FRONTPAGE

«Luke Gassers Bibelprojekte: Feuer auf Erden»

Von Rolf Breiner

 

In der Innerschweiz ist er eine bekannte Grösse: Luke Gasser, Bildhauer, Maler, Musiker, Sänger, Autor, Filmer – Künstler. Der 49jährige Obwaldner legt seinen zweiten Film über Jesus, seine Nachfolger und die Kirche vor: «Rabbuni oder Die Erben des Königs», dazu den reich bebilderten Grossband «Ich habe ein Feuer auf die Welt geworfen. Die Apostel-Doku».

 

Er würde sich bestens in die Reihe der Apostel einfügen – schon rein äusserlich mit seiner wilden Mähne, aber auch mit dem offenen Blick, seinem Hinterfragen und Eifer. Manche sagen ihm eine gewisse Ähnlichkeit mit dem rebellischen Niklaus Meienberg oder hintersinnigen Urs Widmer nach. Davon will Luke Gasser nichts wissen: Er ist er, Freigeist im besten Sinn – ungebunden, neugierig, wissensdurstig, provokativ, nie respektlos oder zynisch, immer verständig und engagiert.

Zwei Jahre nach seinem Film «The Making of Jesus Christ» hat der Obwaldner, geboren und aufgewachsen in Lungern, das biblische Thema um Jesus, dessen Nachfolger und die Folgen weitergeführt. Sein essayistischer Film mit Spielszenen, Statements von Historikern, Kirchenexperten und Gläubigen wie beispielsweise der Heavy-Metal-Sängerin Doro Pesch, gespickt mit Reflexionen und Dokumentaraufnahmen von Palästina bis zum Vatikan ist eine persönliche und allgemein gültige Auseinandersetzung mit einem kulturellen Vermächtnis.

 

 

Entflammt
Jesus – Mensch, Gottessohn und Erlöser – ist eine faszinierende Persönlichkeit, die nicht nur das Abendland bis heute geprägt hat – fast 2000 Jahre nach seiner Menschwerdung und Passion. «Gott haben alle Menschen in sich. Aber Jesus hat das extremste Level vorgelebt», meint die Sängerin Doro Pesch («Queen of Metal»). Jesus umgreife alle mit seiner Güte und menschlich-prophetischen Energie, ist der Kirchenkritiker Prof. Eugen Drewermann überzeugt. Von diesem Phänom, aber auch den kulturgeschichtlichen Folgen ist Luke Gasser fasziniert. Er beschreibt in seinem Rabbuni-Film den Leidensweg des Messias, liefert anschaulich und packend Facts und Figures, untersucht das Werk der Apostel und Nachfolger. Vor allem aber interessiert ihn, was Menschen für Menschen daraus abgeleitet, gefolgert und gemacht haben und stellt kritische Fragen. Jesus (hebräisch: Rabbuni – was soviel wie Mein Meister, Mein Lehrer heisst) ist Alltagsgut, gehört zum Weltkulturerbe und gesellschaftlichen Inventar, ist Gasser überzeugt. «Das Feuer brennt indessen auch nach 2000 Jahren, und dies vielleicht stärker denn je, denn kein Machtapparat kann nunmehr den Glauben der Menschen unter Androhungen von irdischen oder himmlischen Strafen einfordern. Allein aus Freiwilligkeit und Eigenverantwortung lassen wir uns heute von Jesu Botschaft begeistern und entflammen. Er hat tatsächlich ein Feuer auf die Erde geworfen. Und er hat es offensichtlich bewacht, bis es brannte», schreibt Luke Gasser über Jesus von Nazareth in seinem facettenreichen Buch.
Ein Tag wie aus dem Frühlingsbilderbuch am Zürcher Bullingerplatz. Wir trafen uns zu einem ausgiebigen Gespräch über seine Leidenschaft für den Rabbuni, über dessen Nachfolger und Bewunderer, über christliche Ambitionen, Erfahrungen mit der Schweizer Filmkulturszene und weitere Projekte.

 

Ein Riesenprojekt, Jesus und die Folgen in Wort und Bild zu fassen. Was treibt einen Odwaldner Künstler wie dich, sich in dieses kulturträchtige Thema reinzuknien, sich mit Experten und Betroffenen einzulassen?
Luke Gasser: Es ist eine Kulturangelegenheit und Faktum, dass unsere westliche Welt dadurch geprägt wurde – die Kunst, Musik, Film und mehr. Die jungen Leute wissen gar nicht, wieviel Ikonographie in machen Filmen vorkommt – von «Matrix» über «Star Wars» bis zu Werken von Martin Scorsese und Lars von Trier. Ich hatte das Glück, vom Bodenpersonal des Glaubens nie versaut worden zu sein.

