FRONTPAGE

«Eine Ode an die Fotografie»

Von Ingrid Isermann

 

Reisen kann man bekanntlich auch im Kopf. Bilder können dabei wie ein Katalysator wirken: Sie beflügeln unsere Fantasie, wecken Erinnerungen und vielleicht auch Sehnsucht auf Etwas, das sich ausserhalb des Vertrauten befindet. Es liegt ein Sommer vor uns, den viele Menschen aus bekannten Gründen in der Schweiz verbringen werden. Daher hat die Bildhalle beschlossen, den ganzen Sommer über geöffnet zu bleiben und die Besucher visuell auf Reisen zu schicken. Es erwarten Sie Horizonte, salzige Gischt, fliegende Schiffe, ein Olivenbäume im Wind, der Mond im Flugzeugfenster, überfüllte und einsame Strände, die Skyline von New York.

Reisen Sie mit René Burri und Werner Bischof nach Neapel. Mit Thomas Hoepker nach Rio. Mit Paul Cupido nach Japan. Mit Philipp Keel nach Kalifornien. Mit Willy Spiller nach New York. Mit Albarrán Cabrera und Max Kellenberger ans Mittelmeer. Mit Simone Kappeler nach Los Angeles. Mit Jeffrey Conley nach Island. Mit Douglas Mandry in die Türkei. Mit Sandro Diener und René Groebli nach Griechenland. Mit Robert Bösch nach Marokko. Eine Sommerausstellung mit 14 Künstlern bis 22. August 2020.

 

Die Ausstellung der renommierten Fotografen lässt das Herz höher schlagen. Eine Rhapsodie der Farben von Albarrán Cabrera, die zärtlichen Dokumente einer Liebe von René Groebli, die grossartigen Bilder auf Reisen von Werner Bischof und die aussagestarken Momentaufnahme-Fotografien von René Burri verblassen nicht, sie sind Zeugen der Geschichte und lassen uns teilnehmen.

 

 

ALBARRAN CABRERA
Foto Frontpage: Mouth of Krishna #789, Japan 2019; Pigment-Print auf japanischem Gampi-Papier über Blattgold: «This image was taken last Spring in Japan. Spring is here again but we are now in the middle of a storm. Paraphrasing Haruki Murakami, this storm isn’t something that blew in from far away, something that has nothing to do with us. This storm was created by us. All we can do is walk through it, step by step. Be optimistic, remain curious, and stay at home. Quoting Murakami: When you come out of the storm you won’t be the same person who walked in. That’s what this storm’s all about. More springs will come, and we’ll be there».
Das Künstlerpaar Angel Albarrán und Anna Cabrera (beide 1969 geboren, wohnhaft in Barcelona) hat viel Zeit in Japan verbracht. Die Reisen in das Land haben die ästhetischen Präferenzen in ihren Arbeiten und die Art der verwendeten Drucktechniken stark beeinflusst.

Die Frage, die sich wie ein roter Faden durch ihre Arbeit zieht, geht Bildern als Auslöser für individuelle Erinnerungen im Betrachter nach. Je nach sozialem und kulturellem Hintergrund, aber auch nach persönlicher Erfahrung kann der Betrachter Bilder auf ganz unterschiedliche Weise wahrnehmen. Albarrán Cabrera sehen ihre Fotografien als eigenständige Objekte: Sie fertigen ihre Abzüge in klassischen Verfahren wie Platin und Silberhalogenid oder erfinden neue, wie z.B. Pigmentdrucke auf Blattgold und schaffen so Reproduktionen, die in sich trotzdem einzigartig sind. Die poetische und sinnliche Natur dieser Abzüge zeugt von einer unvergleichlichen Handwerkskunst.

 

 

WERNER BISCHOF
Der Zweite Weltkrieg ist vorbei, Werner Bischof verlässt auf seinem Fahrrad nach sechs Jahren zum ersten Mal die Schweiz. Am 3. September 1945 schreibt er in sein Tagebuch:
«Die ersten Fragen, welche man sich natürlich stellt: Was soll man mitnehmen? Welches sind die Verkehrsmöglichkeiten? Ich lese in der Zeitung: Jede Fahrt nach Deutschland bedeutet ein Abstossen von einer Insel mitten ins Meer, man tut am besten, sich wie für eine Expedition auszurüsten.»
In Friedrichshafen trifft er auf zwei Mädchen, die in der Ruine einer Kirche spielen. Kinder sind für Werner Bischof ein Symbol der Unschuld. Sie sind diejenigen, die am meisten unter dem Krieg gelitten haben. Gleichzeitig sind sie die neue Generation, die Zukunft.
Der Schweizer Magnum-Fotograf Werner Bischof (*1916 in Zürich) gilt als einer der wichtigsten und herausragendsten Fotografen des 20. Jahrhunderts. Er ist ein Meister der Schwarzweiss-Fotografie und sein gewaltiges Werk schuf er in einer äusserst kurzen Zeit. Seine Arbeit als Fotojournalist und Dokumentarist des Zeitgeschehens führte ihn um die halbe Welt.

 

Bischofs Biografie ist die eines Mannes der Moderne. In den 1940er Jahren arbeitete er in seinem Fotostudio «Fotografik» und wurde dabei stark durch die Bewegung «Neues Sehen» beeinflusst. Nach dem 2. Weltkrieg reiste er durch Europa und schuf eine umfassende Dokumentation über die Zerstörung und den Wiederaufbau Europas nach dem Krieg. Während der frühen Zeit des Fotojournalismus publizierte Bischof in den bedeutendsten Magazinen der Welt und wurde Mitglied der legendären Fotografenagentur Magnum Photos. Seine Reportage über die Hungersnot in Indien verhalf Werner Bischof 1951 zur internationalen Berühmtheit.

In den frühen 1950er Jahren folgten Reisen durch Japan und weitere asiatische Länder. Auf diesen Reisen brach er aus dem Korsett der reinen Auftragsfotografie aus und widmete sich zunehmend auch freien Arbeiten. Im Herbst 1953 begann Bischof auf einer Reise durch die USA mit der Farbfotografie zu experimentieren und reiste darauf nach Zentral- und Südamerika, wo er 1954 bei Autounfall in den peruanischen Anden ums Leben kam.

 

 

RENÉ BURRI

Pablo Picasso gibt seinen Kindern Paloma und Claude und zwei Freunden eine Zeichenstunde, Villa „La Californie“, Cannes, Frankreich, 1957. Picasso und Burri, die sich gut kannten, teilten dieselbe authentische Leidenschaft für das „Echte“ in der Kunst. Picasso hatte es in den Facetten des Kubismus und in den melancholischen Visionen seiner Blauen Periode gesucht; Burri hielt das „Echte“ fest, indem er weltbewegenden Momente dokumentarisch festhielt und Persönlichkeiten wie Pablo Picasso, Le Corbusier oder Che Guevara porträtierte.
René Burri studierte an der Kunstgewerbeschule in seiner Heimatstadt Zürich. Von 1953 bis 1955 arbeitete er als Dokumentarfilmemacher und machte während des Militärdienstes seine ersten Bilder mit einer Leica. 1955 wurde er Teil der Fotografenagentur Magnum und machte die Welt mit einer seiner ersten Reportagen über taubstumme Kinder, publiziert im Life Magazin, auf sich aufmerksam.

René Burri schuf Ikonen der Fotografiegeschichte des 20. Jahrhunderts und entführte uns als viel reisender Fotograf mit seinen eindringlichen Bildreportagen in alle Winkel dieser Welt. Seine fotografischen Arbeiten waren dabei immer an der Sache interessiert, engagiert, vielschichtig und empathisch. Er wollte die Welt nicht nur dokumentieren, er wollte sie mit seinen Bildern auch verändern. Für das Schweizern Periodikum Du porträtierte er berühmte Persönlichkeiten wie Picasso, Le Corbusier oder Giacommetti und seine Bilder des Revolutionärs Che Guevara mit Zigarre gingen um die Welt.

Der Dr. Erich Salomon Preis der Deutschen Fotografiestiftung 1998 ging an René Burri und eine grosse Retrospektive, die 2004-2005 im Maison Européenne in Paris startete, tourte durch mehrere europäische Museen. Im Juli 2013 gründete René Burri in der Schweiz seine eigene Stiftung. Diese ist heute im Musée de l’Elysée in Lausanne untergebracht. Im September 2014 eröffnete René Burri seine letzte Ausstellung mit dem Titel Mouvement in Paris im Maison européenne de la Photographie. Aus einer Vielzahl unveröffentlichter Fotos kreiert er für diesen Anlass Triptychen in Schwarz-Weiss und Farbe rund um den Begriff der Bildbewegung. René Burri stirbt einen Monat später, am 20. Oktober 2014, im Krankenhaus in Zürich.

