uns war es toll, weil all diese Filme, die damals entstanden sind und die wir gefunden haben, nicht den Lumière gehörten, sondern Lavanchy-Clarke. An der Landesausstellung 1896 wollte er ausländische Seife mit einem ausländischen Apparat, dem Cinematographen, verkaufen. Aber weil das alles keine Schweizer Produkte waren, wurde er quasi mit seinem Palais auf den Rummelplatz verbannt. Diese Doppelwerbung für sich, den Cinematopgraphen und für das Luxusprodukt Seife war typisch für Lavanchy-Clarke.

 

Er brachte nicht nur das Produkt, sondern auch sich selber in den Filmen ein. Warum?
Das hat nicht nur mit seiner persönlichen Eitelkeit zu tun, sondern auch mit seinem Markendenken. Er sah sich als Mann, der nicht nur die «Sunlight»-Seife, sondern auch den Cinematographen brachte.

 

Seine Filme, knapp eine Minute lang, sind bemerkenswert, teilweise wurden sie inszeniert etwa auf der Basler Brücke. Die Leute wurden platziert.
Ja, das ging nicht anders. Am schönsten merkt man das an den Pannen, die quasi als Authentizitätsausweis wirken. Man kann zuverlässig sagen, dass 98 Prozent der Filme inszeniert wurden oder zumindest vorinszeniert.

 

 

Zu deinem Film. Du bist ein Schatzgräber, ein Archäologe der Filmgeschichte. Wie lange hast du an dem Projekt Lavanchy-Clarke gearbeitet – vom Buch zum Film zur Ausstellung im Museum Tinguely, Basel?
Mit Unterbrüchen habe ich mich seit 1994 mit dem ersten Basler Film und Lavanchy-Clarke beschäftigt. Seit 2014 habe ich am Buchprojekt gearbeitet – transdisziplinär und nicht nur lokalhistorisch. Das Buch war dann in zwei Jahren geschrieben.

 

Als ich dein Buch in der Hand hatte, fand ich ein Kompendium von Sozial-, Wirtschafts- und Filmgeschichte vor. Ich dachte: Das Buch blättert Filme auf, vornehmlich die von Lavanchy-Clarke, und entpuppt sich als Geschichtswerk über die Jahrhundertwende vom 19. ins 20. Jahrhundert.
Genau, das sollte es sein: ein Epochenporträt. Beim Film war wesentlich, dass man die digitalen Hilfsmittel zur Verfügung hatte, um das Ganze zu stabilisieren.

 

 

Und aus dem Buch hat sich das Filmprojekt ergeben?
Das habe ich meinen Kollegen zu verdanken. Die sagten, das ist doch ein Stoff, Ich hatte geglaubt, diese Geschichte sei zu kompliziert, Das riesige Tableau der Belle Epoche kannst du nur einigermassen beschreiben, wenn du eine Figur hast, die quasi sich wie ein blauer Faden durch die Geschichte zieht.

 

Die Materialfülle ist riesig. Es war sicher sehr schwierig zu sichten, zu filtern, auszuscheiden, zu komprimieren.
Ja, das war eine Herausforderung besonders bei diesem Mann, der so viele Aktivitäten entwickelt hat. Besonders gefreut hat mich, dass wir nicht nur linear erzählen konnten, sondern in der Ausstellung auch ausbreiten konnten zwischen den einzelnen Stationen und Aktivitäten. Das kann man hier besser verräumlichen als in linearen Abläufen.

 

Wir werden von Bildern überflutet. Das Kino hat es nicht leicht. Die Zuschauer kommen spärlich. Wie schätzt du die Zukunft des Films, des Kinos, den Wandel ein?
Ich habe gelernt: Jeder Wandel ist weder gut noch schlecht, sondern einfach da. Man muss damit leben. Jeden Tag werden zirka 10 Milliarden Bilder geschossen, doch 99,99 Prozent dieser Bilder gehen zu Lebzeiten der Fotografen und Fotografinnen verloren, werden vergessen oder nicht bearbeitet. Es ist doch bemerkenswert und spannend, dass jetzt wieder unglaublich viel in der Kunstszene chemisch fotografiert wird.

 

Was passiert heute?
Wenn man Film als Leitkunst der Moderne betrachtet, so kann man sagen, dass praktisch alle Bewegtbildmedien, die es heute gibt, Finalisierung des Films sind. Man kann Film als breiteste Kulturgeschichte darlegen, weil der Film alles in sich aufgenommen hat.

