FRONTPAGE

«Lawrence Ferlinghetti: Kunst als politischer Protest»

Von Ingrid Isermann

 

Er ist nicht der Hundertjährige, der aus dem Fenster springt, sondern eine eloquente Biografie verfasst, die das philosophische Staunen über die Welt und die Kunst als politischen Faktor und Protest in einem Atemzug beschwört. Ferlinghettis Gedichte, – als Weggefährte Jack Kerouacs und Allen Ginsbergs der Beat-Generation der 60er Jahre -, sind legendär.

Lawrence Ferlinghetti wurde 1919 in Yorkville geboren und lebt in San Francisco. Sein Gedichtband «A Coney Island of the Mind» (1958) ist in den USA bis heute ein Bestseller mit über einer halben Million verkauften Exemplaren und wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt. Ferlinghetti erhielt zahlreiche internationale Auszeichnungen.

 

«So habe ich mein Leben lang geschrieben», sagt Beatnik-Dichter Lawrence Ferlinghetti zu seinem autobiografischen Roman «Little Boy» über sein 100 Jahre währendes abenteuerliches Leben. Der Stil ist pure Poesie, Prosagedicht, Fragment und Manifest in einem. Atemlos, ohne Interpunktion und  Unterbrechung, schildert Ferlinghetti seine turbulenten Zeiten als Lyriker, Maler, Aktivist und Verlagsgründer von City Lights, wo Allen Ginsbergs berühmtes Gedicht «Howl» erstmals erschien.

 

In «Little Boy» erinnert er sich in der Einführung an die frühe Trennung von seiner Mutter und an seine Kindheit bei seiner Tante Emilie in Frankreich:

 

«Little Boy war nah am Nichts. Er hatte keine Ahnung, wer er war oder woher er stammte.

Er lebte bei Tante Emilie, die er sehr liebte. Sie hatte ihn als Windelkind von seiner Mutter übernommen, die bereits vier Söhne hatte und sich einem fünften, zur Welt gekommenen nur Monate, nachdem sein Vater einem Herzinfarkt erlegen war, nicht gewachsen sah.

Sein Bruder Harry, zwölf Jahre alt, hatte Vaters Leiche gefunden, auf den Kellerstufen hinter ihrem kleinen Haus gleich am Nordrand von Van Cortlandt Park in Manhattan. Jahre später würde Harry schreiben: <Arme Mama, kein Geld, Papa tot>.

Seine Mutter, Clemence Albertine Mendes-Monsanto, wurde in Providence, Rhode Island, geboren. Ihre sephardischen Eltern waren aus Saint Thomas auf den Jungferninseln eingewandert, wo die Familie lange als wohlhabende Plantagenbesitzer gelebt hatte, bis sie der zusammenbrechende Zuckermarkt verarmen liess. Die Familie war zunächst vor der Inquisition in Spanien und Portugal geflohen, erreichte die Neue Welt aber beileibe nicht nur mit ein paar Klamotten und im Zwischendeck.

Sie reisten mit all ihren Habseligkeiten in Überseekoffern, mit Gold, Juwelen und sogar Kandelabern und konnten sich entsprechend als Händler und Pflanzer auf Saint Thomas niederlassen, wo sie bald auf einen Hügel mit Blick aufs Stadtzentrum ein grosses Haus mit geräumigen Veranden bewohnten».

 

Als Tante Emilie kein Geld mehr hatte, schickt sie Lawrence ins Waisenhaus in Chappaqua nördlich von New York, wo er einige Jahre verbrachte, bis Tante Emilie ihn in einer wohlhabenden, aber kühlen Pflegefamilie in Bronxville unterbringen konnte, wo er bis Ende der 20er-Jahre in der feinen Villa in Lawrence Park, West Bronxville blieb.  Anschliessend kam Lawrence ins Internat der Riverdale Country School in Riverdale-on-Hudson.

 

Das magische Lebensgefühl der Beat-Generation

In einem symphonischen, eklektischen  Strom der Gedanken und Assoziationen lässt Ferlinghetti das magische Lebensgefühl seiner Beat-Generation vorüberziehen und den Aufbruch der Hippiebewegung wieder aufleben.

Im Kalifornien der 50er-Jahre gründete er, nachdem er in Paris an der Sorbonne Journalismus studierte, den Zweiten Weltkrieg im Pazifik und den D-Day 1944 in der Normandie miterlebt hatte, seinen Buchladen und Verlag City Lights, wo Literaturgrössen wie Ginsberg, Kerouac und Burroughs verkehrten.

Nicht selten findet Lyrik ja unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt, nicht so bei Ferlinghetti.

Ferlinghetti ist ein wacher Zeitgenosse geblieben und empört sich auch heute noch gegen den Zeitgeist des Populismus. Als Protest gegen die Politik Viktor Orbáns verweigerte er den Preis des ungarischen PEN Club.