Unter dem Kuratorium von Marc Donnadieu und Mélanie Bétrisey, zeigt das Musée de l’Elysée vom Januar bis Mai 2020 ein grosse Retrospektive mit dem Titel «René Burri, Explosion des Sehens».

 

Fotos links von oben nach unten:

Mouth of Krishna #789, Japan 2019; Pigment-Print auf japanischem Gampi-Papier über Blattgold, Foto Albarrán Cabrera.

Das Auge der Liebe, Liegender Akt, Paris 1952; Platinum-Palladium-Print, René Groebli. White Blouse, René Groebli.

Werner Bischof, Traffic Control in Milano.
René Burri, The Ministry of Healt building designed by architect Lucio Costa’s team, including Oscar Niemeyer, Rio de Janeiro, Brazil, 1960 ©Magnum Photos / RB Photos, Courtesy Bildhalle.

Bildhalle

Zeitgenössische Fotogalerie
www.bildhalle.ch
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8004 Zürich
+41 44 552 09 18

 

 

 

«Trotz alledem – Fantoche 2020: Fantastisches Filmfestival für Animationsfilme»

 

rbr. Corona, der Pandemie und allen Einschränkungen zum Trotz: Die Organisatoren von Fantoche, dem Internationalen Festival für Animationsfilme, lassen nicht locker und laden zum 18. Mal zum speziellen Filmtreffen in Baden (vom 1. bis 6. September 2020).

 

 

Corona und die Folgen: Fantoche 2020 findet statt – vom 1. bis 6. September. Das Programm musste nur minimal reduziert werden (um 5 Prozent), meinte Festivalleiterin Annette Schindler an der Presseorientierung. «Fantoche will den Animationsfilm auch im Coronajahr 2020 gemeinsam mit dem Publikum und Filmmachern /-innen feiern, will Möglichkeiten der Begegnung und des Austauschs schaffen und so einen Beitrag leisten, damit Filmkultur wieder Gemeinschaft herstellen und Identität stiften kann.» Das Angebot an Langfilmen sei etwas eingeschränkt, weil eben auch weniger aktuelle Filme zur Verfügung ständen, die grossen Studios noch abwarten oder andere Strategien verfolgen würden. Die Grossproduktion «Mulan» beispielsweise kommt gar nicht mehr ins Kino und wird von den Disney-Streamdienste für 30 Franken angeboten. «Immerhin zeigt unser Programm Langfilme, die einen Zeitraum von 1929 bis 2020 umfassen», so Annette Schindler. Hervorzuheben in dieser Sparte ist die japanische Produktion «Weathering With You» (2019) über Eingriffe in die Natur, «Fritzi – eine Wendewundergeschichte» aus Deutschland (2019) oder der Eröffnungsfilm «Calamity, une enfance de Martha Jane Cannary» (2020) über die Kindheit der bekanntes Westernheldin Calamity Jane.

Doch feiert Fantoche 2020 nicht nur 25 Jahre Bestehen (seit 1995 in Abständen und seit 2009 jährlich), sondern vor allem Frauen. Nicht nur das Kernteam des Festival ist weiblich, sondern auch die Mehrheit des Vorstands und des Selektionsteams. Bemerkenswert: 52 Prozent der gezeigten Filme sind von Frauen. Was liegt also näher, als in diesem Jahr einen Schwerpunkt «Heldinnen» zu widmen. In dieser Sektion werden drei Langfilme, drei Kurzfilmprogramme des Wiener Tricky Women Festivals sowie eine Retrospektive der Pionierin Lotte Reiniger (1899 – 1981), einer Meisterin der Silhouettenanimation, aufgeführt. Einen anderen Schwerpunkt bilden Filme aus Dänemark. Meisterliche Werke, aber auch Filme junger Talenten sind zu sehen – neben Filmen für Kinder – dafür ist Dänemark bekannt – auch Filme für Erwachsene, «Princess» von Anders Morgenthaler aus dem Jahr 2006 beispielsweise.
Kein Festival ohne Wettbewerb und Preise. In Baden sind 72 Kurzfilme, davon 19 aus der Schweiz, in drei Wettbewerben zu sehen: Im Internationalen und Schweizer Wettbewerb sowie im Kinder-Wettbewerb werden 13 Preise verteilt. Neu offeriert Fantoche 2020 einen Serienmarathon am Sonntag, 6. September, ab 10 Uhr. In vier Blöcken sind hier Episoden ganz unterschiedler klassischer und brandneuer Serien zu sehen, beispielsweise die französische Serie «Crisis Jung». Zum Jubiläum offeriert das Festival familienfreundliche Eintritte (5 Franken) für Filme wie «Ernest & Célestine» (2. September, 12.45 Uhr)oder das bekannte Animationskunststück «Ma vie de Courgette» (4. September, 14.45 Uhr).
Begleitet wird das Festival von Making ofs, Liveschaltungen und Gesprächen mit Filmemachern und einer Ausstellung im Kunstraum Baden über Lotte Reiniger. Mag das Platzangebot auch reduziert sein: Fantoche lebt im Kino. «Kultur ist nötig und so auch möglich», unterstreicht Festivalleiterin Schindler und weiss die Unterstützung der öffentlichen Hand sehr zu schätzen. Ausserdem sei kein Sponsor abgesprungen, berichtete sie weiter. Dem Kino, das seit Wochen karge Zeiten erlebt, kann das Animationsfestival Fantoche nur gut tun und zu mehr Besuchen animieren. Wer nicht nach Baden reisen kann, hat die Möglichkeit, Festivalhighlights online zu verfolgen, und zwar während der Festivaldauer um 19 und 21 Uhr bei filmingo.ch.

Informationen:
Programmheft in diversen Kino, z.B. RiffRaff und Kosmos in Zürich,
ausserdem
fantoche.ch/de/2020/programm
 

 

 

Filmtipps

 

 

Undine
I.I. Undine, die mythische Figur, will dem Mythos entrinnen. Was ist nicht schon alles über Undine geschrieben worden. Die Undine, eine Nymphe des Wassers, bekommt erst dann eine Seele, wenn sie sich mit einem Menschen vermählt. Einem untreuen Gatten bringt Undine den Tod. Auch Ingeborg Bachmann nahm sich schon des Themas an und rechnet in ihrer feministischen Erzählung Undine geht mit der seelischen Ignoranz der Männerwelt ab.
Undine heisst nun auch ein deutsch-französischer Spielfilm von Christian Petzold. Das Liebesdrama mit Paula Beer und Franz Rogowski in den Hauptrollen orientiert sich frei am Undine-Mythos. Regisseur Petzold, der auch das Drehbuch schrieb, verlegte die Sage um die Wasserfrau ins moderne Berlin. Undine (Paula Beer) ist promovierte Historikerin und führt Touristen durch die Berliner Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und zeigt ihnen Modelle, die von Wachstum und rücksichtsloser Dynamik der Metropole berichten. Nichts bleibt und ist von Dauer. Alles ist im Fluss. Berlin wurde einst am Wasser gebaut. Hier schliesst sich der Kreis zu Undine, der Wasserfrau.
Undine, Freelancerin, arbeitet und lebt zwischen Natur und Gesellschaft. Im Grunde sucht sie ganz mythisch die absolute Liebe, Dauer und Treue. Undine will ihrem Mythos entrinnen und den Bann brechen. Im Museums-Café wird sie von einem jungen Mann (Franz Rogowski) angesprochen, und schon im nächsten Augenblick wird die schicksalhafte Begegnung zum Wendepunkt in ihrem Leben, finden sich Undine und ihr Bewunderer, ausgelöst durch eine ungeschickte Bewegung, auf dem Boden, im Trümmerhaufen eines symbolhaft zerborstenen Aquariums, wieder. Später schlendern die beiden versunken und eng umschlungen durch Berlin, die kalte, babylonische Stadt. Undines neuer Freund ist Industrietaucher von Beruf und hat daher auch mit Wasser zu tun. Wenn er Unterwasserturbinen repariert, begegnet ihm mitunter ein Wels von mythischer Grösse. Das Tier mit Riesenschnurrbart hat einen Wagner-Namen namens Gunther. Der Anspielungen auf Mythen sind viele in diesem poetischen Film, der optisch in Bildern schwelgt, von den Liebenden, vom Wasser, von der Zärtlichkeit, von der Unmöglichkeit von Liebe, von der kalten Stadt, von Trennung und Wiederfinden und dem Reigen, der Leben heisst.
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The Secret – Das Geheimnis

