FRONTPAGE

«Filmfestival Locarno: Dialoge der Filmwelten auf der Piazza»

Von Rolf Breiner

Im August blickt die Filmwelt gespannt zum 66. Festival del film Locarno vom 7. bis 17. August 2013. Tausende strömen dann wieder ins schönste Freiluftkino der Welt auf der Piazza Grande, um sich von bewegten Bildern bewegen zu lassen. An elf Tagen sind auch Entdeckungen im internationalen Wettbewerb zu machen, im Concorso Cineasti del presente oder in der Filmkritikerwoche, beim Wiedersehen mit exzellenten Filmen von Werner Herzog (Ehren-Leopard) oder der Retrospektive von Star-Regisseur George Cukor (1899-1983) mit «My Fair Lady» oder «Let´s Make Love» (1960).

Anfang August sind sie wieder losgelassen auf der Piazza Grande – die begehrten Leoparden für die Filmschaffenden. Im Laufe der letzten Jahre fielen sie gleich rudelweise ein, die Leoparden und andere Auszeichnungen am Lago Maggiore – vom Excellent Award an den Schauspieler Sir Christopher Lee, dem Livetime Achievement Award an Jacqueline Bisset oder den Ehren-Leoparden an Regisseur Werner Herzog.

In der Schweiz ist Locarno das grösste Filmfestival, was Aufmerksamkeit und Publikumsinteresse betrifft. International betrachtet, kokettiert Locarno damit, das kleinste unter den grossen Filmfestivals wie Cannes, Venedig und Berlin zu sein. Aber auch das kleinste muss sich gross anstrengen, um sich nicht das Wasser, sprich Filme von den Grossen, abgraben zu lassen. Festivalpräsident Marco Solari, der seit 13 Jahren den Festivaldampfer steuert und mit Energie (sprich Finanzen und Motivation) versorgt, weiss um den ewigen Kampf ums Geld. 12 Millionen Franken beträgt in diesem Jahr das Budget, und es müsste auf 15 bis 20 Millionen in ein paar Jahren wachsen, meint Il Presidente.

 

Stärkung der Minderheit – Stärkung der Schweiz

An einer Pressekonferenz im Vorfeld des Locarneser Grossereignisses, das längst weit über den Lago Maggiore und Ticino hinaus strahlt, stellte er die rhetorische Frage «Wollen wir klein und niedlich sein oder die Schweiz repräsentieren?» Natürlich will er das Festival und die Schweiz stärken, «Wachstumsstrategie» heisst die Parole.

«Wir verstehen Locarno auch als kulturelle Plattform der Tessiner Minderheit. Das Tessin ist als Gastgeber selbstbewusster geworden, die politische Minderheit wurde so auch in der Schweiz aufgewertet. Und die Stärkung der Minderheit bedeutet zugleich die Stärkung der Schweiz»ist der agile Präsident überzeugt.

 

Dass so ein Festival keine einfache Sache ist, zeigt die jüngste Wechselkadenz der Direktoren. Das Gastspiel von Olivier Père war relativ kurz (drei Jahre), Frédéric Maire hielt es ein wenig länger von 2005 bis 2009. Und nun ist frisch der italienische Filmkritiker Carlo Chatrian als künstlerischer Leiter und Festivaldirektor am Ruder. Chatrian hat bereits punktuell für das Festival gewirkt (Otto-Preminger-Retrospektive). Er verspricht, einerseits das Werk seines Vorgängers fortsetzen und andererseits an die Grenzen zu gehen: «Wir wollen Schranken überwinden, wollen das Kino von gestern und das von heute in einen Dialog stellen, das unabhängige Kino mit Mainstream-Produktionen, den Dokumentarfilm mit dem Spielfilm, den Essayfilm mit dem Experimentalfilm.»

 

Die Piazza Grande mit annähernd 8000 Plätzen ist der magische Ort, Promi- und Schaubühne für diverse Preisverleihungen und Starpräsentationen. 16 Filme wurden angekündigt. Zwei davon sind Schmuckstücke aus der Filmgeschichte: «Rich and Famous» aus dem Jahr 1981 – ein Beziehungsdrama von George Cukor mit Jacqueline Bisset, die auch in Locarno sein wird, und das irrsinnige Peru-Abenteuer «Fitzcarraldo» (1982) von Werner Herzog mit Klaus Kinski.