 

Leseprobe:

(…)  endlose Nacht der grossen Leere in der die Welt sich dreht und wir warten darauf dass ein Blitzschlag uns erleuchtet 

 

OH ja oh ja sage ich mir und flüstere es im Caffe Trieste in San Francisco und ist nicht Kapitalismus der wahre Feind der Demokratie wenn man drüber nachdenkt oder selbst wenn man es nicht tut denn die Ziele des einen sind die Zerstörer des anderen und umgekehrt Ach lass uns doch wieder lyrischer Ausflucht frönen und Orgasmen sind nicht nötig für Ekstase wenn es Myriaden anderer Höhen gibt die uns höher bringen als Fallschirme zum Beispiel wenn ich an Paris 1948 denke und der Schnee fiel als ich durch die Tuilerien ging mit dem Seesack über der Schulter ein wenig aussehend wie Conrad der den Albatros von Coleridge trägt und der Albatros meine Vergangenheit die ich ertränken wollte dieses erste Mal seit meiner Kindheit in Paris in meiner zweiten Heimat wieder angekommen fühlte ich mich als küsste ich den Boden so wie ich im Juni 1944 in der Normandie anlandete es aber nach Paris nie schaffte bis Jahre später die Sonne auf den Kastanienbäumen schimmerte und der Schnee leise leise rieselte auf die verzauberten Statuen und die gepflegten Parks und mein Leben als Sorbonnestudent sich vor mir entfaltete und was ist der Plot dieses Romans wenn nicht die Suche nach der noch nicht ganz verlorenen Zeit denn die Vergangenheit erteilt nur zögerlichen Rat zu allem was noch kommt was noch geschieht (…) und wir vom Weltall aus allesamt ausschauen wie Insekten in einem Nest von Ameisen allesamt schwammige Gestalten in tropischer Nacht durch die nachtdunklen Labyrinthe tanzend und noch einmal in lyrischer Ausflucht schwelgend und warum nicht Sollen wir alle Zeit verzweifelt sein und alles Denken nur an den sicheren Tod verschwenden also warum nicht die Höhen ausleben und die Tiefen ignorieren (…)».

 

 

 

 

Per Flugzeug hinaus

 

Ich flieg und seh   Amerika

ist irre Mutter

ist verwandelt in Tankstellen

ist Lucky Louis in zwei Schuhn

ist trauriger Murphy

Ich sehe Gloria ungegürtet

Das Leben ist traurig

Ich seh wir alle sind vernünftig nüchtrn rein

Wir uns selber übertragen

Ich sehe ein grosses Zeitalter kommen

die grosse Zeit

Bumm Bumm

Keine

Schönen Birken mehr

die weiss sind im Dämmer

der Himmel zwischen den Galaxen

keine Heimstatt

Wir drehn uns

dran vorbei

Weit weg

da kletterte ich drüber weg

Der Tod schwenkt

seine stumme Glocke

ich wird sie noch fangen

Ich flieg keinen

Hubschrauber «Barmherzigkeit»

und noch gibt’s keine Schokolade

auf dem Obsteiscreme

im tiefen Süden

obwohl womöglich nackte Mammi schwarzes Horn bläst

Und doch –

hier oben flöten Vögel

Krähen-Gekrächse knackt

das Universum

Ach dort ein Schlitz

hindurchzuschliddern

in die Ewigkeit

Seht seht

da gibt’s die Liebe

Aah die Liebe

schafft es nicht

des Rattenfängers Höhle

scheppert zu

 

 

 

Kafkas Schloss steht über der Welt

      wie eine letzte Festung

             des Geheimnisses der Existenz

Seine dunklen Betrachtungen verwirren uns

           Steile Pfade

falln von ihm aus jäh ins Nirgends ab

         Wege strahlen in Luft

wie das Labyrinth-Gedräht

           einer Telefon-Zentrale

in dem sämtliche Gespräche

          bei weitem unverfolgbar sind

Dort oben

         herrscht himmlisches Wetter

Seelen tanzen entkleidet

          zusammen

und wie Nichtstuer

         am Randgeschehen eines Rummels

beliebäugeln wir das unerreichbare

         vermutete Geheimnis

Doch weit drüben auf der anderen Seite

        gleich dem Bühneneingang eines Zirkuszelts

ist eine weite Öffnung in den Zinnen

       wo sogar Elephanten

durchmaschieren

 

 

 

Lawrence Ferlinghetti
Ausgewählte Gedichte
(aus u.a. «A Coney Island oft he Mind»)
Übersetzung und Nachwort
Alexander Schmitz
Diogenes, Zürich 1972
ISBN 3 257 20060 9

 

 

Lawrence Ferlinghetti
Little Boy
Roman
Aus dem Englischen von Ron Winkler
Schöffling & Co, Frankfurt a.M., 2019
213 S., geb.
CHF 31.90
ISBN 978-3-9561-441-5

 

 

Ron Winkler, *1973 in Jena, lebt in Berlin. Fünf Gedichtbände, zuletzt bei Schöffling & Co.: «Karten aus Gebieten» (2017)«; Herausgeber verschiedener Anthologien. Div. Lyrikpreise, u.a. Leonce-und-Lena-Preis (siehe auch Archiv Literatur & Kunst).

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