I.I. Zufall geschieht nicht zufällig. In Miranda Wells (Katie Holmes) Leben scheint vieles schief zu laufen. Der alleinerziehenden Mutter von drei Kindern wächst alles über den Kopf, seitdem ihr Mann, ein Erfinder, vor einigen Jahren bei einem Flugzeugabsturz ums Leben kam. Das Geld reicht hinten und vorne nicht. Als hätte sich das Schicksal gegen sie verschworen, kracht während eines heftigen Hurrikans auch noch ein Ast durch das Dach ihres Hauses. Doch das Unwetter stellt Miranda nicht nur vor ihre nächste finanzielle Herausforderung, sondern bringt auch Bray Johnson (Josh Lucas) in ihr Leben. Von nun an scheint sich das Blatt für Miranda und ihre Familie zu wenden. Ob das an dem positiven und lebensbejahenden Spirit liegt, mit dem Bray plötzlich in ihr Leben tritt? Und was hat es mit dem rätselhaften Umschlag auf sich, der Bray Johnson ursprünglich zu Miranda geführt hat? Ein Geheimnis, das den neu gewonnenen Lebensmut und das langsam wiederkehrende Glück der Familie Wells sogleich wieder aufs Spiel zu setzen scheint…
Die Kernaussage des Films ist, dass Gedanken und Gefühle jedes einzelnen Menschen reale Gegebenheiten anziehen und erzeugen, und dieses Gesetz der Anziehung Auswirkungen auf jeglichen Aspekt unseres Seins, wie Gesundheit, zwischenmenschliche Beziehungen, Geld und Beruf hat. Dies geschehe nicht zufällig, sondern mit der Sicherheit und Genauigkeit eines Naturgesetzes. Der Inhalt des Films ergibt eine weitgehende Kongruenz zu den Lehrinhalten der Christlichen Wissenschaft und der Neugeist-Bewegung. Ein Herzschmerz-Film mit Happy End.
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Christoph Schlingensief. In das Schweigen hineinschreien

I.I. Regisseur, Provokateur und Charmeur. Ist es wirklich schon zehn Jahre her, dass Christoph Schlingensief mit erst 49 Jahren starb? Und doch scheint er so gegenwärtig zu sein. Sein wuscheliger Haarschopf, der Präsenz markierte und ihm etwas Wildes verlieh, einen Anschein unverwüstlicher Gesundheit und Stärke, aber eben nur ein Schein. Wie er am Zürcher Bellevue stand, sich unter die Leute mischte mit einem Plakat gegen Nazis für seine Hamlet-Aufführung im Schauspielhaus warb, die irritierten Zuschauer zu einem Besuch aufforderte, denn auch ein ehemaliger Nazi sei mit von der Partie. Oder im Schiffbau, da hatte ich mich vertan, wollte eine Theateraufführung sehen, die aber stattdessen im Schauspielhaus stattfand. Christoph Schlingensief stand neben mir, bekam das mit und sagte spontan, kommen Sie mit mir, wir fahren zusammen mit dem Taxi zum Schauspielhaus. Unterwegs telefonierte er mit Christoph Marthaler, so vertraut, so nahbar, man merkte, dass sie gute Freunde waren und ihm Marthaler viel bedeutete. Unprätentiös, höflich, freundlich und entgegenkommend, und dabei doch ein Bürgerschreck. Er konnte es, all diese Widersprüche in sich zu vereinen. Nun hat die Filmeditorin Bettina Böhler («Die innere Sicherheit», «Hannah Arendt») einen Dokumentarfilm über Schlingensief gemacht, mit Originalaufnahmen aus seiner Kindheit, aus allen Episoden und Filmen und mit Gesprächen von Kollegen und Freunden. Über zwei Jahrzehnte hat Christoph Schlingensief den kulturellen und politischen Diskurs im deutschsprachigen Raum mitgeprägt. Das intensive Filmporträt zeigt die ganze Bandbreite der Entwicklung vom jungen, experimentierenden Filmemacher über den Bühnenrevolutionär von Berlin und Bayreuth bis hin zum Bestsellerautor, der kurz vor seinem Tod die Einladung erhielt, den Deutschen Pavillon in Venedig zu gestalten. In ihrem berührenden Regiedebüt montiert Bettina Böhler virtuos die verschiedenen künstlerischen Arbeiten Schlingensiefs, die seine unbändige Energie spürbar machen. Das erste umfassende Filmporträt des Regisseurs, der in diesem Jahr 60 Jahre alt geworden wäre und unvergessen ist.

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Un divan à Tunis
rbr. Kleine Revolution. Heimweh oder Herausforderung? Die Psychologin Selma (Golshifteh Farahani) ist in Frankreich gross geworden, will sich nun in ihrem Heimatland Tunesien beweisen. Nach dem Sturz des Diktators Ben Ali 2011 ist vieles im Umbruch. Die Ereignisse in Tunesien lösten dazumal den Arabischen Frühling aus. Die Menschen atmeten Freiheit, kamen aus sich heraus, wollten reden, eben auch mit einer Psychologin, meint Selma. Doch so einfach lässt sich der Schalter von Diktatur auf Demokratie, von Patriarchat auf Gleichberechtigung von Frauen nicht umschalten. Das muss auch die selbstbewusste, engagierte Heimkehrerin erkennen. Aber ein Anfang ist gemacht – in ihrer provisorischen Praxis auf dem Dach des Wohnhauses. Es sind komische, drollige Menschen, die sich ihr anvertrauen: Ein aufgeschlossener Imam mit Depressionen, Raouf (Hicham Yacoubi), ein Mann, der mit seinen sexuelle Begehren nicht klar kommt, eine aufbegehrende Nichte mit feministischen Ambitionen oder eine temperamentvolle Beauty-Salon-Besitzerin. Nicht zuletzt kommt der Psychotherapeutin wiederholt der Polizist Naim (Majid Mastoura) in die Quere, der Moral hochhält und sich nicht korrumpieren lässt. Sie alle gehören der Mittelschicht an, müssen sich zwischen Tradition und Moderne (Umbruch) zurechtfinden und sind durch innere Widersprüche geprägt.
«Un divan à Tunis» ist ein heiterer Spielfilm, geprägt von Gegensätzen, von Lebenslust und Optimismus. Religiöse oder politische Themen sind kein Thema im Spielfilmdebüt von Manele Labidi, die selbst tunesische Wurzeln hat. In ihrer Hauptfigur Selma, lebhaft und temperamentvoll verkörpert von der iranischen Schauspielerin Golshifteh Farahani, fliessen viele eigene Erfahrungen und Interessen ein. Man erfährt wenig bis gar nichts über Selmas Vergangenheit, über ihre Emotionen, ihre (privaten) Beziehungen zu Männern. Das sei bewusst so angelegt, sagt die Filmautorin. Selma sollte schweigsam, einsam, mysteriös voller Elan und weit davon entfernt sein, eine Familie oder einen Partner als ihre Bestimmung im Leben anzusehen. Selma, eine selbstbewusste offene und freie Frau, nimmt ihr Schicksal selber in die Hand und hilft andern dabei – auf der Couch.
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Loulou
rbr. Filmen als Selbsttherapie. Wie macht man Unsichtbares sichtbar, Gefühle, Empfindungen nachvollziehbar? Nathan Hofstetter litt an paranoider Schizophrenie, an Wahrnehmungsstörungen. Er kann nicht schlafen. Bei ihm verwischen sich Wahrnehmungen. Und so beschloss er, sich und seine unmittelbare Welt in Bildern festzuhalten. Nathan tauscht sich mit seinem bipolaren Freund, seiner Freundin Alice aus. Er begegnet seiner Mutter ein letztes Mal (sie stirbt während der Dreharbeiten 2011-2018), sucht die Nähe seines Vaters Laurent, der zart ein Lied vorträgt. Nathan klammert sich an Bilder, zeichnet Räume des Vertrauten, verheimlicht nicht. Die Wahrnehmungen durchkreuzen und verwischen sich. Das Visionäre verschmilzt mit Realem. Ein Brunnen – am Anfang und am Ende – markiert einen sicheren Halt. Nathans Reise führt von Neuenburg bis Norwegen.
Ein Film als Selbsttherapie, und ohne je voyeuristisch zu wirken, Mitleid zu wecken oder zu beschönigen. «Loulou» ist ein aussergewöhnlicher Film – Einladung und Offenbarung zugleich. Er spiegelt Gefühle, Empfindungen, Annäherungen und Lebensbejahung wieder. Die Selbstaufzeichnungen zeichnen kein konkretes Bild der psychischen Erkrankung Schizophrenie, sondern machen mit einem Menschen bekannt, der mit Hilfe naher Freunde und Bekannten Orientierung sucht und findet. Der Film handelt auch von innerer Fremde, von Ängsten und dem Bemühen, Unsicherheiten zu überwinden. Loulou ist ein beliebter Vorname, aber auch Ausdruck für Liebling, Schätzchen. Nathans Freunde nennen alle leicht «verrückten», liebenswerten Menschen Loulou, eben auch Nathan, und so kam es zum Filmtitel.