Beachtenswert und demnächst im Kino zu sehen, sind die Drogenschmugglerkomödie «We’re the Millers» mit Jennifer Aniston, «Gloria», die lebenswürdige, erfrischende Tragikomödie um eine 58-jährige (Paulina Garcia), und «Mr. Morgan’s Last Love», eine feinsinnige Seniorenliebesgeschichte mit Michael Caine (siehe auch Kurztipps).

 

Von «Mary Stuart» bis «Feuchtgebiete»

Beim internationalen Wettbewerb mit 20 Filmen mischen auch drei Schweizer Produktionen mit. Altfilmer Yves Yersin («Les petites fugues», 1979) stellt sein jüngstes Werk «Tableau Noir» vor, einen Dokumentarfilm über eine kleine Schule im Neuenburger Jura, die geschlossen wird. Der Film «Sangue» des italienischen Theatermachers und Schauspielers Pippo Delbono handelt vom Tod seiner Mutter und das Verhalten eines Terroristen. Der Luzerner Thomas Imbach befasst sich mit der schottischen Königin «Mary – Queen of Scots», basierend auf dem Roman von Stefan Zweig. Gespannt darf man auch auf die Verfilmung des Skandalhits «Feuchtgebiete» sein. Der Diplomatensohn aus Gelsenkirchen, David Wnendt («Die Kriegerin»), hat sich des Bestsellerstoffs von Charlotte Roche angenommen – mit der Tessinerin Carla Juri («Stationspiraten», «Eine wen iig, dr Dällebach Kari») in der Hauptrolle.

 

Überhaupt, die Schweizer markieren Präsenz: auf der Piazza mit «Les grandes ondes (à l’quest)» von Lionel Baier und «L’experience Blocher» von Jean-Stéphane Bron über den Wettbewerb, wie erwähnt, bis zu den Pardi  di domani. In der Sektion Appellations Suisse 2013 sind 13 Werke wiederzusehen – von dem zu wenig beachteten Dokspielfilm «Annelie» über das wunderbare Schauspiel- und Musikerporträt «Harry Dean Stanton: Partly Fiction» bis zum Polit-Liebesdrama «Verliebte Feinde». In memoriam Jacqueline Veuve werden zwei Filme aufgeführt: «Les freres Bapst, Charretiers» (1989) und «Le petite dame du capitole» (2005).

 

Sieben Filme – sieben Welten

Ein sicherer Wert im Festivalprogramm ist die Semaine de la critique (Filmkritikerwoche) seit 14 Jahren. Sieben Filme – sieben sehr unterschiedliche Themen und Welteinsichten. Da nimmt einer gnadenlos und kundig die Banken- und Finanzwelt auseinander: «Master of the Universe».

Der Schweizer Luc Schaedler beschreibt drei Beispiele wirtschaftlicher Entwicklung und Brüche in China sowie die Auswirkungen auf Menschen: «Watermarks». Samen, vorweg eine Frau, kämpfen in der russischen Tundra um ihre Lebensart, ihre Lebensbedingungen: «Die Hüter der Tundra». Strassenkehrer in Rotterdam: René Hazekamp hat sie begleitet: «De Onplaatsbaren» (The Unplaceables). Sie war weit über 60 Jahre alt, als sie ins Klosterleben eintrat. Die 85jährige Esthin Ksenya lebt heute im russisch-orthodoxen Konvent in Jerusalem und erzählt aus ihrem wechselhaften Leben: «Flowers from the Mount of Olives».

Weitere Filme in der Semaine-Auswahl: «Earth’s Golden Playground» – die Schatzsuche professioneller «Wühlmäuse» heute, und «Big Men» – die Dokumentation grosser Player auf dem globalen Erdölmarkt.
Für Cineasten mit viel Zeit sind Locarnos Retrospektiven immer wieder ein Highlight – diesmal werden rund 50 Werke des Hollywood-Regisseurs George Cukor (1899-1983) gezeigt, Filme wie «Camille» (1936), «Gaslight» (1944), «A Star Is Born» (1954), «My Fair Lady» (1964) oder «Justine» (1969). Und natürlich sind auch die Filme Werner Herzogs, des Ehren-Leoparden-Trägers 2013, in Locarno zu sehen: «Kaspar Hauser – Jeder für sich und Gott gegen alle», «Aguirre, der Zorn Gottes» oder «Nosferatu» beispielsweise. Daneben aber auch Werke, die bei uns wenig Beachtung fanden, etwa die Porträtreihe «Death Row II».