 

Hansmartin Siegrist
Geboren 1954 im Aargau, lebt in Basel,Sternzeichen Skorpion
Dr. phil, Produzent und Realisator mit Schwerpunkt Regie und Editing
1987-1994 Programmleiter und Produzent am Studio Ciba-Geigy
Publizist, Filmer und Lehrbeauftragter für Medienwissenschaft (Filmtheorie) der Uni Basel (1981-2021) und HGK Basel
Mitinhaber der AV-Produktion Visavista AG
Realisierung von zahlreichen Auftragsproduktionen für Industrie, Verwaltung und NGOs
Buch «Auf der Brücke zur Moderne. Basels erster Film als Panorama der Belle Epoque», Christoph Merian Verlag 2019, 49.00 Franken, 439 Seiten, über 600 Abbildungen. Ein Rreiches, fundiertes Kompendium über Basler Filmgeschichte, Wirtschaft und Historie zwischen Belle Epoche und Moderne und Schlüsselwerk des Films am Ende des 19. Jahrhunderts.

 

Ausstellung
«Lichtspieler. Wie der geniale Lavanchy-Clarke die Schweiz ins Kino holte», Museum Tinguely, Basel (bis 29. Januar 2023). «Kino ohne Kino» – eine kleine kompakte Schau mit Filmen, Dokumenten (Briefen, Schriftststücken, Notizen, Pässen u.m.), Fotos, Gemälden, Apparaten (Cinematograph) über den Werbefachmann, Weltbürger und Netzwerker Lavanchy-Clarke.

 

Publikation
«Auf der Brücke zur Moderne. Basels erster Film als Panorama der Belle Epoque», Christoph Merian Verlag 2019, 49.00 Franken, 439 Seiten, über 600 Abbildungen

 

 

 

Filmtipps

 

 
Whitney Houston – «I wanna dance with somebody»
I.I. “The Voice”: Biopic über Whitney Houston (1963-2012). Ein Spielfilm über das Leben der afroamerikanischen Pop-Sängerin (Regie Kasi Lemmons («Harriet»), Drehbuch Anthony McCarten), die mit mehr Auszeichnungen prämiert wurde als jede andere Sängerin. Sechs Grammys, 200 Millionen verkaufte Tonträger und über 200 Gold-, Platin- und Diamantschallplatten machten ihre drei Oktaven umfassende Stimme unvergesslich und begeisterte mit Songs wie «I will always love you» oder «I wann dance with someboday». Zu Beginn des Biopics hört man nur die Stimme Houstons, als Sängerin 1983 im Kirchenchor von Newark/New Jersey, wie auch im ganzen Film, wo sie von Naomie Ackie verkörpert wird. Ihr Stimmtalent erkannte schon früh ihre Mutter Cissy Houston (Tamara Tunie), eine Gospel- und Backgroundsängerin bei Elvis Presley, die sie mit strengem Regiment förderte. Und Whitney wollte auch nichts anderes als singen und Sängerin sein. Als ein Treffen mit dem Musikmogul Clive Davis (Stanley Tucci) arrangiert wird, ist der von «Nippys» Ausstrahlung hingerissen und nimmt sie unter Vertrag. Whitney wünscht sich «grosse Songs» und Clive heuert die besten Komponisten und Songschreiber an. Die Zusammenarbeit ist erfolgreich und Whitney steigt Stufe um Stufe die Karriereleiter hoch bis zur erfolgreichsten Künstlerin aller Zeiten. Das Musikbiz ist ein hartes Geschäft und Intrigen lauern überall, dem Druck versucht Whitney mit Drogen zu entkommen, ihre Sucht hält sie geheim, wie auch ihre bisexuelle Beziehung zu ihrer Freundin Robyn Crawford (Nafessa Williams), die sie als Kreativ-Direktorin auf Tourneen begleitet. Sehr zum Ärgernis ihrer Eltern, die einen Imageschaden befürchten, ihr Vater nennt sie «meine Prinzessin» und verwaltet ihre Millionen, die er heimlich in die eigene Tasche steckt. Ihre Mutter drängt sie zur Heirat mit dem Rock-Bad Boy Bobby Brown (Aston Sanders), mit dem sie ihre Wünsche und Sehnsucht nach Geborgenheit, Liebe und einer eigenen Familie erfüllen möchte. Am Ende bleiben nur Gewalt, Affären und Exzesse. 2012 ertrinkt die 48-jährige Sängerin unter Drogeneinfluss in einer Badewanne des luxuriösen Beverly Hilton Hotels in Los Angeles während einer Tournee. Sie hinterlässt ihre Tochter Bobbi Kristina aus der Ehe mit Bobby Brown, die später mit nur 22 Jahren den gleichen Tod wie ihre Mutter erleidet. Eine tragische Lebensgeschichte, die bereits einmal im Dokumentarfilm «Can I be me?» (Rudi Dolezal, 2017) aufgearbeitet wurde, mit authentischen Aussagen aus Whitneys sozialem Umfeld, mit Konzert- und privaten Aufnahmen. Die richtige Whitney zu erleben, ist natürlich ein unschätzbarer Vorteil. Im Biopic von Regisseurin Kasi Lemmons stehen die 80er- bis 90er Jahre im Fokus und Whitneys kometerhafter Aufstieg, ihr Film-Musical «The Bodyguard» mit Kevin Costner, ihre Songs, die ihr Leben begleiteten. Im Mittelpunkt stehen grosse Auftritte wie anlässlich des Nelson-Mandela-Tribute-Konzerts 1988 in London oder 1991 an der Super Bowl. Einer der legendärsten Auftritte Houstons wird in voller Länge gezeigt und damit ihre Bühnenmagie spürbar. Dass ihr vorgeworfen wurde, ihre Musik sei «nicht schwarz genug», wie es auch schon Tina Turner zu hören bekam, quittierte Whitney damit, sie liebe es zu singen und sie singe so, wie sie eben sei. «I Wanna dance with somebody» präsentiert glänzende Video-Ästhetik und bleibt am schönen Schein der Legende hängen. Die Aura des Pop-Stars Whitney Houston mit allen Umbrüchen und Abgründen kann er nicht abbilden.
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The Banshees of Inisherin
I.I. Ein sperriger Titel für eine sperrige Story. Sich selbst schaden, um einem anderen zu schaden und zu bestrafen? Wie abwegig ist das denn: die Quintessenz des Films «The Banshees of Inisherin» des irischen Regisseurs Martin McDonagh («Three Billboards Outside Ebbing, Missouri»), der eine dramatische Ballade von der Freundschaft zweier Männer auf der irischen Westküste der Insel Inisherin erzählt. Schritt für Schritt geht es auf die Katastrophe zu. Es geht um eine langjährige Männerfreundschaft, die zerbrochen ist, weil einer der beiden, der knorrige Colm Sonny Larry (Brendan Gleeson) dem etwas simpel gestrickten Pádraic (Colin Farrell) die Freundschaft aufkündigt. Er will einfach nichts mehr mit ihm zu tun haben, als der ihn wie gewohnt um 14 Uhr zum Pub abholen will. Pádraic kann das nicht verstehen, Colm war doch immer so nett. Nettigkeit ist nichts, was in der Geschichte zählt, meint Colm, er will wieder komponieren und musizieren und holt sich zu diesem Zweck Musiker auf die Insel. Pádraic schäumt vor Eifersucht, er stellt Colm zur Rede und wird handgreiflich. Aber Freundschaft und Liebe lassen sich nicht erzwingen. Eine bittere Wahrheit, die Pádraic nicht akzeptieren will. Colm greift zu drastischen Mitteln und droht, sich jedesmal einen Finger abzuschneiden, wenn Pádraic ihn kontaktiert. Der will seinem ehemaligen Freund die Hütte anzünden, das Dach über dem Kopf. Nettsein war gestern. Bald liegt der erste blutiger Finger vor Pádrais Tür, dann der zweite und so fort. Das stimmt ihn nicht milder und so macht er seine Drohung wahr und setzt das Haus in Brand. Colm befindet sich am Strand, wo sich die beiden Widersacher begegnen. Waffenstillstand? In Irland tobt 1923 der Bürgerkrieg, der Civil War. Eine Allegorie auf den Krieg? Die Landschaftsbilder sind berückend, das Schauspiel der beiden Männer beeindruckend, die Logik der Story? Krieg ist keine Option, ein Fingerzeig, dass es nur Verlierer gibt?
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Mrs. Harris Goes to Paris