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Master Cheng
rbr. Finnisch-chinesische Küche. Die Brüder Kaurismäki sind bekannt für ihre zartbitteren und lakonischen Filme. Mika Kaurismäki, der jüngere Bruder von Aki, erzählt eine heitere Geschichte von einer kulinarischen Annäherung, von Liebe und Männerfreundschaft. Cheng (Pak Hon Chu) landet in einem abgelegenen Kaff namens Pohjanjoki, hoch oben in Lappland. Der Chinese samt Söhnlein NiuNiu (Lucas Hsuan) sucht einen Finnen namens Fongtron, der ihm einst aus der Patsche geholfen hat. Doch niemand kennt einen Mann oder eine Firma dieses Namens.
Was tun? Cheng wird hilfsbereit von Sirka (Anna-Maija Toukko) aufgenommen, die ein kleines Cafe mit Imbiss führt. Das Angebot ist dürftig: Kartoffeln mit Wurst und brauner Sauce. Chengs Stunde schlägt, als ein Reisecar mit chinesischen Touristen in Sirka’s Gaststube einkehrt, die jedoch über die angebotenen Speisen die Nase rümpfen. Cheng bietet seine Dienste an und erweist sich als wahrer Kochkünstler. Er kocht sogar hartgesottene Stammgäste wie ein Paar knorriger Pensionäre weich. Mehr noch, seine Suppen haben heilende Kräfte – beispielsweise Frauen, wenn sie ihre Tage haben. Nicht nur die etwas kantige, aber herzensgute Sirka schliesst ihren Master Cheng ins Herz. Doch seine Aufenthaltsdauer und -erlaubnis im hohen Norden sind nur begrenzt sein, denn die Behörden und Polizei…
Die Geschichte ist einfach gestrickt, aber sie stimmt uns heiter, tut gut, auch weil Kaurismäki lakonisch und beiläufig zeigt, wie einfach Menschen aus verschiedenen Welten sich nahe kommen können über kulturelle und sprachliche Gräben hinaus. Kochen und Essen und Trinken sind vortreffliche Zutaten für ein schmackhaftes Kinomenü. Auch bei der Romanze «Love Sarah» um eine Londoner Bäckerei (ab September im Kino) spielen kulinarische Genüsse eine wichtige verbindende Rolle. Bei Mika Kaurismäki kommen weitere Aspekte hinzu: die grandiose malerische Landschaft Lapplands und entsprechende Stimmungen (freilich ohne Mücken!), schrullige Typen, ein Gespür für Freundschaft, Solidarität und Lebenslust. Eine finnische Romanze mit charmantem globalen Touch – herzerwärmend und appetitanregend.
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Canción sin nombre – Lied ohne Namen
rbr. Bestohlene Mutter. Peru wird um 1988 von Aufständen und Gewaltaktionen erschüttert –nach dem Ende der Militärdiktatur 1980. Georgia (Pamea Mendoza), eine junge Frau aus den Anden, hält sich mit Müh und Not über Wasser. Sie versucht auf einem Markt in Lima, Kartoffeln zu verkaufen. Sie ist liiert mit dem Hilfsarbeiter Leo und schwanger. Im Radio hört sie von einer Klinik, die Geburtenhilfe gratis anbietet. Der vertraut sie sich an. Doch nach einer unkomplizierten Geburt verschwindet ihr Baby. Verzweifelt sucht die Mutter das abhanden gekommene Baby, sucht Hilfe bei den Behörden, bei der Polizei und stösst auf eine Mauer von Desinteresse, Gleichgültigkeit und Ignoranz. Pedro Campos (Tommy Párrago), Reporter der Zeitung «La Reforma», erhält den Auftrag, der Sache nachzugehen, und beginnt zu recherchieren. Bald wird klar, dass hinter dem Fall System steckt. Babys verschwinden, werden verkauft und an Paare ins Ausland geliefert. Am Ende ist Georgina auf sich allein gestellt, ihr Mann ist in ein Attentat verwickelt, Pedro resigniert und schottet sich ab. In dunklen Szenen zeichnet Melina León (Regie und Buch zusammen mit Michael J. White) das düstere Bild einer desolaten Gesellschaft.
Die gesellschaftliche und politische Krise Perus bestimmt auch das Schicksal Georginas. Sie gerät in die Mühlen des Baby-Handels, der vom Staat nicht unterbunden wird. Das Drama «Lied ohne Namen» (Canción sin nombre) schildert nicht nur Leid und Verlorenheit einer bestohlenen Mutter, sondern auch das Drama des Quechua Volkes, dem Georgia angehört. Tänze und Lieder erzählen davon. Konsequent in Schwarzweiss gedreht, bewegt sich der Film, basierend auf tatsächlichen Begebenheiten, jenseits bunter südamerikanischer Folklore. Ein nachhaltiges schmerzhaftes Bilderwerk aus Peru.
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Sekuritas

rbr. Nächtliche Begegnungen. Die Filmerin Carmen Stadler (Buch und Regie) hat einem Gebäudekomplex eine Stimme gegeben. Es handelt sich um das ehemalige Fabrik- und Verwaltungsgebäude der bahnbrechenden Tonbandfirma Studer-Revox in Regensdorf. Die Geschichte der Firma, die einst höchste Massstäbe in Sachen Tonbandgeräte und Wiedergabe in der Schweiz und in der Welt in den Achtziger- und Neunzigerjahren gesetzt hatte, spielt allerdings in diesem Film der Nacht keine Rolle. Der Gebäudekomplex erzählt (aus dem Off) von Bedürfnissen und dem Wunsch, noch eine Liebesgeschichte zu erleben, bevor der Abbruch droht. Wenige Menschen bewegen sich nachts in diesem labyrinthartigen Komplex. Eine Wachfrau (Kathrin Veith) stromert durch Gänge und Flure und kontrolliert. Der Putzmann (Duraqid Abbas Ghaieb) mit arabischen Wurzeln, dem sie begegnet, gefällt ihr wohl insgeheim. Sie fühlt sich angezogen, bleibt aber lange auf Distanz zum Fremden, zum Verführerischen. Der Rollentausch mit einer verträumten Sekretärin (Jeanne Devos) ist nur ein unbestimmtes Zwischenspiel. Ein Chef, der sich mit einer Abschiedsrede plagt, kommt einem kauzigen Koch näher. Menschen begegnen sich in menschenleeren Räumen, berühren sich und verlieren sich wieder. Sicher ist niemand – aber alleine offenbar auch nicht. Ein totes Gebäude lebt.
Carmen Stadler, in Dielsdorf geboren, entwirft ein irrlichterndes Szenarium – mit Lichtern, erhellenden und verlöschenden, dunklen Winkeln, Kellern, Büros, und endlosen Fluren, magisch und doch auch profan, spielerisch und poetisch. «Sekuritas» ist eine Parabel über Verlorenheit und Verliebtheit, über fragile Sicherheit und Sehnsüchte. Ein Film, wie er nicht alle Tage oder Nächte zu sehen ist.