Locarno im Filmfieber stimmt sich vorweg mit zwei Filmklassikern ein. Für Einheimische und Feriengäste geht’s früher auf der Piazza Grande los: «Der Garten der Finzi Contini» (1970) von Vittorio De Sica am Sonntag,

4. August, und Roman Polanskis «Chinatown» am Dienstag, 6. August, um 21.30 Uhr – gratis.

www.pardo.ch

 

 

Nachtrag Filmfestival Locarno:
Die Preisträger von Locarno 2013

 

Goldener Leopard für den besten Film: «Historia de la meva mort» von Albert Serra

Spezialpris der Jury (Silberner Leopard): «E agora? Lembra-me» von Joaquim Pinto

Beste Regie: Hong Sang Soo für «U ri Sunshi»

Beste Darstellerin: Brie Larson in «Short Term 12» von Destin Cretton

Bester Darsteller: Fernando Bacilio in «El Mudo» von Daniel  und Diego Vega

Publikumspreis: «Gabrielle» von Louise Archambault

Goldener Leopard / Preis George Foundation (Nachwuchs): «Manakamana» von St. Spray und P. Velez

Fipresci-Preis der Filmkritik: «E agora? Lembra-me» von Joaquim Pinto

 

 

 

Kommentar.

Feucht- und Fluchtgebiete

Von Ingrid Isermann

 

Das Feuilleton feiert landauf landab innerhalb und ausserhalb der Landesgrenzen eine neue Schweizer Entdeckung. Kommentatoren vergleichen sie mit Marilyn Monroe (Wuschelkopf) oder Audrey Hepburn (Rehaugen). Carla Juri,  die in der Verfilmung «Feuchtgebiete» der mädchenhaft versponnenen Autorin Charlotte Roche, 35, die Hauptrolle spielt, erinnert mit ihrer burschikosen Art eher an Jean Seberg in «Bonjour Tristesse» von Françoise Sagan, dem seinerzeitigen Enfant terrible der Literaturszene, oder an die Ausstrahlung der jungen Ingrid Bergman in «Wem die Stunde schlägt» nach dem Roman von Ernest Hemingway. Doch erreicht «Feuchtgebiete» nicht jene Tiefendimensionen, da die Protagonistin niemand als sich selbst schadet.

 

Mit Eifersucht, Einsamkeit, Adoleszenz und Aufmerksamkeitssyndrom hat die Protagonistin der «Feuchtgebiete» zu kämpfen, die, bis aufs Blut gepeinigt, schamlos ihre unappetitlichen Obsessionen enthüllt. Im Roman ist die Hauptperson Helen eine pubertäre 18-jährige, Carla Juri zählt 28 Lenze und könnte gleichwohl auch das unschuldige Heidi verkörpern. Was nicht zuletzt in diesem Film wirklich unter die Haut geht, ist die subtile, fintenreiche Kameraführung und die expressive farbliche Symphonik des Regisseurs David Wnendt, der schon für sein einfühlsames Jugenddrama «Die Kriegerin» Lorbeeren holte, das hierzulande leider keinen Filmverleih fand.

 

Carla Juri wird mit diesem Film einem breiteren Publikum im Gedächtnis bleiben, scheinbar unversehrt übersteht sie die Hygieneakattacken ihrer selbst beigebrachten Blessuren. Ob sie ein schauspielerischer Sonderfall aus der Schweiz ist, wird sich zeigen. Doch so bodenständig, wie die Tessinerin aus Abri schon Eishockey spielte, ihre Schauspielkarriere zielstrebig mit Abstecher u.a. in L.A. plante, und bereits Schweizer Filmpreise einheimsen konnte, wird sie so schnell nichts umwerfen, mit Matchball-Vorteil für ihre weitere Karriere. Die Nebenfiguren sind mit Axel Milberg als miesepetrigem, spiessigem  Vater und Meret Becker als bigotter Mutter besetzt. Soviel (mentale) Hässlichkeit ist tatsächlich schwer auszuhalten und insofern ist die lädierte Persönlichkeitsstruktur der authentisch dargestellten Hauptfigur nachvollziehbar.