rbr. Ein Traum von einem Kleid… Sie ist freundlich, hilfsbereit und steht mit beiden Beinen auf dem Boden, die Putzfrau, Haushaltshilfe und Witwe Ada Harris (Lesley Manville). Die Hoffnung, dass ihr Mann aus dem Krieg zurückkehrt, hat sich in den Fünfzigerjahren zerschlagen. Er starb bereits 1944. Trost findet sie bei Freundin Vi (Ellen Thomas). Ihre Lebenslust und Träume lässt sie sich gleichwohl nicht nehmen. Ein Dior-Kleid in einem Schaufenster fasziniert sie, für diesen Traum setzt sie einen Toto-Gewinn bei einem Hunderennen aufs Spiel. Wettbuchhalter Archie (Jason Isaacs) hatte sie vergebens gewarnt. Alles hin. Da kommt ihr überraschend der verstorbene Ehemann Eddie zu Hilfe: Ihr wird seine Rente ausgezahlt. Fix packt Mrs. Harris ihren Koffer, nimmt die Witwenrente und reist nach Paris, um besagtes Dior-Kleid zu kaufen. Die gutgläubige Putzfrau in der Weltstadt an der Seine platzt bei einer Modeschau in die feine Gesellschaft. Die hochnäsige Dior-Direktorin Claudine Colbert (Isabelle Huppert) hat die Engländerin zwar rüde abgewiesen, doch dem freundlichen Marquis de Chassagne (Lambert Wilson) gefällt die forsche Fremde. Er lädt sie kurzerhand ein, ihn zur Show zu begleiten. Und die kecke Putzfrau verliebt sich in das Kleid Nr. 89 namens «Versuchung».
So sind liebenswürdige moderne Märchen aus den Fünfzigerjahren gestrickt. Mrs. Harris, energisch und weltoffen, freundet sich mit dem Dior-Finanzmanager André (Lucas Bravo) an, dessen Liebe zum Modell Natasha (Alba Baptista) sie nach Herzenskräften unterstützt. Weil Mrs. Harris cash zahlt, willigt Snoby-Managerin Claudine widerwillig ein und lässt Anproben zu, um das gewünschte Kleid (500 Pfund) massgerecht anzufertigen. Obendrein hilft Ada Harris dem Haute-Couture-Haus Dior aus der finanziellen Patsche, indem sie eine Streikaktion durchsetzt und neue Marktstrategien anregt. Nach gelungenem Eingriff reist sie überglücklich mit dem Dior-Schatz heim und verliert doch…