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Überleben zwischen Leben und Tod – O Fim do Mundo

rbr. Basil da Cunha ist Schweizer mit portugiesischen Wurzeln. In seinem Film vom «Ende der Welt» (O Fim do Mundo) taucht er tief in die Favelas von Lissabon ein und erzählt vom jungen Mann Spira, der aus den ärmlichen Verhältnissen ausbrechen und die Liebe der jungen Iara gewinnen möchte. Am Anfang eine wilde Taufparty und am Ende ein Begräbniszug. So spannt sich der Lebensbogen im zweiten Spielfilm des Schweizers Basil da Cunha, 1985 in Morges geboren. Er kennt sich aus in der Favela Reboleira und blieb mit seiner Geschichte und Kamera am Puls der Zeit – in diesem Slum von Lissabon. Spira (Michael Spencer) kehrt heim – nach acht Jahren in einer Jugenderziehungsanstalt. Ihm ist Kikas, der Boss des Viertels und kleine Drogenbaron ein Dorn im Auge. Mit seinen Kumpanen, dem Träumer Chandi (Alexandre Da Costa Fonseca) und dem Kleinkriminellen Giovani (Marco Joel Fernandes) tigert Spira des Nachts durchs Viertel, das ihm fremd geworden ist, obwohl sich wenig geändert hat. Es möchte etwas verändern – etwa den Müll beseitigen und steckt ihn in Brand.
Obwohl die Menschen in diesen misslichen Lebens- und Wohnverhältnissen leben und darben, sprühen sie vor Lebensfreude – bei der Taufe wie bei einer Beerdigung (darf man da Musik machen und tanzen?). Der junge Spira, der auf seinen nächtlichen Streifzügen Menschen und ihr Verhalten beobachtet, lässt sich nichts vormachen. Er legt Hand an, scheut nicht vor Gewalt zurück. Nur so sieht er eine Chance, dieses «Ende der Welt» zu bremsen. Düster, trostlos, zerstörerisch – so beschreibt Basil Da Cunha (Buch, Kamera, Regie) eine Slum-Welt, die am Ende ist. Ein Spielfilm, der wie eine Dokumentation wirkt – ungeschönt und brutal realistisch. Schauplätze wie Darsteller sind authentisch, verschmelzen zu der Apokalypse einer verslumten Gesellschaft: Menschen am Rande.

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The Roads Not Taken
rbr. Im Leben verloren. Er döst in seinem Bett vor sich hin, lethargisch, abwesend. Irgendwie hat er den Faden zum Heute, zu seinem gegenwärtigen Leben verloren. Leo (Javier Bardem) hat den Namen seiner Tochter Molly (Elle Fanning) vergessen, verdrängt. Wer weiss das schon…? Molly kümmert sich um ihren zerrütteten, geistig verlorenen Vater In New York. Der phantasiert und stochert in seiner Vergangenheit, von Zeiten in Griechenland, von seiner Liebe zur Mexikanerin Dolores (Salma Hayek). Zusammen hatten sie einen Sohn, der bei einem Autounfall gestorben ist. Die Ehe ist daran zerbrochen, und Leo plagen Schuldgefühle. Der ehemalige Schriftsteller jagt Halluzinationen nach, irrt durch New York und träumt von Strassen, die er eben nicht gegangen ist, nicht bewältigt hat. Was hätte sein können…
Sally Potter schuf ein eindringliches, verstörendes Drama um Erinnerungen und vertane Chancen, Trauer und Verlust. Bardem, der einstige Bond-Bösewicht, ist eine Wucht in seiner störrischen Verlorenheit und wahnsinnigen Hilflosigkeit. Nicht minder überzeugen Elle Fanning als Samariter-Tochter, Salma Hayek als verlorene Ehefrau und Laura Linney als Mollys Mutter. Ein Film, der in seiner Schlichtheit und Nähe berührt und nachdenklich stimmt.
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Into the Beat – Dein Herz tanzt
rbr. Zerreissprobe. Katya (Alexandra Pfeifer) hat es nicht leicht. Sie ist ein Tanztalent und ihr Weg ist klar: Sie soll in die Fussstapfen ihres Vaters Victor Orlow (Trystan Pütter) treten bzw. tanzen. Der ist ein Star in der Ballettszene – und verletzt sich so schwer, dass es sein Karriereende bedeutet. Nun ruht all seine Hoffnung auf der Tochter, die hart in Hamburg trainiert für die Rolle des «Dornöschens» und sich um ein Stipendium an der renommierten New York Ballet Academy bewerben will. Der Druck auf die angehende Ballerina ist gross. Sie lernt einen Trupp junger Streetdancer kennen, allen voran B-Boy Marlon (Yalany Marschner), der sie quasi ins «Battle Land» einführt, der unbändigen Welt des Hip Hop, der Moves und des Streetdance. Sie ist fasziniert, teilt sich auf – vormittags Klassik, nachmittags Hip Hop. Eine Zerreissprobe, und sie weiss, dass sie sich entscheiden muss. Hier der Vater, den sie nicht im Stich lassen will, dort der charismatische Marlon, mit dem sie ein geniales Hip Hop-Paar bilden könnte; hier die Aussichten an der Academy in New York, dort ein Engagement bei den «Sonic Tiges», der weltbekannten Urban Dance-Crew, die durch die Welt tourt. Und diese Organisation sucht just weitere Mitglieder und veranstaltet deshalb eine Audition in Hamburg. Der Vater sperrt sich, verweigert seiner Tochter die Unterschrift für die Teilnahme…
Stefan Westerwelle, Regie und Drehbuch mit Hannah Schweier, arbeitete eng mit der Flying Steps Academy in Berlin zusammen, der grössten Urban-Tanzschule in Europa. Das Gros der Tänzer im Film «Into th Beat – Dein Herz tanzt» gehört zu Tanzgruppen der Flying Steps. Die Choreographie wurde von Pepita Bauhard und Jeff Jimenez, beide von der Flying Steps Academy, erarbeitet. Westerwelles erklärtes Ziel war es, keinen Revue- oder expliziten Tanzfilm zu inszenieren, sondern eine Coming-of-Age- und Liebesgeschichte zu erzählen. Es ist auch ein Film über Körpersprache und -disziplin, strenge Zuordnung und freien explosiven Tanzausdruck. Die jungen Hauptdarsteller Alexandra Pfeifer aus Stuttgart als 16jährige Katy hat Balletterfahrung und Yalany Marschner aus Berlin als Marlon ist tanzbegeistert und war schauspielerisch tätig. Beide haben ein intensives Tanz und Schauspieltraining für diese Beat-Performance absolviert. Eine exzellente Leistung. Selbst wenn man kein Anhänger von Hip-Hop und Breakdance ist, vermag Westerwelles expressive Tanzromanze zu fesseln, auch weil sie sich nicht als Tanzdrama à la Hollywood anbietet, sondern sehr realistisch und authentisch wirkt. Gedreht wurde in Hamburg, in U-Bahn- und Hafenkulissen sowie in Leipzig, wo die Balletschule und der Club Battle-Land angesiedelt wurden. Interessant ist auch, dass «Into the Beat» im Rahmen der Initiative «Der besondere Kinderfilm» entstanden ist. Ziel ist es dabei, Originalstoffe, also kein Comic- oder Buchvorlagen, für Kinder- und Familienfamilie zu realisieren. Das ist in diesem «Beat»-Fall vorzüglich gelungen – ungewöhnlich, gleichwohl publikumswirksam und visuell eindrücklich.

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Berlin Alexanderplatz
rbr. Verführt und verraten. Die Wilden Zwanziger toben – zurzeit im Zürcher Kunsthaus. Doch dort spielt Franz Biberkopf und sein Schicksal am Alexanderplatz keine Rolle. Wohl aber im Fernsehen (Arte) und im Kino. Ein kurzer Blick zurück: Alfred Döblin schrieb seinen Szeneroman «Berlin Alexanderplatz» in den Zwanzigerjahren. 1929 wurde er veröffentlich und 1931 erstmals verfilmt mit Heinrich George (Franz) und Bernhard Minetti (Reinhold). 50 Jahre später erfolgte die Ausstrahlung der Fassbinder-Fassung. RWF hatte die Geschichte vom Proleten Franz Biberkopf fürs Fernsehen verfilmt –in 14 Teilen mit Günter Lamprecht (Franz), Gottfried John (Reinhold) und Barbara Sukowa (Mieze). Diese monströse TV-Reihe, düster und dunkel von Regiegenie Rainer Werner Fassbinder inszeniert, ist nun wieder bei Arte zu sehen (leider nicht in der Schweiz zu empfangen).

Ganz anders ging Jungregisseur Burhan Qurbani zu Werke. Nach wie vor ist der Schauplatz Berlin, nach wie vor lässt sich Franz Biberkopf vom dämonischen Reinhold verführen und benutzen, wird Mieze wie auch ihr Geliebter Franz ein Opfer teuflischer Machenschaft, wird das Leben zur Hölle auf Erden. Nur verschieben die Autoren Qurbani und Martin Behnke Döblins Tragödie aus den Zwanzigern in die Gegenwart, wird Prolet Franz zum afrikanischen Flüchtling Francis. Am Ende schimmert immerhin ein Hoffnungsschimmer am Alexanderplatz auf.

