FRONTPAGE

«Cees Nooteboom: Licht überall»

Von Ingrid Isermann

 

Man kennt seine wunderbaren Geschichten, doch kennt man auch seine Gedichte? Literatur & Kunst stellt sie Ihnen vor, lichtvolle Gedichte «voll heiterer Verzweiflung», mit weiser Ironie und sinnlicher Lust geht Cees Nooteboom in seinem neuen Gedichtband «Licht überall» dem Da-Sein auf den Grund. Zum 80. Geburtstag erschienen im Suhrkamp Verlag – wir gratulieren!

 

 

Doch was dich entkräftet und verwirrt
niemand zu sein und nirgends
und dann noch jemand zu sein und hier

Lucebert, aus Berceuse

 

Das Zitat hat Cees Nootboom an den Anfang seines Gedichtbandes gestellt, eine sicherlich bedeutsame Wegmarke für den Romançier, Reiseschriftsteller und Essayisten, der zeit seines Lebens sich der Lyrik verbunden fühlte.

Gedichte, die einem Fluss ähneln, seinem leisen Murmeln im Flussbett, das zum reissenden Strom werden kann, wenn man es nicht erwartet, und was überhaupt man erwartet oder erwarten kann, zieht sich im Fluss dieser Gedichte hin wie ein endloses Band, das Anfang und Ende verbindet, geheimnisvoll und verschwiegen. Gedichte, die man sich zu Gemüte führen und dabei die ganze Welt umarmen kann.

 

 

 

Wegzehrung

Und an jenem Nachmittag liessen sie die Welt zurück.
Am Wegrand Spinifex, Tiere mit blumenähnlichen
Namen. Die Sonne war jemand, der ihnen entgegenfuhr,
erst in der Dämmerung liess ihr Wille nach,
der Weg schlich aus dem Spiegel, ein vergangenes Gefühl.

Jetzt würden sie einen Schlafplatz finden,
ihre nackten Körper in einem Raum
aufrichten ohne jeglichen Halt.
Alles selbst erdacht, einsam
wie der Anfang von etwas, Gespräch
in einer noch nicht vorhandenen Sprache.

Ein Zimmer füllen mit Dasein,
Gesten, Stimmen, Fragen.
Als sähe man zum ersten Mal einen Engel
und weiss, dass es den nicht gibt,
die Flügel zerfranst, voll Staub und Schimmel,
seine Federn zu alt für den Flug.

So etwas war es, als der Abend fiel,
der Engel kämmte seine Haare,
ordnete seine Flügel, die er nicht
ausziehen konnte, und schlief
im einzigen Bett.

 

Figur

Die Blume des Hibiskus währt nur einen Tag,
Stern aus kurzlebigem Feuer im Wechselspiel
Von Garten und Himmel, der Mann dort ein Körper,
der sich wehrt, wie jede Blume.

Was er nicht weiss: wie wahr das alles ist.
Ist diese Figur denn echt,
die da sitzt im letzten Schein der Sterne
und die Blume nicht sieht, sich verbrennt
am kalten Licht und im befristeten
Morgen Blumen aufliest vom
Schwarzen Boden und der Gewalt
des Sonnenlichts weicht?

Der Sinn der Trauer, die in ihm wuchert,
gedenkt eines Freundes, einer Freundschaft,
die ihr Mass verliert
in so viel Vergehen.

Was sitzt nun da: ein Mann oder ein Gedicht?

Der Postmann im gelben Hemd radelt zum Zaun,
bringt Welt, gibt seinen Brief ab,
einem Lebenden, weiss nichts von Trauer oder Seele.
Er sieht die roten Blumen am Boden,
sagt: es wird heiss heute,
verschwindet dann ins Licht

und dieses Gedicht.

 

 

 

Gedicht

Weißt du, wie ein Gedicht
aussehen soll?
Von unten? Von der Seite? Von hinten?
Ziffern? Lettern?
Und welcher Farbe?

Sollte es Wellen ähneln,
und wenn ja, welchen?
Meer, See, Fluss?
Muss jeder reinkönnen,
und was soll es kosten?

Ich habe Gedichte gekannt,
die waren so alt, man musste
ihnen helfen beim Überqueren.
Andere waren blind,
aber es gab auch Frauen
in der Blüte ihrer Jugend,
mit Gedanken wie Kalbsbries
und Lippen aus Testament.

Es gibt keine Gesetze,
sagte der Meister, bisweilen wieder
sind sie wie Aktien, dann wieder
wie Marzipan,
und er tanzte auf den marmornen Treppen
des Mausoleums

am Tag bevor er starb
an einem vergifteten
Sonett.

 

Eine Spur im weissen Sand

Die wir nicht sind
Die wir selbst sind.

Der über den Worten ist
der in den Worten ist.

Der neben dem Gedanken ist
der der Gedanke ist.

Wer legt die Spur
in den weissen Sand
eines Blattes?

Wer legt sie aus?

 

Cees Nooteboom, geboren 1933 in Den Haag, lebt in Amsterdam und auf Menorca. Sein Werk wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. dem Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung 2010 und dem Prijs der Nederlandse Letteren 2009. Zuletzt erschienen Briefe an Poseidon (2012), Schiffstagebuch (2011), Nachts kommen die Füchse, Erzählungen (2009).

 

 

Cees Nooteboom
Licht überall

Suhrkamp Verlag Berlin 2013
100 S., Hardcover mit Schutzumschlag
CHF 27.50. € 18.95.
ISBN 978-3-518-42391-2

 

Neuerscheinung

Ces Nooteboom

Venezianische Vignetten

Insel Bücherei Nr. 1386 2013

Aus dem Niederländischen von

Helga van Beuningen

Mit Fotografien von Simone Sassen

113 S., geb., € 13.95

ISBN 978-3-458-19386-9

 

Wer Venedig kennenlernen will, muss sich darin verirren. Ces Nooteboom lässt sich auf das Wagnis ein und findet dabei seine ganz eigene Lagunenstadt. Kleine, versteckte Wege verlocken zum Betreten, vor allem, wenn ein Schild genau das verbietet. Die Gondeln schaukeln sanft auf dem Wasser und verführen schliesslich auch den, der sich gegen solch touristischen Zeitvertreib immer gewehrt hat. In den Texten von Cees Nooteboom und den Fotografien von Simone Sassen ist eine der schönsten Städte der Welt neu zu entdecken.

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