Mehr sei nicht verraten: Ein Traum kann zwar in Flammen aufgehen, muss aber nicht erlöschen. Anthony Fabian hat sich von Paul Gallicos Roman von 1958 «Mrs. Harris Goes to Paris» inspirieren lassen. Die dritte Verfilmung dieses Stoffes ist zeitstimmig gelungen. Sein Film lebt von der Hauptdarstellerin Lesley Manville (61), die herzerfrischend und charmant als zuversichtlicher Hausgeist und gute Fee bezaubert, die aus ihrem Traum Lebenslust und -kraft schöpft. Was kann dem Modehaus Dior, das sich an der Produktion beteiligt hat, Besseres passieren als dieses Feel-Good-Märchen!

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Land of Dreams

rbr. Zerrissenes Land. Es war einmal Amerika, ein Land der Träume… In (fiktiver) Zukunft werden dort nicht mehr Träume verwirklicht, sondern gesammelt und ausgewertet. Seltsam, aber denkbar. Jean-Claude Carrière, langjähriger Drehbuchautor des Filmmeister Luis Buñuel, hat diesen Gedanken in eine Geschichte gepackt. Shirin Neshat und Shoja Azari, beide im Iran geboren und in New York sesshaft geworden, haben mit ihm bis zu seinem Tod 2021 Reisen in den USA unternommen. Aus ihren Erfahrungen heraus entstand der Film «Land of Dreams», die Betrachtung eines Landes aus ausländischer Sicht.
Die junge Frau Simin (Sheil Vand) stammt aus dem Ian, floh, als ihr Vater, ein Revolutionär, von der Regierung umgebracht wurde. Sie ist in Amerika ansässig geworden, und reist im Auftrag des United States Cenus Bureau durchs Land, um Träume der Bürger zu sammeln – angeblich zum Schutz der Befragten. Dazu soll sie eine abgeschottete iranische Kolonie ehemaliger Revolutionäre quasi infiltrieren und aushorchen. Sie dringt in gesammelte Träume ein, vereinnahmt sie, schlüpft in Rollen und verarbeitet so eigene und fremde Träume – in Clips. In Farsi aufgenommen, verbreitet Simin ihre Perfomance in Social Media, die eine wachsender Anzahl iranische Follower verfolgt.
Bei ihren Aktivitäten als Traumfängerin wird sie von Alan (Matt Dillon) begleitet, Marke Easy Rider, halb Bodyguard und Bewacher, halb Freund. Und unvermutet taucht eine Jane auf, gespielt von Schauspielikone Isabella Rossellini («Blue Velvet»).

Es ist eine merkwürdige futuristische Welt im Mittleren Westen (gedreht wurde in New Mexico). Auf der einen Seite eine undurchsichtige Überwachungsbehörde mit Nancy (Anna Gunn) an der Spitze. Ein Zensurbüro, hoch technisiert, aber menschenfeindlich. Auf der anderen Seite Mark (William Moseley), ein aufrechter liberaler Amerikaner und Freigeist aus der Provinz. Dazwischen agiert Blair (Chistopher McDonald), charismatischer Führer einer Evangelikanersekte, der sich als Stellvertreter und Sprachrohr Gottes wähnt und viele Anhänger in den Bann zieht.

«Land of Dreams» – dieses Amerika ist zerrissen, scheinbar nur an den Rändern und im Privaten frei. Aussenseiterin Simin hält mit ihrer Kreativität dagegen und versucht so, ein Stück Freiheit zu schaffen. «Simin ist eine Künstlerin, eine Fotografin, eine Performerin, deren einziger Weg, um mit der Realität fertig zu werden, ist, sich in einer Fantasiewelt und in kreativer Schöpfungskraft zu verlieren», erläutert Regisseurin Shirin Nehat. In der Heldin steckt viel von der Filmerin selber – als Emigrantin, die sich nie vollständig in die amerikanische Kultur integriert habe, sagt sie. Ihr Film berührt viele Aspekte der amerikanischen Gesellschaft, etwa das Leben in den Vorstädten, das ungebremste Sektierertum, der Überwachungsstaat und gefährliche hochtechnisierte Machtstrukturen.
Der bildgewaltige «Psychotrip» beschreibt Orientierungslosigkeit und individuelle Suche nach geistiger Freiheit und kultureller Verwirklichung. Das alles ist in Ansätzen vorhanden, verliert sich aber auf Dauer. Zurückbleibt beim «Land of Dreams» ein diffuses Gefühl – wie nach einer Reise, die im Nirgendwo mündet. Das Regieteam Shirin Neshat und Shoja Azari hat zu viel gewollt.