 

 

Hat Dich Dein Elternhaus religiös geprägt?
Eben nicht so sehr. Das Religiöse hatte seinen Platz, aber ich wurde nicht streng katholisch erzogen. Es war einfach Teil von allem. In den Siebziger- und Achtzigerjahren war vieles von dem Thema durchdrungen – von der Verfilmung «Jesus Christ Superstar» und der Hardrockszene über Bob Dylan bis zu U2.

 

 

Vor zwei Jahren kam dein erster Jesus-Film heraus. Begann da deine religiöse Filmphase?
Nein, auch meine Filme davor spielten mit mystischen und kirchlichen Themen. Das findet sich sogar in der bronzezeitlichen Saga «Anuk – Der Weg des Kriegers», der mit einigen christlichen Symbolen spielt.

 

 

Wie hast du dir das ganze Wissen angeeignet? Hast du studiert?
Nein. Ich bin ein kompletter Autodidakt – in allem, was ich tue. Ich habe beispielsweise jede Menge Filme angesehen und analysiert.

 

 

Das heisst also: ansehen, annehmen und hinterfragen.
Genau. Das ist die autodidaktische Methode.

 

 

Ist Jesus denn so eine Art Leucht- und Lichtgestalt für dich geworden?
Ja. Jesus ist die einflussreichste Person, die auf Erden gelebt hat. Das ist ein Fakt. Es gibt 2,2 Milliarden Christen und ohne Jesus gäbe es meiner Meinung nach auch keine 1,4 Milliarden Moslems. Die amerikanische Unabhängigkeitserklärung basiert auf der christlichen Botschaft und sie hat funktioniert. Jesus ist einerseits die historische Figur, die gelebt hat, andererseits ein Prophet und Soziallehrer oder die Inkarnation Gottes. Aber das ist eine Glaubensfrage.

 

 

Wie geht denn ein Einzelkämpfer wie du an ein so belastetes und breit getretenes Thema heran. Wie hast du den ganzen Komplex bewältigt?
Ich habe nicht neu für den Film oder das Buch recherchiert. Ich wusste das eigentlich schon vorher, hatte es intus. Seit 30 Jahren verfolge ich das Thema, und du kriegst ein Gespür, einen Sinn für das Ganze. Ich hatte also Lösungsansätze, wie es gewesen sein könnte – und habe keine Widersprüche erfahren. Ich habe nichts erfunden, habe es aber frisch kombiniert und hinterfragt. Jesus war ein Jahr unterwegs. Wie hat das funktioniert? Das war ein Ansatzpunkt.

 

 

Was waren deine wesentlichen Grundlagen?
Die Apostelgeschichte, aber auch die Evangelien nach Maria und Thomas, die aus welchen Gründen auch immer nicht in den Kanon aufgenommen wurden.

 

 

Dazu hast du Eigenes hinzugefügt wie die Berichte der Augenzeugen etwa des römischen Soldaten Longinus, der Jesus am Kreuz die Lanze in die Seite stösst, deine eigene Spurensuche und Reflexionen vom erwähnten Drewermann, dem Filmer Paul Verhoeven oder dem neutestamentliche Textforscher Prof. Holger Strutwolf (Uni Münster). Dein Dank gilt auch spirituellen Partnern wie deinem Onkel Prof. Albert Gasser oder Niklaus Peter, Pfarrer am Zürcher Fraumünster. Imposant. Aber was ist mit dem Vatikan? Hat der sich verweigert?
Niemand fühlte sich beim Vatikan für dieses Filmprojekt zuständig. Ich wollte ein Interview mit einem Kardinal. Aber der Vatikan als grösste Firma der Welt hat keine PR-Abteilung.

 

 

Verweigert hat sich auch der Bund als Förderer. Warum?
Ich hatte das Drehbuch eingereicht. Es wurde abgelehnt. Begründung: Ich hätte nicht überall die Quellen sauber angegeben. Das ist nicht wahr und war einfach nur lächerlich. Auch die Innerschweizer Filmförderung hat mein Projekt abgelehnt.

 

 

Das ist doch lausig. Lag es am Thema?
Na klar. Wahrscheinlich hätte ich die bessere Chancen gehabt, wenn ich mich mit Voodoo oder dem Buddhismus befasst hätte. Mich ärgert einfach, dass etwas Neues nicht gefördert wird. Dagegen aber Horrorfilme oder Komödien. Was ist das Problem? Ständig wird man oft von Leuten beurteilt, von denen man kaum je einen Film gesehen habe.