Kinostart ab 29. August 2013

 

 

 

Piazza Grande 2013

Beginn: 21.30 Uhr. Zweitfilme jeweils gegen 23.30/24.00 Uhr

 

Mittwoch, 7. August 2013

«2 Guns»  (USA 2013) von Baltasar Kormákur mit Denzel Washington, Mark Wahlberg

 

Donnerstag, 8. August 2013

«Vijay And I»  (USA 2013) von Sam Garbarski mit Moritz Bleibtreu, Patrcia Arquette

 

Freitag, 9. August 2013

«La Variabile Umana» (The Human Factor,Italy 2013) von  Bruno Oliviero mit Silvio Orlando, Giuseppe Battiston

 

«Working Cops»  (F/USA 2013) von Quentin Dupieux mit Mark Birnham, Marilyn Manson

 

Samstag, 10. August 2013

«We’re the Millers»  (USA 2013) von Rawson Marshal Thurber mit Jason Sudseikis, Jennifer Anaston

 

«The Keeper of Lost Causes – Jussi Adler-Olson»  (Schweden/Deutschland 2013) von Mikkel  Nǿrgaard mit Nikolai  Lie Kaas, Fares Fares

 

Sonntag,  11. August 2013

«Les Grandes Ondes»  (Schweiz/F 2013) von Lionel Baier mit Valérie Donzelli, Michel  Vuillermoz

 

«Rich and Famous»  (USA 1981) von George Cukor mit Jacqueline  Bisset, Candice Berger

 

Montag, 12. August 2013

«Gabrielle» (Kanada2013) von Louise Archambault mit Gabrielle Marion-Richard Alexandre Landry

 

Dienstag, 13. August 2013

«L’expérience Blocher»  (Schweiz 2013) von Jean-Stéphane Bron, Dokumentarfilm

 

Mittwoch, 14. August 2013

«Gloria»  (Chile 2012) von Sebastián Lelio mit Paulina Garcia, Sergio Hernández

 

Donnerstag, 15. August 2013

«Mr. Morgan’s Last Love»  (Deutschland 2013) von Sandra Nettelbeck mit Michael Caine, Clémence Poésy

 

«Blue Run»  (USA 2013) von Jeremy Saulnier mit Macon Blair, Devon Ratnay

 

Freitag, 16. August 2013

«About Time»  (GB 2013) von Richard  Curtis mit Domhnal Gleeson, Rachel MaAdams

 

«Fitzcarraldo»  (Deutschland 2013) von Werner Herzog mit Klaus Kinski, Claudia Cardinale

 

Samstag, 17. August 2013

«Sur le chemin de l’école»  (USA 2013) von Pascal Plisson, Dokumentarfilm

 

 

 

 

 

Rückblick auf das 66. Filmfestival Locarno

Viel Kunsthandwerk, viel Volk und viel Lärm um Feuchtgebiete und Blocher

 

Von Rolf Breiner

 

66. Filmfestival Locarno – Ein neuer Direktor, aber keine Umwälzungen, sondern Kontinuität: Carlo Chatrian lotete zwar Grenzen aus, verstärkte aber das Bekenntnis zur siebten Kunst und förderte das Popkino auf der Piazza. Ein seltsamer Kunstfilm aus Spanien wurde mit dem Goldenen Leoparden bedacht, der Casanova und Graf Dracula zusammenführt: «Historia de la meva mort».

 

Direktor Carlo Chatrian wie auch Präsident Marco Solari waren am 66. Festival del film Locarno (7. bis 17. August 2013) omnipräsent. Man bemühte sich sehr – um Filmschaffende, Mitwirkende, Stars und die Gäste von Sponsoren, die allabendlich zu Hunderten im Karawanenstil auf die Piazza Grande einmarschieren oder besser promenierten. Da kommen sich manche regulären, sprich zahlenden Besucher auf den Arm genommen vor, denn allzu oft bleiben viele Plastikstühle im inneren Kreis der Piazza leer. Sponsoren – schön und recht, aber diese VIP-Massen nehmen ein Ausmass an, welches fragwürdig und ärgerlich ist.