In fünf Kapiteln plus Epilog erzählt das dreistündige Filmdrama von Flucht und Verlust des Flüchtlings aus Guinea-Bissau, von der Wandlung des Emigranten zum Einheimischen, vom Opfer zum Täter und Opfer. Es ist auch die Geschichte einer «verteufelten» Liebe, von blindem Vertrauen, Verrat und Böshaftigkeit, von falschem Spiel und tragischen Verhältnissen, Sehnsüchten und Scheitern. Die Neuverfilmung «Berlin Alexanderplatz» ist abgrundtief böse und brutal, schäbig und schillernd, kühn und krass, dabei zeitnah zeitlos.
In der Passionsgeschichte des Franz Biberkopf (eindrücklich gespielt von Welket Bunguë) spiegeln sich Rassismus ebenso wieder wie Emigrantenschicksale, die Sehnsucht nach Heimat und Anerkennung. Mieze (Jella Haase) verkörpert eine Art moderne Maria Magdalena, wird unschuldig schuldig, trägt Hoffnung und Verderben. Der Teufel, sprich Reinhold, zieht die Fäden, verführt, verdirbt, zerstört. Fausts‘ Mephisto ist dagegen ein Menschenfreund. Albrecht Schuch («Systemsprenger») verkörpert eben diesen dämonischen Reinhold, halb seelischer Krüppel, halb perfider Macho – eine Ausgeburt des Bösen, des Neids, der Zerstörung. Schuch wurde für seine Leistung zu Recht mit dem deutschen Filmpreis, der Lola, ausgezeichnet.
Qurbanis «Berlin Alexanderplatz» ist ein ausserordentliches, radikales Kinowerk, ein Monument in drei Stunden gemeisselt – über den Traum eines Menschen, der Guten will, aber Böses tut, über verfehlte Integration, falsche Freunde und Liebe. Kolossal.

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Canción sin nombre
rbr. Bestohlene Mutter. Peru wird um 1988 von Aufständen und Gewaltaktionen erschüttert –nach dem Ende der Militärdiktatur 1980. Georgia (Pamea Mendoza), eine junge Frau aus den Anden, hält sich mit Müh und Not über Wasser. Sie versucht auf einem Markt in Lima, Kartoffeln zu verkaufen. Sie ist liiert mit dem Hilfsarbeiter Leo und ist schwanger. Im Radio hört sie von einer Klinik, die Geburtenhilfe gratis anbietet. Der vertraut sie sich an. Doch nach einer unkomplizierten Geburt verschwindet ihr Baby. Verzweifelt sucht die Mutter das abhanden gekommene Baby, sucht Hilfe bei den Behörden, bei der Polizei und stösst auf eine Mauer von Desinteresse, Gleichgültigkeit und Ignoranz. Pedro Campos (Tommy Párrago), Reporter der Zeitung «La Reforma», erhält den Auftrag, der Sache nachzugehen, und beginnt zu recherchieren. Bald wird klar, dass hinter dem Fall System steckt. Babys verschwinden, werden verkauft und an Paare ins Ausland geliefert. Am Ende ist Georgina auf sich allein gestellt, ihr Mann ist in ein Attentat verwickelt, Pedro resigniert und schottet sich ab. In dunklen Szenen zeichnet Melina León (Regie und Buch zusammen mit Michael J. White) das düstere Bild einer desolaten Gesellschaft.
Die gesellschaftliche und politische Krise Perus bestimmt auch das Schicksal Georginas. Sie gerät in die Mühlen des Baby-Handels, der vom Staat nicht unterbunden wird. Das Drama «Lied ohne Namen» (Canción sin nombre) schildert nicht nur Leid und Verlorenheit einer bestohlenen Mutter, sondern auch das Drama des Quechua Volkes, dem Georgia angehört. Tänze und Lieder erzählen davon. Konsequent in Schwarzweiss gedreht, bewegt sich der Film, basierend auf tatsächlichen Begebenheiten, jenseits bunter südamerikanischer Folklore. Ein nachhaltiges schmerzhaftes Bilderwerk aus Peru.
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O Fim do Mundo

rbr. Basil da Cunha ist Schweizer mit portugiesischen Wurzeln. In seinem Film vom «Ende der Welt» (O Fim do Mundo) taucht er tief in die Favelas von Lissabon ein und erzählt vom jungen Mann Spira, der aus den ärmlichen Verhältnissen ausbrechen und die Liebe der jungen Iara gewinnen möchte. Am Anfang eine wilde Taufparty und am Ende ein Begräbniszug. So spannt sich der Lebensbogen im zweiten Spielfilm des Schweizers Basil da Cunha, 1985 in Morges geboren. Er kennt sich aus in der Favela Reboleira und blieb mit seiner Geschichte und Kamera am Puls der Zeit – in diesem Slum von Lissabon. Spira (Michael Spencer) kehrt heim – nach acht Jahren in einer Jugenderziehungsanstalt. Ihm ist Kikas, der Boss des Viertels und kleine Drogenbaron ein Dorn im Auge. Mit seinen Kumpanen, dem Träumer Chandi (Alexandre Da Costa Fonseca) und dem Kleinkriminellen Giovani (Marco Joel Fernandes) tigert Spira des Nachts durchs Viertel, das ihm fremd geworden ist, obwohl sich wenig geändert hat. Es möchte etwas verändern – etwa den Müll beseitigen und steckt ihn in Brand.
Obwohl die Menschen in diesen misslichen Lebens- und Wohnverhältnissen leben und darben, sprühen sie vor Lebensfreude – bei der Taufe wie bei einer Beerdigung (darf man da Musik machen und tanzen?). Der junge Spira, der auf seinen nächtlichen Streifzügen Menschen und ihr Verhalten beobachtet, lässt sich nichts vormachen. Er legt Hand an, scheut nicht vor Gewalt zurück. Nur so sieht er eine Chance, dieses «Ende der Welt» zu bremsen. Düster, trostlos, zerstörerisch – so beschreibt Basil Da Cunha (Buch, Kamera, Regie) eine Slum-Welt, die am Ende ist. Ein Spielfilm, der wie eine Dokumentation wirkt – ungeschönt und brutal realistisch. Schauplätze wie Darsteller sind authentisch, verschmelzen zu der Apokalypse einer verslumten Gesellschaft: Menschen am Rande.

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Pinocchio
rbr. Lernprozess für einen Holzkopf. Eine wohlbekannte Figur aus der Kindheit (oder später) taucht wieder auf – quicklebendig, neugierig und abenteuerlustig. Der Knabe mit Holzkopf erblickte 1881 das Licht der Zeitungswelt. Der Autor Carlo Collodischickte den Holzbuben Pinocchio auf Abenteuer, publiziert als Fortsetzungsgeschichten in einer italienischen Kinderzeitschrift. Inzwischen hat der jugendliche Held manchen Auftritt gehabt, im Disney-Trickfilm (1940), als Animationsserie (1976), Fernseh- oder im Kinofilm 2002 mit Roberto Benigni als Pinocchio. Nun ist der Schauspieler in der Verfilmung vonMatteo Garrone in die Rolle des Tischlers Geppetto geschlüpft, der die lebensechte Marionette geschnitzt hat. Der arme Handwerker wundert sich über alle Massen, als die Puppe tatsächlich lebendig wird, spricht und schneller lernt, als man laufen kann. Der Knilch (Federico Ielapi), von seinem Vater Geppetto mit Schulfibel ausgerüstet, schwänzt die Schule und macht sich auf Erkundungen. Er lernt dabei nicht nur Fuchs und Katze (Massimo Ceccherini und Rocco Papaleo), ein durchtriebenes Gaunerpärchen, kennen, sondern erfährt auch, was es heisst zu lügen. Dann nämlich – wir wissen es –verlängert sich seine Nase! Pinocchio wird von der Grille (Davide Marotta) gewarnt und schlägt doch ihre Ratschläge in den Wind. Er landet vor dem affenartigen Richter (Teco Celio), kommt frei und sucht das Haus eines Vaters auf, doch der ist selber auf der Wanderschaft und sucht seinen Zögling. Wäre da nicht die gute Fee Fata Turchina (Marine Vacth), wer weiss, was aus dem Bruder Leichtfuss geworden wäre… Filmautor Matteo Garrone hat sich recht nah an der literarischen Vorlage Collodis gehalten und lässt die Geschichte Ende des 19. Jahrhunderts spielen, ein wenig mit modernen Zutaten gespickt. Die Figuren – vermenschlicht von der Grille über den Richter bis zur Schnecke – sind märchenhaft ausstaffiert. Gleichwohl ist die neuste Pinocchio-Belebung kein Märchenfilm im herkömmlichen Sinn, sondern eine Entwicklungsgeschichte, ein Lernprozess mit erhobenem Zeigefinger. Der Lügner wird geläutert, aus dem Lausbub wird ein rechtschaffener Knabe. Schön anzusehen. Gedreht wurde in der Toskana (Siena), in Apulien und Latium (Stadt Viterbo). Der Name Pinocchio setzt sich übrigens aus den italienischen Worten pino (Pinie), pinco (Dummkopf) und occhio (Auge) zusammen.
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Thalasso
rbr. Zwei komische Käuze in Kur. Der Titel deutet es an: Es geht um eine Kur, aber nicht im Sinne einer traditionellen Behandlung und Gesundung, sondern um ein Zusammentreffen zweier komischer Käuze unter Kurbedingungen. Eine Thalasso-Behandlung basiert auf Meerwasser, kalt und warm, Meeresluft, Schlick, Sand usw. Nun begibt sich also ein gewisser Michel (Michel Houellebecq) zur Kur in Cabourg, Normandie, die ganz und gar nicht nach seinem Geschmack ist: kein Alkohol, keine Zigaretten, aber Diät usw. Das hält selbst das Enfant terrible der französischen Literatur nicht lange aus. Zum Glück findet Houellebecq einen Bruder im Widerstandsgeiste, den exilierten Schauspielerstar Gérard (Gérard Depardieu). Zusammen umgeht man so manches Verbot, gönnt sich eine Flasche und mehr. Zwei Schelme in Kur. Michel kann endlich einem verständigen Zuhörer seine Absicht, französischer Staatspräsident zu werden, vermitteln. Man tauscht sich aus, plaudert, referiert, philosophiert über Öffentliches und Privates, über Sein und Schein, kurz über Gott und die Welt. Die beiden Berufsprovokateure, hier der Literat, der gern aneckt, dort der Schauspieler, dem Putin näher ist als Macron, haben sich behaglich eingerichtet. Doch die intellektuelle Idylle wird gestört, als eine bekannte Bande auftaucht: Die einstigen Houellebecq-Entführer suchen Françoise (Françoise Lebrun), die Mutter, die mit ihrem Lover ausgerissen ist. Und Michel soll vermitteln, Françoise zurück in den Schoss der Familie holen…