 

 

Was läuft da falsch?
Es sind fast immer dieselben Leute, die Geld bekommen, und noch ein paar andere, damit der Schein gewahrt wird. So kann‘s nicht funktionieren – im Gegensatz zu Dänemark, das ein ganz anderes Fördersystem hat und international präsent ist.

 

 

Fühlst du dich unrecht behandelt?
Ich fühle mich persönlich nicht zurückgestellt. Mich ärgert freilich die Herangehensweise mancher Fördergremien und die Themenwahl. Ehrlich, meistens werden nur konforme Projekte gefördert. Man verhindert damit ein vielseitiges und freches Filmschaffen in der Schweiz.

 

 

Wie viel kostete «Rabbuni»?
50 000 Franken. Wenn man aber bedenkt, was «Sennentutschi» gekostet hat, nämlich mehrere Millionen Franken… Ein vernünftiges Mass sollte irgendwo dazwischen liegen.

 

 

Du hast deinen Film an verschiedenen Orten wie Chur, Sursee, Sarnen Luzern, Willisau oder Rapperswil, in Basel oder Bonstetten gezeigt. Wie war die Resonanz?
Das gemischte Publikum war bisher interessiert und begeistert. Auch von kirchlicher Seite war das Echo positiv. Wobei die meisten Funktionäre zu Hause blieben, wohl weil sie glauben, dass der Berg zum Propheten kommen sollte.

 

 

Wie geht es weiter?
Der «Rabbuni»-Film wird in stark gekürzter Fassung (60 Minuten) von den «Sternstunden» (SRF 1) am 17. Mai ausgestrahlt (10 Uhr). Im Herbst kommt mein neues Rockalbum heraus – mit anschliessender Konzerttournee in Deutschland. Ausserdem sind zwei Filme fertig: «Anuk II und III.», die im nächsten Jahr ins Kino kommen sollten. Zudem bin ich mit der Gestaltung einer katholischen Kirche im Kanton Zürich beauftragt.

 

 

Bleibst du an biblischen Themen dran?
Ich würde gern einen Film über die Gleichnisse machen und über das Thema Schuld und Sühne.

 

 

 

Luke Gasser, Sternzeichen Widder, ist seit 1999 freischaffender Filmer. Er lebt in Kägiswil, Obwalden, und hat zwölf Filme realisiert.

 

 

Aktuell:
«The Making Of Jesus Christ», (2012), Film
«Rabbuni – oder Die Erben des Königs» (2015), Film, Silvertrain Productions
«Sein Gesicht möchte ich sehen. Die Jesu-Doku», Grossband, Weltbild Verlag 2012
«Ich habe ein Feuer auf die Welt geworfen. Die Apostel-Doku», Weltbild Verlag 2015, 29.90 Franken
www.lukegasser.ch
www. rabbuni-film.ch

 

 

 