 

Schatten und Lichter auf der Piazza

Enorme Ausmasse nehmen auch die Showparaden abends vor den Filmaufführungen auf der Piazza Grande an. Am Eröffnungsabend beispielsweise dauerte die Vorstellung von Jurys, Filmern und mehr so lange, nämlich knapp eine Stunde, bis dann der Regen einsetzte.

An anderen Abenden sorgten Zeugen der Filmgeschichte wie die Schauspieler Christopher Lee und Jacqueline Bisset oder Filmer Werner Herzog für emotionale Piazza-Höhepunkte. Vor allem das Wiedersehen mit dem sagenhaften Amazonas-Abenteuer «Fitzcarraldo» von Herzog aus dem Jahr 1982 zog in den Bann. Die Sponsorengäste waren längst verschwunden, als Klaus Kinski – unübertroffen besessen ein Schiff über den Berg schleppen liess, angehimmelt von Claudia Cardinale. Auch nach über 30 Jahren ist diese verrückte Oper-Aktion jeden Filmmeter wert und das über eine Strecke von 2 Stunden 40 Minuten. Eine Entdeckung am Festival waren zudem die Dokfilme von Werner Herzog über Kandidaten in den US-Todeszellen, «Death Row II», für den Discover Channel in den USA produziert.

 

Einmal mehr war das unvergleichliche Openair-Kino auf der Pizza Grande Attraktion und Anziehungspunkt Nummer eins. Absolutes Publikumshighlight war die Doppelvorstellung am Samstag, 10. August, mit 7600 bzw. 4100 Zuschauern (zweiter Film). Man amüsierte sich köstlich über eine Patchwork-Familie («We’re the Millers»), die eine dicke Ladung Drogen von Mexiko in die USA schmuggeln soll. Ein witziges Roadmovie, das bisweilen über die Stränge schlägt, aber zielgerecht auf Familiensinn setzt. Der Zweitfilm an diesem Abend war von härterer Natur. Mikkel Nórgaard verfilmte einen Bestseller-Thriller des Dänen Jussi  Adler-Olsen: «The Keeper of Lost Cause». Ein Ermittlerduo stochert in abgelegten ungelösten Fällen und stösst auf eine verschwundene Politikerin. Spannend bis zum letzten Atemzug.

 

Für Unterhaltung, Komödien und Spannung war auf der Piazza jedenfalls gesorgt – von «2 Cops», einem schlagfertigen Body-Streifen, bis zu «About Time», einem verzwickten, doppelbödigen Liebesfilm mit Zeitsprüngen. Mit dem Prix du Public“ (Publikumspreis) wurde indes ein zärtlicher Aussenseiterfilm ausgezeichnet: «Gabrielle» der Kanadierin Louise Archambault. Das hat der Film um eine «behinderte» Liebe vor allem der Hauptdarstellerin Gabrielle Marion-Rivard zu verdanken, die sich quasi selber spielte, einen Menschen mit leichter Behinderung (Williams-Beuren-Syndrom, äusserlich sichtbar durch besondere Gesichtform und -ausdruck/Funny Face).

 

Viel Lärm im Voraus

Ein nationaler als auch internationaler Event wie das Filmfestival Locarno ist Kulturereignis, Filmer- und Kritikertreff, aber auch Showbühne und Marktplatz. Natürlich eine Fundgrube für Boulevard-Medien – speziell in der sommerlichen Saure-Gurken-Zeit. Und so stürzen sich Medienproduzenten und Reporter darauf, die meinen, sie hätten den besonderen Blick auf vermeintliche Skandälchen oder solche, die es werden sollen. Beim Titel «Feuchtgebiete» wurden zwar nicht die Augen feucht, sondern die Finger feucht beim Schreiben für eine gewisse Journaille. Ähnlich wie bei der von «Skandal-Etikette» begleiteten Bestsellervorlage von Charlotte Roche sorgte die Verfilmung für fette Schlagzeilen, auch weil eine Tessinerin die Hauptrolle übernommen hatte. Carlo Juri als triebhafte Rebellin gegen mütterlich betriebene Sauberkeitsmanie zeigte Mut und war der Rolle bis zur letzten schmutzigen, für einige Besucher ekelhaften und unerträglichen Szenen gewachsen. Wie ein Unschuldsengel stakste, sass und lag sie sich durch tabubrechende Episoden. Der deutsche Wettbewerbsbeitrag (Regie: David Wnendt) fand keine Jury-Anerkennung. Schmutzige Ideen, Phantasien und Szenen wurden, nüchtern gesehen, klinisch sauber inszeniert.