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Ténor
rbr. Vom Rapper zum Operenthusiasten. Man kennt das amerikanische Märchen vom Tellerwäscher zum Millionär. Nun fügt sich ein französisches Kapitel hinzu: Vom Strassenrapper zum Opernsänger. Claude Zidi’s Sozialmärchen «Ténor» und sein Hauptakteur BM 14 machen’s möglich. Antoine (MB14 alias Mohamed Belkhir) wächst in den Pariser Banlieus auf. Sein Bruder (Rachid Guellaz) schlägt sich mit illegalen Boxkämpfen durch. Antoine jobbt als Sushi-Austräger, soll aber was Besseres werden, meint die Familie. Er besucht einen Buchhalterkurs, doch seine wahre Leidenschaft ist die Musik. Er hat sich im Quartier bei Rap-Battles Respekt verschafft. Wie der Zufall so will, liefert er eine Sushi-Bestellung in die Pariser Oper, wird von einem arroganten Studenten (Oscar Copp) angemacht, und schmettert selber eine Arie vor dem versammelten Gesangskurs. Die Gesangslehrerin, Madame Marie Loyseau (Michèle Laroque), ist hingerissen und versucht, das Talent von der Strasse für die Oper zu begeistern. Antoine fängt Feuer und besucht heimlich einen Gesangskurs, unterstützt von Sängerin Joséphine (Marie Oppert) und einem Profi (Opernsänger Roberto Alagna). Der Rapper, der ein Doppelleben führt, verletzt ungewollt die Soldatin Samia (Maéva El Aroussi), die ihn anhimmelt. Freunde und sein Bruder ächten ihn, glauben, dass er sein Milieu verraten hat.
Claude Zidi jr. schlägt in seinem Melodrama gekonnt Molltöne an, laviert zwischen der rauen dunklen Vorstadt und dem vergoldeten Musentempel, der Opéra Garnier in Paris, zwischen zwei Musikstilen, zwischen Herz und Schmerz. Was könnte dazu besser dienen als Arien wie «Nessun dorma» aus «Turandot» oder «La Donna è mobile» aus «Rigoletto», die unter die Haut gehen. Eine Achterbahn der Gefühle und des Gesangs, ein bisschen kitschig und dramatisch, eben märchenhaft wie eine Oper.