Filmtipps 

The Gunman
rbr. Who kills the killer? Schauplatz Kongo 2006. Söldner Jim Terrier (Sean Penn) erledigt im geheimen Auftrag eines Wirtschaftsunternehmens den einheimischen Bergbauminister. Die Demokratische Republik Kongo stürzt in ein Chaos und Bürgerkrieg. Tom muss das Land verlassen und kehrt acht Jahre später wieder – als Helfer einer Hilfsorganisation. Er hat seinen Killerjob an den Nagel gehängt. Doch in einem afrikanischen Land  jagen ihn drei Killer. Jemand will ihn aus dem Weg räumen. In London erfährt er, dass bereits andere Weggefährten starben. Sein direkter Auftraggeber, Felix (Javier Bardem), der sich Jims Freundin, der attraktiven Ärztin Annie (Jasmine Trinca) genähert hat, könnte ihm bei der Suche nach den Drahtziehern helfen, doch er hat eigene Interesse, dabei verliert er nicht nur Annie, sondern viel mehr. Die Hatz führt nach Barcelona und Gibraltar. Pierre Morel hat diese Actiontour mit grosser Kelle angerührt, doch sein Politthriller und Liebesdrama kann nur mässig überzeugen. Bardem («James Bond 007 – Skyfall») agiert gewohnt barbeissig und verschlagen, Sean Penn («Mystiv River») spult seinen Part als zerknitterter Jagdhund mit Routine und viel Getöse und Geballer ab, die italienische Mimin Jasmine Trinca («Miele») bleibt eine schöne Nebenerscheinung. Knalleffekte und spannende Schauplätze garantieren noch keinen packenden Actionfilm. Morels Adaption des französischen Romanerfolgs «La Position du tireur couche» von Jean-Patrick Manchette ist ein langer 115-Minutentrip zum blutigen Finale: Gnade für den Killer?
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A Little Chaos
rbr. Die Gärtnerin von Versailles. In der gepuderten höfischen Welt von König Louis XIV, sollen Ende des 17. Jahrhundert grosse bauliche Zeichen gesetzt werden. Der Sonnenkönig plant, den ganzen Hofstaat nach Versailles zu verpflanzen. Dort wird nicht nur der Bau eines prunkvollen Schlosses vorangetrieben, sondern auch eine Parkanlage, die alles bisher Dagewesene in den Schatten stellen soll. Der oberste Gartenarchitekt André Le Nôtre (Matthias Schoenaerts) sucht kreative Geister, die solches Ansinnen umsetzen können. Er stösst dabei auf die selbstbewusste Witwe Sabine De Barra, die unangepasst und unverblümt ihre Ideen an den Mann bringt – und reüssiert gegen Höflinge und Etikette. Kate Winslet spielt die Frau, die es am Hof nicht gab. Sie erhält den Auftrag, eine fantastische Brunnenanlage mit Fontänen zu schaffen. Eine emanzipatorische Reminiszenz. Der zurückhaltende Le Nôtre verguckt sich in die herbe Schönheit, die unverhofft auch mit dem Regenten ein «Rosen-Schäferstündchen» verbringt. Doch des Architekten Frau (Helen McCroy), die gern auch andere Betten aufsucht, neidet ihrem Mann die herbe Gärtnerin und sabotiert deren Arbeiten am Amphitheater. Alan Rickman, der selbst den Sonnenkönig Louis XIV. verkörpert, hat einen aparten Liebesreigen inszeniert. Die gestelzten Dialoge scheinen der Zeit angemessen, ansonsten ist die herrlich kostümierte Romanze mit komisch-höfischer Grandezza und unterdrückten Gefühlen, mit fadenscheiniger Noblesse und ehrlichem Dreck gepickt. Wer will, kann Rickmans historische Reise auch als ein geschöntes Stück Emanzipation sehen. Amüsant für Romantiker und ein Bildungspublikum.