Ein Sturm im Wasserglas wurde auch um das Filmporträt «L’Expérience Blocher» von Jean-Stéphane Bron entfacht. Der hatte es doch tatsächlich gewagt, mit saftiger materieller Bundesunterstützung dem Macchiavelli der SVP, Christoph Blocher, ein Porträt zu widmen. O je – darf man Filmsubventionsgelder für eine politisch umstrittene Persönlichkeit ver(sch)wenden. Man darf und sollte es wieder tun, wenn ein Dokumentarfilmer wie Bron («Mais im Bundeshaus») sich des Brockens Blocher annimmt. Nein, er hat nicht den Polit-Machtmenschen und gewieften Unternehmer vom Sockel gestürzt, er hat keinen Glorienkranz gewunden, ist aber gescheitert beim Ansinnen, die Maske dieses Strategen und Volkstribune abzuziehen. Blocher blieb reserviert auf Distanz, lüftete nur kleine persönliche Geheimnisse, erlaubte nur wenige Momente der ungeschminkten Wahrheit, kommentierte oder beantwortete indes die Fragen des Filmers nicht. Bron selber interpretiert das Subjekt seines Films, ordnete Blocher ein, füllt die Lücken mit eigenen Einschätzungen, auch Vorwürfe. Er ist dem Menschen Blocher («ein Körper wie ein Bauer mit dem Kopf eines Kapitalisten») zwar sehr nahe gekommen, konnte aber das Geheimnis und Phänomen Blocher nur skizzenhaft erklären, nicht lüften. Und so gesteht Bron am Ende ein: «Ich überlasse Sie Ihren Geheimnissen, ich überlasse Sie Ihren Schatten.».Gleichwohl, sein Experiment Blocher, seine Erfahrungen sind auch so aussagekräftig und einen Film wert.

Schweizer Beiträge in Locarno 2013 hatten einen schweren Stand. Sie reüssierten nicht. Ein Trostpflaster erhielt Yves Yersin für seinen Dokumentarfilm «Tableau noir» mit einer lobenden Erwähnung. Angesichts mancher Filmkunstübungen und faden Beiträgen wie etwa «Sangue», dem blutleeren Dok-Beitrag aus Italien (mit Tessiner Koproduktionshilfe) über einen Anführer der Roten Brigaden stach Yersins liebevolles Porträt eines Lehrers mit Leib und Seele und über eine Bergschule am Fusse des Juras weit heraus. Der Luzerner Thomas Imbach setzte «Mary – Queen of Scots» in Szene – ambitiös, literarisch intim. Quasi ein Kammerspiel um die schottische Regentin, über die ein drohender Schatten wie ein Damoklesschwert schwebt, eben Kontrahentin Queen Elizabeth von England. Davon wird beim Kinostart im Herbst noch zu reden sein.

Immer für eine Entdeckung gut ist die Filmkritikerwoche (Semaine de la critique) mit ihren sieben Dokumentarfilmen. Hier wurde ein spannendes Werk über Reiz, Verführung und Machenschaften der Finanzwelt und ihrer Akteure mit einem Preis ausgezeichnet, der in den meisten Medienberichten gar nicht vorkommt. Den Filmkritikerpreis/Prix SRG SSR erhielt die deutsche Dokumentation «Master of Universe» des Stuttgarters Marc Bauder.

Bemerkenswert viele Filme befassten sich mit Schülern, beispielsweise «Sur le chemin de l’école» des Franzosen Pascal Plisson auf der Piazza Grande, oder Menschen auf der Schwelle zum Erwachsensein, eindrücklich etwa das japanische Liebes- und Familiendrama «Tomogui – Backwater» oder die Jugendtragödie aus Taiwan, «Shu jia zuo ye – A Time in Quchi». Filme aus dem Wettbewerb, die es kaum in unsere Kinos schaffen werden.