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Rumba
rbr. Hüftschwung. Die Alten holen auf…im Kino. Da schwingt ein «Opa» das Tanzbein, um die Stelle seiner verstorbenen Frau in einer Ballettkompanie anzutreten: «Last Dance», eine Romanze, die auf der Piazza Grande in Locarno begeisterte.
Nun wagt sich ein anderer Mann im fortgeschrittenen Alter aufs Tanzparkett. Tony (Franck Dubosc), Buschauffeur um die 50, hat seine Tochter nach der Geburt weggegeben und aus den Augen verloren, aber nicht aus dem Sinn. Nach einer Herzattacke besinnt er sich und macht sich im wahrsten Sinn des Wortes auf die Socken. Er spürt Maria (Louna Espinosa) nach, die als Tanzlehrerin arbeitet. Er meldet sich bei seiner Tochter als Tanzkandidat an, natürlich inkognito. Rumba und andere Tanzschritte beherrschen nach und nach sein Leben. Am Ende will Maria mit ihm ein Tanzturnier bestreiten. Finden sich Vater und Tochter?
Franck Dubosc (Regie) macht nicht nur gute Figur in dieser romantischen und anrührenden Komödie, sondern wirbt gleichzeitig für Tanz als Lebenselixier und ermuntert, aus der Rolle zu fallen, sich einer verdrängten Vergangenheit zu stellen, Leben und Beziehungen zu bereichern. Der deutsche Titel «Mit Hüftschwung durchs Leben» unterstreicht das etwas platt. Gleichwohl fühlt man sich am Ende gut. Da darf es auch ein bisschen kitschig und märchenhaft sein.
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AEIOU – Das schnelle Alphabet der Liebe
rbr. Eine Liebe, die den Rahmen sprengt. Älterer Mann nimmt sich eine junge Frau – diese Konstellation kennt man zur Genüge. Ältere Frau und junger Mann verlieben sich – das ist seltener im Kino. Kalter Kaffee oder interessant? Bestimmt, wenn Sophie Rois von der Partie ist. Die österreichische Schauspielerin, die vor allem als Bühnenkünstlerin (Volksbühne, Deutsches Theater Berlin), aber vom Kino («Wir können auch anders») bekannt ist, wagt im Liebesdrama «AEIOU» einen Balanceakt.
Nicolette Krebitz (Regie und Buch) schickt Anna (60), verkörpert von Sophie Rois, auf eine Parforcetour der Gefühle. Anna, einst als Schauspielstar gefeiert, einsam, hat offensichtlich ihre besten Jahre hinter sich, lebt zurückgezogen und pflegt intensiv Kontakt nur mit ihrem verständigen Freund und Nachbarn Michel (Udo Kier). Bis zu einer nachhaltigen Begegnung: In einem Berliner Lokal wird ihr die Handtasche gestohlen. Abharken? Szenenwechsel. Anna soll als Stimm-Coach einem jungen Mann bei seiner Sprachstörung helfen: Es ist Adrian (Milan Herms), der Handtaschendieb. Über Sprachübungen etwa Konsonanten-Übungen, eben «AEIOU» kommt man sich näher. Anna verliebt sich in ihren Schüler. Und nun? Das Paar hat nur noch eines im Sinn: sich selbst und die Liebe. Die Zwei nehmen reissaus und reisen ans Mittelmeer – mittellos. Sie schlagen sich an der Cote d’Azur mit Gelegenheitsdiebstählen durch. Hemmungslos, kriminell, frei, unverfroren, bis ihnen ein Schmuckstück zum Verhängnis wird.
Hinter dem sperrigen Titel «AEIOU» – wer denkt ans Alphabet, wäre da nicht der Untertitel – verbirgt sich eine rollensprengende Liebesgeschichte, die scheu beginnt und sich zu einer Spirale hochschaukelt. Der faszinierenden Sophie Rois nimmt man ihre Leidenschaft gern ab wie auch ihrem jungen Gegenpart Milan Herms. Prickelnd und optimistisch. Die Liebe erlöscht nie.
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Der Passfälscher
rbr. Anpasser in der Not. Selten ist ein Spielfilm so unter die Haut gegangen wie Maggie Perens Drama um einen jungen jüdischen Mann in Berlin im Jahr 1942. Cioma Schönhaus (Louis Hofmann) lebt in einer grosszügigen, grossbürgerlichen Wohnung zu Berlin. Allein. Seine jüdischen Eltern und Grossmutter wurden von den Nazischergen «einkassiert» und in eines der Vernichtungslager im Osten deportiert. Cioma wurde «verschont» und dienstverpflichtet für einen Rüstungsbetrieb. Die elterliche Wohnung wird eng, auch weil Cioma seinen untergetauchten Freund Det (Jonathan Berlin), auch er ein Jude, bei sich aufnimmt und Frau Peters (Nina Gummich – grandios mit harscher Härte und Herz), die energische Verwalterin, die stur ihre Regeln verfolgt – auch eine Überlebensstrategie – , drangsaliert den verbliebenen Schönhaus, veräussert auch mal das Inventar der Schönhaus-Familie. Dazu schnüffelt der Kriminalbeamte Dietrich (André Jung) herum, auch er ist nicht ganz sauber.
Der unscheinbare Cioma, der wie ein idealer Deutscher aus dem Arierbuch aussieht und entsprechend verhält, hat mal ein paar Semester auf einer Kunstschule zugebracht und scheint zeichnerisch sehr begabt. Davon erfährt ein gewisser Widerstandskämpfer namens Franz Kaufmann (Marc Limpach) im Untergrund. Der heuert ihn als Ausweisfälscher an und entlohnt ihn mit Essensmarken. Scheinbar unbehelligt lebt Ciona ein Leben, als ginge ihn die Judenhatz nichts an. Frech und forsch besucht er mit Freund Det ein feines Tanzlokal – in Marineoffizieruniform. So begegnet er Gerda (Luna Wedler), auch sie eine Jüdin, die gefährdet ist, und verliebt sich.
Samon «Cioma» Schönhaus war kein Luftikus, sondern ein Anpasser in der Not und Überlebenskünstler, der seine Gefühle extrem kontrollierte und sich seine innere Freiheit bewahrte. Maggie Perens Spielfilm basiert auf der Autobiografie des «Passfälschers» und konzentriert sich auf diesen tolldreisten Charakter. In Louis Hofmann fand sie den idealen Darsteller, der mit Nonchalance und anmassend unverfroren durchs Dickicht des Naziverfolgungswahn lavierte. Die Leichtigkeit, die er dabei an den Tag legt, und die Aussparungen (keine Hatzaktionen, eher beiläufige Festnahmen, keine Gewalt- oder Kriegsszenen mitten im Krieg) steigern die Ungeheuerlichkeit dieser Zeit, die Angst der Bedrohten. Ein bedrückender Film, der fassungslos und betroffen macht.
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Die Goldenen Jahre
rbr. Beziehungsclinch der Pensionäre. Die Besetzung lässt sich hören und sehen: Stefan Kurt muffelt als unzufriedener Ehemann Pete herum, Ueli Jäggi bestärkt ihn als verwitweten Busenfreund Heinz, und Esther Gemsch möchte eigentlich als Alice dem neuen Leben als Pensionärin frisch-fröhlich frönen. Man ahnt es: Da läuft etwas schief auf der Kreuzfahrt mit der Costa Smeralda, die Alice zur Belebung des eingetrockneten Ehelebens plante. Doch ihr Gatte lädt Freund Heinz, frisch verwitwet, zum Trost und zur Belebung der Zweisamkeit ein. Das passt Alice ganz und gar nicht in den Urlaubplan, vor allem auch weil die beiden Kumpels so sehr zusammenspannen, dass die Dritte im Bunde sich ausgeschlossen fühlt. Und so kommt es, dass Alice nach einem Landausflug in Marseille verschwindet. Das merken die Mannsbilder aber erst an Bord. Alice hat sich selbständig und auf die Suche nach dem verheimlichten Liebhaber ihrer verstorbenen Freundin Magalie gemacht, die eben mit besagtem Heinz verheiratet war. Sie nimmt es Wunder, wie denn Magalies Affäre aussieht. Dass sie unterwegs auf ein hippiges Camper-Ehepaar (Gundi Ellert und Anré Jung) trifft und Lebenslust tankt, bestärkt sie in ihrem Bestreben, eine neues befreites (?) Kapitel aufzuschlagen.
Petra Volpe («Die göttliche Ordnung») schrieb das Drehbuch, und Barbara Kulcsa führt Regie in dieser netten Beziehungskomödie. Bisweilen recht flott (was besonders Esther Gemsch als «Fremdgängerin» Alice betrifft, oft aber behäbig und bieder, was die Herren angeht. Da wünschte man sich etwas mehr Pfeffer und Spritzigkeit beim Altersclinch. Das Techtelmechtel auf Kreuzfahrt mündet in einem gut schweizerischen Kompromiss. «Die Goldenen Jahre» finden wohl erst nach dem Film statt.
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Im Westen nichts Neues
rbr. Orgie des Grauens. In seinem Roman «Im Westen nichts Neues» (1929) verarbeitete Erich Maria Remarque Erfahrungen aus dem Ersten Weltkrieg. Das Buch gilt als Antikriegsklassiker. Erstmals wurde es 1930 von Lewis Milestone verfilmt: «All Quiet on the Western Front», von Nationalsozialisten verteufelt und bekämpft. Es passte schlecht zum grassierenden Nationalismus – wegen seiner «verräterischen und entschieden unheroischen Darstellung des Krieges» (so die Nazis). Neun Jahre später brach Hitler den Zweiten Weltkrieg vom Zaun. Und wieder zogen wie schon 1914 Soldaten begeistert in das «Abenteuer Krieg».