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The Longest Ride
I.I. Um den Konflikt zwischen Berufsgattungen geht es in der Lovestory zweier Paare aus der jungen und älteren Generation nach einem Roman des Bestsellerautors Nicholas Sparks, verfilmt von Regisseur George Tillmann Jr. mit Retrospektiven auf die 30er und 40er (Nazi-)Jahre. Rodeo-Star Luke, – Scott Eastwood, Sohn des berühmten Schauspielers Clint Eastwood ist eine Entdeckung -, verliebt sich in die Kunststudentin Sophia (Britt Robertson). Zufällig werden sie nach einem romantischen Picknick Zeuge eines Autounfalls und retten den betagten Mann (Alan Alda), der schwer verletzt am Strassenrand liegt, bringen ihn ins Spital und lernen langsam seine Geschichte dank der aus dem Auto geretteten Liebesbriefe kennen. Seine grosse Liebe war eine Kunstsammlerin, mit deren modernen Gemälden er nicht viel anfangen konnte, doch ihr unverbrüchlich die Treue hielt. Auch Luke kann sich nicht vorstellen, dass moderne Kunst und Rodeo-Reiten als Herzensangelegenheiten miteinander vereinbar sind und ob sich eine Basis für eine gemeinsame Zukunft ergibt. Da kommt ihnen dank des alten Mannes der Zufall zu Hilfe, der ihr Problem lösen könnte.
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Gardenia – Bevor der letzte Vorhang fällt
rbr. Showdown. Sie sind in die Jahre gekommen, die Herren, die in Frauenfiguren und -kostüme schlüpfen. Sie zählen 65, 70 und mehr Lenze. Sie sind Stars auf ihre Weise, sind ihren oft beschwerlichen, weil gesellschaftlichen geächteten Weg gegangen und absolvieren ihre letzte Tournee. Während zwei Jahren haben sie die Show «Gardenia» auf fünf Kontinenten präsentiert. Die beiden Belgier Alain Platrel und Frank Van Laecke haben das mit fünf «Artverwandten» und einem jungen Mann zustande gebracht. Nun soll der letzte Vorhang fallen. Da stehen, sitzen, tänzeln sie nun und singen herzzerreissend beispielsweise «La Paloma». Diese Gruppe von Travestiekünstlern, Homo- und Transsexuellen im Pensionsalter lässt Glanz und Elend schillernder Leben Revue passieren. Sie erzählen von ihrer Suche nach Liebe und Identität, von Sehnsüchten, Ängsten und Einsamkeit, aber auch von ihre Verwandlungen, Doppelleben, Erfüllung und Glücksmomenten. Der Deutschkanadier Thomas Wallner hat sie begleitet, gibt den abdankenden Künstlern nicht nur eine Bühne, sondern zeigt auch ihre intimen Seiten, Gefühle und ihren Lebensalltag. Sein sehr melancholischer Film und grosser Abschied, der wehmütig stimmt.
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Pepe Mujica – el presidente
rbr. Der hemdsärmelige Präsident. Vom Bauern zum Guerrillero, vom Landmann zum Staatsoberhaupt: Pepe Mujica, heute gut 80 Jahre rüstig, wird 2004 Senator, später Landwirtschaftsminister, 2009 als Präsident Uruguays gewählt und am 1.März 2010 vereidigt. Nach Pepes Amtszeit arbeitet er weiter mit seiner Lucía Topolansky als Senator, auch sie ist seit Jahren Senatorin. Die Schweizerin Heidi Specogna, seit 2007 Dozentin für Dokumentarfilm an der Filmakademie Baden-Württemberg, drehte bereits 1995/96 einen Film über Pepe Mujica und die Guerillabewegung: «Tupamaros». Und nun. Zwanzig Jahre danach? Heidi Specogna nahm die Aufmunterung von Lucia und Pepe gern an, ihren Film «Tupamaros» fortzuschreiben, fortzusetzen. Was ist aus dem Bauern und Blumenzüchter Pepe geworden, der unter den Diktatoren Uruguays mehrfach verhaftet und über 14 Jahren in Gefängnissen zubringen musste? Präsident Pepe Mujica arbeitet im Grunde seines Herzens lieber auf seiner Finca als Akten zu wälzen, Repräsentationspflichten nachzukommen und Politfäden zu ziehen. Wie schafft es ein von Machthabern und Handlangern geschundener Mann, sich nicht als Präsident verbiegen zu lassen, sich treu zu bleiben? Es ist die Gemeinschaft zwischen Lucia und Pepe, die Liebe zum Land und zum Volk. Er muss sich zwar vielen Pflichten und Protokollen beugen (ohne Krawatte), findet aber immer wieder Lücken und kleine Freiheiten, sich selbst zu sein. So wurde Heidi Specognas Porträt über «El Presidente», ein Mann von Ehrlichkeit und Charisma, auch ein Beitrag über Menschlichkeit in der Politik und über die Liebe.