Und so schreitet der neue Direktor Chatrian auf dem Weg seiner Vorgänger weiter, setzt kleine Duftnoten, wagt Banales und Berührendes, aber auch Sperriges und Abseitiges wie eben den Siegerfilm «Historia de la meva mort» eine dunkle Reise, die 150 Minuten Sitzfleisch erfordert. Locarno 2013 gelingt mehrheitlich der Spagat zwischen Kunst und Kunstversuch, Unterhaltung und Tiefsinn, von den filmhistorischen Aktivitäten wie der Retrospektive George Cukor und der Hommage an den Ehren-Leopardenträger Werner Herzog ganz zu schweigen. Locarno war auch 2013 eine Seh-Reise wert.

 

 

 

Filmtipps 

«Elysium»

«Insel der Seligen» – das bedeutet Elysion/Elysium in der griechischen Mythologie. Mit «Elysium» ist in Neill Blomkamps SF-Actionbrimborium ein Hort der Superreichen gemeint, den man ausserhalb der überbevölkerten, strapazierten alten Erde errichtet hat. Ein Garten Eden sozusagen, wo man nicht altert und wo alle Krankheiten besiegt werden. Zwei Welten – zwei Klassen: Das alte Lied von den Allmächtigen und den Benachteiligten, eben den mit Armut und Elend bestraften Erdianern, stimmt das krude SF-Abenteuer laut und bombastisch an. Am Ende bekriegen sich Menschenmaschinen wie bereits in «Pacific Rim» auf futuristischer Ebene. Matt Damon mimt den gar nicht so sympathischen Märtyrer und Jodie Foster agiert als eiskalte machthungrige Ministerin. Wären Story sorgfältiger durchdacht, die Robot-Gestalten glaubwürdiger kreiert und das ganze Techno- und Kriegsspektakel weniger rüde machiavellisch inszeniert, könnte man einen tieferen Sinn in dieser Manipulations- und Überwachungsorgie sehen. Doch so reiht sich «Elysium» nur als weiterer Brocken in die Reihe der Desaster-Monumentalfilme à la Hollywood ein.

 

«Lone Ranger»

Das bombastische Kino («Man of Steel», «Pacific Rim») feiert brachiale Urständ und mittendrin eine Western-Actionfarce mit Johnny Depp als marode Rothaut. Für einmal geht es nicht unter oder über Wasser à la «Pirates of Carribean» zu und her, sondern wie in alten Zeiten durch die Prärie und durchs Monument Valley. Der greisenhafte, gewitzte Indianer Tonto (Depp) erinnert sich bei einem Rummelplatz-Gastspiel an feurige Zeiten und blendet zurück. Die stählernen «Rösser» frassen sich gen Westen durch Indianerterritorien, und mittendrin der maskierte weisse Texas Ranger (Armie Hammer) und sein Comanchen-Kumpel Tonto. Im aberwitzigen Zweieinhalbstunden-Spektakel krachen die Colts und Lokomotiven, wiehert und agiert der Hengst Silver (wie einst Jolly Jumper), treiben die Gangster ein böses Spiel und das Heldenduo Schabernack. Der ironisch-brutale Westernkracher zitiert fleissig aus der Filmgeschichte, basiert auf der TV-Serie «Tales of Texas Rangers» (1955-58) und droht, am eigenen Action-Overkill zu ersticken, inszeniert vom «Pirates»-Direktor Gore Verbinski. Wer die Depp-Piraten mag, wird auch bei den weiss-roten Sattelhelden auf seine Kosten kommen.