Der Tod wütet auf dem Schlachtfeld. Verstümmelte Körper, zerfetzte Uniformen, verschreckte Gestalten hocken in dreckigen Schützengräben. Einer sammelt Erkennungsmarken von toten Kameraden ein. Hier herrscht das nackte Grauen. So beginnt das Höllendrama auf Erden: «Im Westen nichts Neues» (2022). Schnitt. Jubel in einem Gymnasium: «Wir ziehen in den Krieg für Gott, Kaiser und Vaterland!» Wer glaubt’s noch im Kriegsjahr 1917? Der 17jährige Paul Bäumer (Felix Kammerer) und andere Altersgenossen folgen blind und euphorisch dem Kriegsruf-Aufruf. Nach wenigen Tagen werden sie an der Westfront mit der Realität konfrontiert. Die Männer krepieren wie die Fliegen – im Inferno der Kanonen, Granaten, Kugeln, infolge von Gasangriffen: die Apokalypse auf Schlachtfeldern. Bäumer und sein ausgefuchster «Schirmherr» Stanislaus (Albrecht Schuch) schlagen sich durch, hoffend auf einen Waffenstillstand 1918. Man nutzt jede Stunde in der Etappe, also im Feindesland, und nimmt, was man kriegt, auch mal Federvieh beim Bauern. «Paul, du hast `ne Gans gestohlen», klingt es. Eine verhängnisvolle Episode 1918.
Die Szenenwechsel, die Regisseur Edward Berger einstreut, wollen auch das zivile und militärisch-politische Umfeld einbeziehen. Das überzeugt weniger, was die politisch-strategische Bühne angeht. Sowohl die Auftritte des feisten Generals Friedrich (Devid Striesow), der sich in der Etappe suhlt und seine Truppen verheizt, als auch der deutschen Delegation unter Matthias Erzberger (Daniel Brühl), die versucht, mit den Franzosen einen Waffenstillstand zu schliessen, wirken aufgesetzt, sind eigentlich überfällig.