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Die abhandene Welt
rbr. Die Vergangenheit lebt. Zufällig kommt Paul Kronberger (Matthias Habich) im Internet ein Bild der Opernsängerin Catarina Fabiani (Barbara Sukowa) unter die Augen, die seiner verstorbenen Frau Evelyn verblüffend ähnlich sieht. Er drängt seine Tochter Sophie (Katja Riemann), Chanteuse und Jazzsängerin, nach New York zu reisen, um abzuklären, woher diese frappante Ähnlichkeit kommt. Wie beim Zwiebelnschälen wird die Vergangenheit bloss gelegt – Schicht um Schicht. Man kann sich denken, wie sich Suche und Findung entwickelt. Das sei hier aber nicht verraten. Sicher ein typischer Von-Trotta-Film, der Geheimnisse birgt und verborgene Netzwerke entschlüsselt. Im grossen Schauspielerreigen haben auch Rüdiger Vogler (73, «Im Lauf der Zeit», «Effi Briest»), Gunnar Möller (86, «Ich denke oft an Piroschka») und die einstige Edgar-Wallace- und Karl-May-Atrice Karin Dor (77, «Winnetou III«», «Der Schatz im Silbersee», «Der Fälscher von London», «Der Würger von Schloss Blackmoor») bemerkenswerte Auftritte. Ein harsches Duell der weiblichen Art liefern sich Katja Riemann, überzeugend als sensible verhuschte Barsängerin, und Barbara Sukowa als zickige Diva, die einen anfangs arg nervt. Diese Familiengeschichte von der «Abhandenen Welt» basiert auf persönlichen Erfahrungen der Autorin und Regisseurin Margarethe von Trotta («Hannah Arendt»).
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Spartiates
rbr. Chance für Strassenkinder. Der 24-jährige Yvan Sorel packt das Leben mit beiden Fäusten, Beinen, Kopf und Herz an. Im Norden Marseilles‘ hat er den MMA-Club für Mixed Martial Arts aufgebaut. Genügsam, diszipliniert, kampf- und willensstark – so wie die Spartaner («Spartiates») will Yvan die Jungen formen. Er bringt den Knaben und jungen Burschen von der Strasse nicht nur Kampftechniken und -kraft bei, sondern auch Respekt, Toleranz, Würde und Mut. Yvan Sorel arbeitet mit harten Bandagen, tadelt und lobt, beschwichtigt und begeistert. Er ist im Ring wie im Quartier eine Respektperson, der auch die Bezirksbürgermeisterin Achtung zollt. Dem Kampfsportmeister fehlen die finanziellen Mittel für eine vernünftige Infrastruktur, aber er gibt nicht auf. – Der Welsche Filmer Nicolas Wadimoff («Clandestins», «Opération Libertad») hat den engagierten Sportler, der auch selbst Niederlagen verdauen muss, begleitet, zeigt seinen couragierten Einsatz, schier missionarischen Eifer und sein grosses Herz. Er wird für manche Buben und deren Mütter zum Vaterersatz und zur Stütze, auf die man sich verlassen kann. Ein beherzter Film über Menschen am Rande und einem Kämpfer im und neben dem Ring. Bravourös – Wadimoffs Dokumentarfilm erhielt in Solothurn 2015 den Prix de Soleure.
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Chef