Die Vorgeschichte, nämlich Michels angebliche Entführung, wurde bereits 2014 von Guillaume Nicloux filmisch zubereitet. Wie «L’enlévement de Michel Houellebecq» ist auch «Thalasso» (2019) als schelmische, halbdokumentarische Konversationskomödie angelegt. Auch ohne die vorgängige Entführungsposse gesehen zu haben, funktioniert der Kurcrash «Thalasso». Man muss kein Literaturexperte sein, um dem Techtelmechtel des Starpärchens Houellebec – Depardieu beizukommen. Die beiden spielen sich quasi selbst. Dabei glänzt vor allem Schöngeist Houellebecq mit komödiantischem Talent. Literatur ist so gut wie kein Thema. Das ist ironisch-amüsant und pfiffig-verschmitzt inszeniert, aber auch platt, wenn beispielsweise Rocky alias Sly (Jade Roberts) auftaucht. Am Ende löst sich die schöne Groteske in Luft auf. Man könnte Gefallen am Clinch der beiden hochkarätigen «Spitzbuben» finden, man kann sich auch fragen, was will uns «Thalasso» sagen? Gesund im Geist, subversiv in der Einschränkung, letztlich befreit und bereit für neue Schelmereien? Oder wollten sich Regisseur Nicloux und die ganze Bande inklusive subversiver Helden nur einen Spass machen…?
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Hope Gap
I.I. Wer wir sind und wer wir waren. Nach 29 gemeinsamen Jahren beschliesst Edward (Bill Nighy) seine Ehe mit Grace (Annette Bening) zu beenden, weshalb er seinen Sohn Jamie (Josh O’Connor) ins Elternhaus ins englische Küstenstädtchens Seaford einlädt und seiner Frau eröffnet, sie zu verlassen. Die Trennung macht nicht nur Grace zu schaffen, sondern auch Jamie, der zwischen den Fronten zu vermitteln versucht, um sich mit Empörung, Fassungslosigkeit und Wut auseinanderzusetzen. Antworten zu finden ist nicht einfach, der Weg zum Verständnis scheint schwierig, dennoch ist es eine Geschichte von Hoffnung und Vergebung. Der wortkarge Edward hat mit Angela (Sally Rogers) eine Frau gefunden, die ihn so akzeptiert, wie er ist. Von Grace fühlte er sich ständig beurteilt und hatte das Gefühl, nie etwas richtig machen zu können. Der temperamentvollen Grace fehlt das Gegenüber, welches ihr die Leerstelle in ihrem Leben bewusstmacht und sie in eine tiefe Sinnkrise bringt. Wie Annette Bening diese Gefühlswelten widerspiegelt, ist eine phänomenale schauspielerische Leistung (Regie: William Nicholson). Sie steht an den zerklüfteten Felsen von Hope Gap und sinnbildlich auch an den Klippen ihres Lebens. Es ist letztendlich ihr Sohn Jamie, der ihr mit sensitivem Einfühlungsvermögen hilft, die Lebenskrise zu überwinden, mit ihr in die Vergangenheit abtaucht und ihr ihre Stärken bewusst macht. Und durch die Krise seiner Eltern selbst eine Reifung erfährt. Ein zärtlicher, schöner und berührender Film!

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Un monde plus grand

rbr. Sprituelle Reise. Eine Frau sehnt sich nach Trost. Corine (Cécile de France) sucht nach dem Tode ihres Mannes das Weite und reist von Paris in die Mongolei, um dort ethnografische Gesänge aufzunehmen. Die Reporterin will Rituale der Schamanen dokumentieren, hofft gleichzeitig wie einst die Liebenden Orpheus und Eurydike auf ein Wiedersehen, eine Wiederbegegnung mit ihrem Mann. Dolmetscherin Naraa führt Corine zur Schamanin Cyun (Tserendarizav Dashnyam). Bei einem Trommel-Ritual beginnt Corine fällt in Trance. Cyun erkennt die besondere Begabung der Französin und rät ihr eindringlich, sich als Schamanin ausbilden zu lassen. Corine ist verunsichert und kehrt in ihre Heimat zurück. Dort bemerkt sie selber, dass sie in bestimmten Situationen (Ritualen) eine rätselhafte Kraft beherrscht. Abermals reist sie in die Mongolei, um noch tiefer in diese spirituelle Welt einzutauchen.
Der semidokumentarische Film «Un monde plus grand» («Eine grössere Welt») basiert auf den Erlebnissen der Ethnoforscherin Corine Sombrun, die um 2001 das Schamanentum erkundete und versuchte, Trance als wissenschaftliches Phänomen zu etablieren. Der mongolische Schamanismus ist eine traditionelle Religion, die sich auf Medizin, Ahnenkult, Natur- und Götterverehrung bezieht. Schamanen dienen als Vermittler zu Göttern und Geistern. Die Ethnomusikerin Corine Sombrun avancierte zur Spezialistin für Schamanentum und bereiste über Jahre immer wieder die Mongolei. Ihre eigenen Erfahrungen spiegeln sich in den Büchern «Tagebuch eines Schamanenlehrlings» (2004) und «Meine Initiation mit Schamanen» (2004) wieder. Zusammen mit Neurologen und Gehirnforschern hat sie es sich zur Aufgabe gemacht, kognitive Trance zu verstehen und für therapeutische Zwecke zu nutzen. Die französische Autorin, Schauspielerin und Regisseurin Fabienne Berthaud hat Sombruns Mission und spirituelle Ambitionen verfilmt und versuchte, nah an der Wirklichkeit zu bleiben. Sie setzte mongolische Laiendarsteller ein, so spielt die Dolmetscherin sich selber.
Ein aussergewöhnlicher Film faszinierender und verblüffender Begegnungen. Die spirituelle Reise, nah am Dokumentarfilm, verklärt sich und wird teilweise zur Romanze. So oder so – Berthauds sehenswerter Film schert aus und liegt doch im Trend eines neuen Naturalismus, beschwört Nähe zur Natur und zu Naturkräfte.
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Notre Dame
rbr. Eine Liebeserklärung. Man könnte meinen, Valérie Donzelli (Regie und Buch) hätte eine Vorahnung gehabt, als sie ihre Lebens- und Liebesgeschichte um Notre Dame ansiedelte, der weltbekannten Pariser Kathedrale, lange vor dem verheerenden Brand im April 2019. Donzelli hat der grossen Kathedrale unverhofft ein filmisches Denkmal gesetzt. Die Filmerin war nach der Brandkatastrophe natürlich schockiert: «Ich war am Boden zerstört. Ich habe ein Denkmal gefilmt, das ich liebe. Ich lebte mit Notre-Dame während des gesamten Schreibprozesses des Films.»
Donzellis Idee: Die Schönheit der Stadt an der Seine zu zeigen, gleichzeitig die Geschichte eines architektonischen Versagens zu beschreiben. Maude Crayon, von Valérie Donzelli burschikos charmant und liebevoll verkörpert, hangelt sich als angestellte Architektin durch ihr turbulentes Privatleben. Sie betreut zwei Kinder im Teenageralter, muss sich mit dem hochnäsigen Chef Greg (Samir Guesmi) herumschlagen und hat zudem ihren Ex, den nach wie vor in sie verliebten Schlendrian Martial (Thomas Scimeca), am Hals. Diesen Vater ihrer Kinder möchte sie am liebsten loswerden, doch die Gutherzige schafft das nicht. Dazu schlägt ihr Herz wieder heftig für ihre Jugendliebe Bacchus Renard (Pierre Deladonchamps), der sie zufällig über den Weg läuft. Und dann ist da noch dieser Wettbewerb um die Gestaltung eines Platzes vor Notre Dame. Wundersam findet Mauds spielerisches Modell doch Einlass in die Ausschreibung. Die zickige Bürgermeisterin von Paris (Isabelle Candelier) ist begeistert: Maud und ihrem gemütlichen Kollegen Didier (Bouli Lanners) werden 121 Millionen Euro für die Realisierung zur Verfügung gestellt. Doch plötzlich werden Vorwürfe laut: Verschiedene Elemente des Parks und Spielplatzes seien sexistisch, mokiert man, erinnere an einen Phallus …
Mauds privates wie berufliches Märchen scheint jäh zu enden, aber Regisseurin Valérie Donzelli hat ein Herz für ihre Lieblingsfrau und fügt magische Elemente hinzu. Die märchenhafte burleske Liebes und Sozialkomödie kennt keine Grenzen, wird Romantiker, Alt-und Jungverliebte entzücken und liefert dazu ironische Spitzen gegen eine bürgerliche Gesellschaft, Einsichten über die alte Streitfrage um Karriere und Familie. Fazit: Eine Liebeserklärung an die legendäre «Dame von Paris». – liebenswert.