 

«Mr. Morgan’s Last Love»

Eine Paraderolle für Michael Caine: Der vereinsamte Wittwer Matthew Morgan (Caine) trauert in Paris seiner verstorbenen Frau nach. Ein Selbstmordversuch schlägt fehl. Neuen Lebensmut findet er in der adretten, hilfsbereiten Pauline (Clémence Poésy). Sie kümmert sich aus purer Nächstenliebe um den verbitterten Senior und erwärmt sein Gemüt. Die bittersüsse doppelte Liebesgeschichte geht ans Herz, bleibt aber auf dem Boden und hat trotz romantischer Anflüge einen bitteren Beigeschmack. Sandra Nettelbeck führte Regie und schrieb das Drehbuch – nach Vorlage des Romans «Die letzte Liebe des Monsieur Armand» von Françoise Dorner (Diogenes Verlag). Sie machte aus dem Philosophen im Ruhestand, Armand, den Amerikaner Morgen – mit Caine im Hinterkopf. Ein erfrischender Mix aus Wehmut, Mut und Liebe.

 

«The Sapphires»

Schauspieler Wayne Blaire liess sich von den wahren Sapphires inspirieren. Das waren vier Aborigines-Frauen, zwei Schwestern und zwei Cousinen, die in den späten Sechzigerjahren Karriere machten und vor US-Soldaten in Vietnam auftraten. Das australische Quartet, im Film vom irischen Absteiger Dave Lovelace (Chris O’Dowd) auf Soulkurs gebracht, findet zu Solidarität, Begeisterung und Selbstbewusstsein. Nach dem erfolgreichen Musical nun das mitreissende, etwas schräge Feel-Good-Movie «The Sapphires». Dass der Krieg dabei nicht verniedlicht wird, ist ihm hoch anzurechnen. Soul-Renaissance mit Zeitgeist.

 

 

 

 

Der Kommentar

«Monster & Müll»

Von Rolf Breiner

Wem nichts mehr einfällt, der greift zum Bewährten oder zur Fortsetzung. So geschieht es dieser Tage zuhauf: Es kommt zu bombastischen Knalleffekten, monströsen Materialschlachten und hirnrissigen Plots. Hollywood versucht auf zwei Schienen Kasse zu machen: Die alten Superhelden aus Comicwelten werden aufgefrischt und in neuen (im Grunde alten) Geschichten aufgetischt. Siehe «The Man of Steel» und andere recycelten Kinokolosse.

Auf einer zweiten Spur werden alte Spuren aufgenommen, alte Sternenstrasse wieder belebt wie beim gelifteten «Star Trek». Fortsetzungen waren und sind ein beliebtes Mittel, oft ein Erfolgsmittel.

 

Zeichen der Zeit, unserer Zeit? Oder doch nur profanes Marketing? Einer, ein Schweizer, bediente sich zwar auch alten Filmspezies, den Zombies, wusste damit aber etwas Gescheites anzufangen. Marc Forster wies in seiner «World War Z»-Apokalypse auf global-gesellschaftliche Phänomene hin: Auf Massenbewegungen, die auch Mauern oder Regime zu Fall bringen; auf den Terror von Epidemien und ihre Eindämmung; auf Jagd nach Ressourcen; aber auch auf eine Zweitklassengesellschaft, nämlich die schwache und infizierte, und die starke und possessive. welche ihren Habitus, ihre Sicherheit und Wohlstand wahren wollen. Marc Forsters Untote sind sehr lebendig und werfen Schattenbilder, die uns näher sind als uns lieb ist.

 

Doch nun steht ein Monstermachwerk an, das im Kino eine 3D-Materialschlacht vorführt, das nur eines aussagt: Alles Fremde, Ausserirdische, egal ob aus dem All oder aus Meerestiefen wie beim Katastrophenkracher «Pacific Rim», ist bösartig, bedrohend, vernichtend und nur mit Gewalt auszumerzen. Arme marode Welt!

Diesen groben Untergangs-Unfug hat Guillermo del Toro für Hollywood angerichtet, der für ein auf Oberflächenreize getrimmtes Jungpublikum bereits mit «Blade 2» und «Hellboy» fütterte. Er verwurstet alle Genres, die ihm die Quere kamen – vom Western (Faust- und Revolverkämpfe) und Eastern (Kung Fu), von Schwert- und Fantasystreifen («Aliens») bis zu SF-Action («Blade Runner») sowie Saurier-Fantasien. Wer sich von solchen Techno-Bombardements und Materialschlachten blenden lässt, wird blind für anspruchsvolle Filme, die mit unserer Wirklichkeit wirklich etwas zu tun haben! Und davon gibt es zurzeit einige. Man kann sie finden und sehen.

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