rbr. Kochen ist Herzenssache. Er schwingt den Kochlöffel, und nicht nur den, mit grosser Leidenschaft. Dem Meister am Herd ging dabei die Familie flöten: Gourmetkoch Carl Casper (Jon Favreau) rastet aus, als Gourmetkritiker Ramsey Michel (Oliver Platt) ihn in die Pfanne haut und ihm obendrein Riva (Dustin Hoffman), Besitzer des Restaurant «Gauloise», in die Suppe «spuckt». Leider wird die harsche Kontroverse publik. Sozial Media sei (Un-)Dank! Carl wird dank You-Tube und anderen Kanälen in Los Angeles und Umgebung zum fragwürdigen, auch angefeindeten Medienstar. Zum Bedauern von Lokalmanagerin Molly (Scarlett Johansson) schmeisst Carl den Löffel hin und kann sich nun endlich um seinen elfjährigen Sohn Percy (Emjay Anthony) kümmern. Die Mutter und Carls schöne Ex-Frau Inez (Sofía Vergara) arrangiert ein Treffen mit ihrem zweiten Ex-Gatten Marvin (Robert Downey Jr.) in Miami, der Carl einen schrottreifen Food-Truck vermittelt. Tatsächlich bringt Carl mit vereinten Kräften von Percy und seinem Sous-Chef Martin das heruntergekommene Vehikel auf Vordermann. Und das Trio startet zu einer unglaublichen US-Gourmet-Tour. Beste südamerikanische Spezialitäten wie Cubanos, Yucas und Beignets sind angesagt im rollen Küchenladen «El Jeffe». Das macht Spass und Appetit. Jon Favreau, der selber als gut gepolsterter CC-Kochfreak Hand anlegt und famos agiert, bruzzelte mit seiner Gourmet-Romanze «Chef» ein amüsantes, wenn auch durchschaubares Feel-Good-Food-Movie, das keine Magenverstimmung hinterlässt.
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Ex Machina
rbr. Verführerische Roboterin. Die Idee, künstliche Menschen zu schaffen, hat Phantasiegeister immer schon fasziniert – vom Golem bis Frankenstein. Vor allem aber auch Filmer. Es sei nur an Steven Spielbergs «I.T. – Artificial Intelligence» erinnert. Von den Kampfmaschinen in «Blade Runner», «Terminator» (der neuste Noldi-Actioneinsatz in «Terminator: Genisys» ist im Juli zu erleben) oder Marvel-Comic-Verfilmungen gar nicht zu reden. Zu entdecken ist jetzt eine SF-Romanze, wie sie schöner, wehmütiger und intelligenter nicht sein kann. Der britische Schriftsteller Alex Garland («Der Strand», «Das Koma») verfilmte erstmals einen eigenen Stoff selber: «Ex Machina». Ein junger Programmierer Caleb (Domhnall Gleeson) wird in ein verborgenes Forschungslabor in entrückter (norwegischer) Naturlandschaft gelockt. Hier erwartet ihn der undurchsichtige Boss einer gigantischen Suchmaschinenfirma. Nathan (Oscar Isaac) lebt hier abgeschottet mit seinen Werken. Die Androidin Ava (Alicia Vikander), ausgestattet mit allen weiblichen Attributen, hat das Zeug zum Menschen. Das soll der junge Adlatus Caleb testen. In sieben Gesprächen kommen sich Mensch und Maschine nah, sehr nah. Die verführerische Roboterfrau hat Calebs Herz gerührt, und der scheint sich verliebt zu haben. Und das genau scheint der Plan Nathans, des Schöpfers mit Macho-Allüren, zu sein. Er will die «menschlichen» Qualitäten und Empfindungen seines Geschöpfes prüfen. Das perfide Ränkespiel Nathans, der nur den Namen mit jenem berühmten Weisen hat, wird erst allmählich vom unschuldigen Mittäter Caleb durchschaut. – Seit der rätselhaften Erscheinung 2013 in «Under the Skin» hat kein Alien, hat keine Kunstfrau, verkörpert durch Scarlett Johansson, so fasziniert wie jetzt die Schwedin Alicia Vikander als Ava. Auch hier geht es um Häutungen – im oberflächlichen wie im tieferen Sinn. Aber auch um die Fragen: Was macht einen Menschen aus? Und kann eine Maschine zum Mensch werden, kann sie fühlen, gar Sex haben? Regisseur Garland hat ein raffiniertes Puzzle ausgelegt. In seinem eleganten Kammerspiel um künstliche Intelligenz duellieren sich der Meister und sein Tester, doch wirklich elektrisierend ist Ava, deren Name nicht zufällig wie Eva tönt. Das stilistisch berückende Drama, in dem es auch um Liebe geht, ist das Beste, was das SF-Genre seit Jahren hergeben hat – visuell, sinnlich, intelligent.
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Pause