Die erste deutsche Verfilmung des Remarque-Romans entstand als Netflix-Produktion grösstenteils in Tschechien. Berger schildert das Gemetzel, Leiden und Verenden aus schmutziger Opferperspektive. In seinem Drama gibt es keine Helden. «Die Menschen sind Bestien» heisst es einmal. Und was sie anderen Menschen antun, diktiert von oben, zeigen die drastischen Szenen aus dem Schlachthaus Krieg eindrücklich, schmutzig, kaum ertragbar. Diese Bilder brennen sich ins Gedächtnis ein. Sie schockieren, entsetzen, mahnen, aber sie werden kaum helfen, den Wahnsinn zu beenden.
Wieder versucht ein Film, unabhängig von dem Überfall auf die Ukraine, den Wahn- und Unsinn eines Krieges anzuprangern. So oder so bleibt ein bitterer Beigeschmack zurück. Das monumentale Antikriegsepos wurde von Deutschland bei den Oscar-Nominationen angemeldet. Nach erster Kinoauswertung wird der krasse Film im November ins Netfix-Programm aufgenommen.

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Der Traum vom grossen blauen Wasser

rbr. Verlust der Heimat der Energie zuliebe. Wie kam es dazu, dass es so gekommen ist – diese und ähnliche Fragen haben ihn immer wieder beschäftigt? Was passiert mit Menschen, denen etwas passiert, die sich zurechtfinden müsse – mit neuen Umständen, geografischen und sozialen Herausforderungen? Solche Probleme, Konflikte, Auseinandersetzungen haben den Kulturschaffenden Karl Saurer aus Einsiedeln gefordert, getrieben und motiviert. Wie sehr ihn das Innerer der Schweiz, und nicht nur der Innerschweiz beschäftigt hast, zeigt wegweisend sein Film «Der Traum vom grossen blauen Wasser». Er hat sich auf die Spuren des Wassers und der Menschen gemacht, die dazumal vom Projekt Stausee bei Einsiedeln betroffen wurden. Es waren 1700. «Je genauer ich mich dieser Geschichte, nein, je intensiver ich mich dieser Geschichte zugewandt habe, desto mehr habe ich erkannt, dass hier ja eine Kette von Abhängigkeiten bestand», erklärte Sauer in einem Interview 1993. «Also, dass das, was mit dem Strom passiert, nämlich, dass die Region hier für diesen Rohstoff, eigentlich für das Wasser, das sie liefert für die Stromgewinnung, nicht angemessen entschädigt wird, das ist nur ein letztes Glied in einer Kette.»
Kein Jetzt ohne Gestern. Keine Gegenwart ohne Vergangenheit. Karl Saurer suchte unter der Oberfläche den Nährboden, die Wurzeln, das Entstehen. Schwyzer Auswanderer mussten aufgrund der Stauseepläne (Sihlsee) ihre Heimat aufgeben– mit Segen und Subvention der Heimatgemeinden. Sie bauten etwa in Nebraska eine neue Heimat auf. Das hat der aufmerksame Zeitbeobachter Saurer sehr eindringlich und bewegt in seinem Film «Steinauer, Nebraska. Geschichten um Gewinn und Verlust» dokumentiert.
Eine Mehrheit hat eine Minderheit diktiert, hat sie gezwungen, eine neue Existenz zu finden und aufzubauen. Der Rohstoff Wasser ist heute mehr denn je im Gespräch. Dazumal haben die SBB mit der Wasserkraft aus dem Sihlsee ihren Betrieb «gefüttert» und tun es noch heute. Fast prophetisch hat Karl Saurer das bereits vor fast dreissig Jahren erkannt: «Vielleicht hat der Rohstoff Wasser auch eine andere Bedeutung, eine andere Qualität.» Energiepolitik war schon früher ein Thema, ebenso die Spannung zwischen Stadt und Land. Sie hat nicht abgenommen! «Ja», meinte Saurer bereits 1993 in einem Interview, «die Brücke lässt sich mit meinem Film von der Energiewirtschaft und anderen Gebieten schlagen, wo Konflikte zwischen Ökologie und Ökonomie ausgetragen werden.»

Die grosse Stärke des Films ist es, dass Saurer Betroffene und Engagierte zu Worte kommen lässt. Er schildert die Geschichte von unten. Saurers «Fragmente und Fundstücke einer Hochtal-Geschichte» sind brennend aktuell. Demnächst soll über einen Pachtvertrag abgestimmt werden. Der restaurierte Dokumentarfilm unternimmt nach der Uraufführung 1993 eine zweite Schweizer Reise von Einsiedeln bis Bern und Biel. Die Nachfrage nach dem restaurierten Film ist überraschend gross, weiss Elena Hinshaw Fischli, Saurers Lebensgefährtin.

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to be continued

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