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Der wunderbare Mr. Rogers
I.I. Die Filmbiografie «A Beautiful Day in the Neighborhood» erzählt von Fred Rogers, dem Gastgeber und Erfinder des beliebten amerikanischen Kinderfernsehprogramms Mister Rogers’ Neighborhood. Der Journalist Lloyd Vogel (Matthew Rhys) soll ein Interview mit dem legendären Moderator der Sendung `Mister Roger’s Neighborhood‘ führen. Widerstrebend nimmt der kritische Journalist den Auftrag an, doch in ihren Gesprächen können die beiden viele Gemeinsamkeiten feststellen. Es ist der Beginn einer tiefen und langen Freundschaft. Das Filmdrama beruht auf dem Zeitungsartikel «Can You Say. . . Hero?» des Journalisten Tom Junod im Esquire aus dem Jahr 1998, der Fred Rogers, einen US-amerikanischen Fernsehmoderator, Musiker, Puppenspieler und Produzent interviewte, der vor allem als Hauptdarsteller und Autor der Kinderserie «Mister Rogers’ Neighborhood» bekannt wurde.
Am 1. Mai 1969 musste Rogers vor dem Senat aussagen, um die Finanzierung seiner Serie zu sichern. Rogers erzählte hierbei, was er mit der Serie erreichen wollte und trug ein Lied vor, um so Senator John O. Pastore davon zu überzeugen, 20 Millionen US-Dollar für den Public Broadcasting Service und öffentliche Medien bereitzustellen. Pastore hatte die Sendung zwar nie gesehen, war jedoch von den Ausführungen überwältigt. Die Rede von Fred Rogers gilt als einer der ikonischsten Momente in der Geschichte öffentlicher Medien.
Oscarpreisträger Tom Hanks ist in der Hauptrolle als der sympathische Fred Rogers zu sehen. Bei der Premiere des Films sagte Hanks, Rogers habe die drei Geheimnisse des Glücks gekannt: «Sei nett, sei nett und sei nett. Ganz ehrlich, wahre Freundlichkeit liegt in den kleinen Gesten. Beispielsweise zu verstehen, dass die Person, die Sie bedient oder Ihr Benzin tankt, möglicherweise einen genauso schlechten Tag hatte wie Sie. Wer das versteht, ist nett». Vielleicht sogar auch etwas weise…
Regie des anrührenden Goodfeel-Movies führte die kalifornische Schauspielerin, Drehbuchautorin und Regisseurin Marielle Heller (*1979). Das Drehbuch schrieben Micah Fitzerman-Blue und Noah Harpster. Die Filmmusik wurde von Nate Heller, dem Bruder der Regisseurin, komponiert. Der Soundtrack, der insgesamt 19 Musikstücke umfasst, darunter auch das von Tom Hanks gesungene «Won’t You Be My Neighbor?», wurde am 15. November 2019 von Sony Classical als Download veröffentlicht.

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Richard Jewell
rbr. Amerikanischer Rufmord. Eben noch gefeierter Held und morgen schon Täter und Terrorist. Der Fall ereignete sich im Sommer 1996 während der Olympischen Sommerspiele in Atlanta. Der ehemalige Polizist und Wachmann Richard Jewell entdeckte im Olympiapark einen verdächtigen Rucksack. Er gab Alarm, liess den unmittelbaren «Tatort» evakuieren und konnte eine grössere Katastrophe verhindern. Zwei Menschen starben, 111 wurden verletzt.
Der korpulente Retter, der noch bei seiner Mutter lebte und eine umfangreiche Waffensammlung besass, wurde als Held gefeiert. Doch nur wenige Tage später drehte der Wind: Aufgrund vager Vermutungen, von einer Journalistin geschürt, kam das FBI ins Spiel, verdächtigte den Helden, nahm seine Lebensumstände, sein Verhalten, seine Ambitionen und Macken schärfstens unter die Lupe.
Ein Fall hochgradigen Rufmords, made in USA. Der alte Italo- und Hollywood-Haudegen Regisseur Clint Eastwood (90) rollt die Geschichte Richard Jewells aus dem Jahr 1996 neu auf. Richard Jewell (exzellent verkörpert durch Comedian Paul Walter Hauser) ist einerseits ein umsorgtes Muttersöhnchen, andererseits ein eifriger Law-and-Order-Idealist und Waffenliebhaber. Er war Polizist, wurde entlassen und wäre gern ein toller Cop, vielleicht FBI-Agent geworden. Durch sein Eingreifen im Centennial Olympic Park von Atlanta wurde er zum Medienhelden. Die ehrgeizige Journalistin Kathy Scruggs (Olivia Wilde) machte ihr Ding, köderte den FBI-Agenten Tom Shaw (Jon Hamm) mit sexuellen Avancen, um an Ermittlungsergebnisse zu kommen, und stellte Vermutungen an. Ist Richard Jewell wirklich sauber? Die Ermittlungsbehörden schossen sich ebenso wie viele Medien auf den vermeintlichen Retter ein, linkten den Verdächtigen und verschonten auch dessen Mutter Bobi (Kathy Bates) nicht. Der Biedermann wurde zum Opfer, vorverurteilt und gebrandmarkt. Allein sein Anwalt Watson Bryant (Sam Rockwell), auch er ein Aussenseiter, hielt zu ihm.
Clint Eastwood und sein Autor Billy Ray geben sich alle Mühe, Entwicklung und Leiden des Helden darzustellen, die ihm in der Öffentlichkeit und hinter FBI-Türen zugefügt wurden. Das gelingt auch über weiter Strecken – auf spröde Art made by Eastwood. Ein aktuelles Justizdrama in Zeiten Trumpscher Fake-Posen und Lügen, verheerender Social-Medien-Auswüchsen und Vorurteilen. Dazu hätte es aber nicht fragwürdiger dramaturgischer Tricks bedurft. Reporterin Scruggs, bändelt im Film mit dem FBI-Agenten Tom Shaw an: Sex gegen News. Beide Figuren sind zwar real, wurden aber in diesem abschreckenden Rufmord-Fall zu schmutzigen Mittätern umfunktioniert. Das tut dem Drama nicht gut.

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to be continued

 

 

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