rbr. Liebe geht über Musik. Angekündigt als Komödie mit Rock’n’Roll-Touch, wird diese Phrase dem Film «Pause» von Mathieu Urfer nicht gerecht. Fernand (André Wilms) ist ein Träumer, Gitarrist und Komponist, der es sich mit seiner ehrgeizigen Freundin Julia (Julia Faure) verscherzt. Die nimmt eine Beziehungspause, was dem alten Rockbarden Sami (Baptiste Gilliéron) spanisch bis gefährlich vorkommt. Der Senior spielt mit dem Junior zusammen, sie verstehen sich prächtig, und Sami will unbedingt noch einen Song aufnehmen. Mathieu Urfer aus Aubonne hat Buch, Songs selber geschrieben und Regie geführt. Sein Spielfilmerstling erzählt von einer Musikerfreundschaft und abflachenden Liebe, die neuen Zunder braucht. Die Musik gefällt, der etwas lethargische Held und sein Partner, der mit seinen Ratschlägen eher komische Zwischentöne sorgt, gefallen wie auch der leicht lakonische Grundton, der phasenweise an Aki Kaurismäki erinnert. Eine stimmige Entdeckung im Schweizer Film.
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Sous les jupes des filles
rbr. Feminines Fanal – himmelhoch jauchzend und zu Tode betrübt. Elf „Weibsbilder“ drehen auf: Sie stöhnen, seufzen und kreischen, kichern, gackern und weinen, sie brechen aus, schlagen über die Stränge, verlieren und finden sich. Und doch suchen sie nur Zuneigung, Erfüllung, gestillte Liebe und Sex. Audrey Dana hat einen femininen Mix kreiert, der ähnliche Ambitionen wie «Sex and the City» locker vom Feld schlägt. Ihr turbulenter Beziehungs- und Sexreigen ist schneller, als die Liebe erlaubt. Es gibt die snobistische Unternehmerin, die angeknackte Buschauffeurin, die verschupfte Ungeliebte, die frustrierte Mutter und Ehefrau, die Lesbe, die Rebellische und die Träumerin, die Femme fatale und die Fatalistin. Das emotionelle Karussell nimmt so viel Fahrt auf, dass man zeitweise Mühe hat, nachzukommen und zu sortieren, wer denn nun mit wem und warum. Die Regisseurin Audrey Dana, die selbst mit agiert, serviert eine sinnliche, spritzige bis frivole Sex-Komödie mit viel Tempo, Esprit und Lust am Leiden und Leben, auch wenn die Sexszenen eher belustigen denn animieren. Das Ensemble deckt das ganze Spektrum von Diva Lili (Isabelle Adjani) über Fanny, über Busfahrerin mit Tick (Julie Ferrier), gestresster und verführter Ehefrau/Mutter Ysis (Géraldine Nakache) bis zur aktiven Lesbe Joe (Audrey Dana) und fatalistischen Sam (Sylvie Testud), die eine Krebsdiagnose wie normal hinnimmt. Männer wie ein Superman-Darsteller, ein Ehemann oder ein Anwalt spielen nur «ausfüllende» Nebenrollen. Der «Blick unter die Röcke» ist sehr feministisch amüsant, aber kaum im Sinne Alice Schwarzers. Dass die geballte Weiblichkeit sich am Ende in bekannter Hollywood-Showmanier am Eiffelturm feiert, mag man verzeihen.
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Run All Night
rbr. Wenn der Vater mit dem Sohne…. Er ist versoffen, versumpft, zum Wrack verkommen. Aber wenn’s drauf ankommt, ist der Ex-Killer Jimmy «The Gravedigger» (Totengräber) Conlon (Liam Neeson) zu mehr fähig, als es den Anschein hat. Ein alter Kumpel, Mafia-Boss Shawn Maguire (Ed Harris), «weckt» den desillusionierten Jimmy. Doch als Danny, Sohn des Mafiosi, eigene Geschäfte mit Albanern verfolgt, sich in eine Sackgasse manövriert und «Partner» liquidiert, kommt Mike (Joel Kinnaman), Jimmys Sohn, ins Spiel. Denn der wird Zeuge und Zielscheibe des Mafia-Juniors. Danny wird erschossen, und die Jagd auf Vater und Sohn ist eröffnet, die eigentlich das Heu nicht auf derselben Bühne und sich entfremden haben. Sie müssen zwangslos zusammenspannen… mindestens eine Nacht lang. Im harschen Gangsterthriller von Jaume Collet-Serra geht es knallhart zur Sache, wobei parallel dazu ein gestörtes Vater-Sohn-Verhältnis aufgebröselt und gekittet wird. Dem toughen Killer mit Vatergewissen verleiht Liam Neeson Gestalt und (gebrochene) Seele – mit Verve und Knittercharme. Und das kompromisslos.
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Woman in Gold
rbr. Kreuzzug um Kunst und Gerechtigkeit. Sie galt als die «Mona Lisa» Österreichs, die schöne «Adele» von Gustav Klimt. Das Gemälde war im Auftrag einer jüdischen Familie in Wien entstanden, dann unter dem Nazi-Regime konfisziert und nach dem Zweiten Weltkrieg von Österreich «annektiert». Die «Goldene Adele» war das Prunkstück im Schlosses Belvedere. Als Maria Altman, nach der Flucht aus Wien in den USA heimisch geworden, gewahr wird, dass dieses berühmte Gemälde, das ihre Tante Adele darstellt, eigentlich den Erben, also ihr, zusteht, wird die Lady in Los Angeles aktiv, aktiviert Randy Schoenberg (Ryan Reynolds), einen Verwandten, und zieht in einen Kreuzzug gegen Verwaltungsgremien und den Staat Österreich. Und der dauert Jahre. Die Alpenrepublik versucht alles, um «ihren» Klimt zu behalten, zu vereinnahmen und möchte die Hände wegen des Raubguts in Unschuld waschen. Zum Glück legt Regisseur Simon Curtis weniger Gewicht aufs Prozess-Prozedere und mehr auf vergangene und präsente, persönliche Geschichte. Er macht sie an Maria fest, der Frau aus L.A., die eigentlich nie wieder nach Wien, dem Schauplatz der Nazi-Verfolgung ihrer Familie, reisen wollte. Ihr Kampf um Wiedergutmachung und Anerkennung, um Schuldanerkennung und Gerechtigkeit steht in diesem Drama im Fokus. Mit schwarzweissen Rückblenden, die mit gezielten Einfärbungen (rote Lippen, rote Röcke) gespickt sind, schürt Curtis die Emotionen. Er blendet ausführlich in die Zeit der braunen Machtübernahme, Judenverfolgung und Enteignungen zurück. Getragen wird das Drama um die «Frau in Gold» von Helen Mirren, welche Maria, die Kämpferin um Erinnerung gegen das Vergessen, mit Grandezza, Sensibilität und Verschmitztheit verkörpert. Aber auch Ryan Reynolds als Anwalt an ihrer Seite und Daniel Brühl als Wiener Publizist machen gute Figur. Dagegen fällt Moritz Bleibtreu als Klimt kaum auf – kein Wunder bei einer so kurzen Sequenz. Der spannende Bilderbogen von L.A. nach Wien und zurück hat grosse Qualitäten, sieht man einmal von der mitunter etwas dick aufgetragenen Gefühligkeit ab.
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NACH OBEN

Photo/Film