FRONTPAGE

«Marion Löhndorf: Geschüttelt, aber ungerührt. Was England anders macht»

Von Ingrid Schindler.

 

Warum Brighton rockt, Oxbridge die Karriere garantiert, das Glück in Gummistiefeln steckt und eine Tasse Tee ein Allheilmittel ist. Marion Löhndorf erklärt in ihrem neuen Buch das Wesen der Engländer. Alles andere als langweilig.

Das nächste Pale Ale im Pub kommt bestimmt. Auch wenn es aktuell immer noch schwierig ist, als Kontinentaleuropäer auf die Insel zu reisen, und Umwege via Amsterdam, tonnenweise Tests und Bürokratie das Reisen schwer machen. Bis dahin verkürzt einem das kleine blaue Büchlein die Zeit, das unter dem bescheidenen wie klassisch-edlen Buchdeckel dem Leser die Insel so nahebringt, als wäre man gerade im Pub. Beste Vorbereitung für den nächsten Aufenthalt in Good old England also.

«Der Pub ist eine Institution und mehr noch eine Idee, auf die sich das ganze Vereinigte Königreich plus Irland einigen kann», schreibt Marion Löhndorf. Eine entspannte, tröstliche Grossartigkeit, ein neutraler Boden, auf dem sich ungeachtet der erheblichen Klassenunterschiede alle Schichten begegnen und austauschen können. Am liebsten ist das Public House ein schummriger Ort, ohne Musik, unprätentiös, unrenoviert, bodenständig, ein Ort, an dem man in randlos gefüllten Gläsern zimmerwarmes Ale und Porter aus Kleinstbrauereien namens Geisterschiff oder Gefallener Engel konsumiert.

 

Klar, das weiss der Englandkenner wie Novize längst, aber man lernt bei Löhndorf eine ordentlich Portion Insiderwissen darüberhinaus. Schon allein der Wortschatz, der ums Trinken bis zur Besinnungslosigkeit, Binge drinking, kreist, ist beachtlich.

 

Nicht nur der Pub als wichtigste britische Freizeitlocation, auch der Fussballplatz, der Garten, die Picknick-Oper auf der grünen Wiese, die Kochsendung oder der exklusive Club, die Autorin lässt kaum einen locus amoenus aus, an dem sich der Brite von der Arbeit erholt.

Apropos, bei den Posh, der Oberschicht, heisst das stille Örtchen «loo» und nicht etwa toilet – damit man sich im Fall des Falls nicht blamiert. Denn die Sprache verrät, aus welcher Schicht man herkommt. «Noch heute gilt die Sprechweise – der richtige – Akzent – als ein Indikator der gesellschaftlichen Positionierung.» Und um es abzukürzen, die Upperclass, die Aristokratie geben noch immer den Ton an, «die Briten streben nach allem, was die Adligen wollen».

 

England ist Klasse
In anregenden Kapiteln wie «England ist Klasse: von der Schwierigkeit, aufzusteigen» oder «Langeweile verboten: vom Umgang miteinander» setzt sich Löhndorf in interessanten Essays mit den Eigenheiten des skurillen Volks jenseits des Kanals auseinander. Klischees werden bedient, aber immer in historischen, soziologischen, gesellschaftspolitischen Kontext gestellt und fundiert analysiert.

Besonders spannend lesen sich die Ausführungen bezüglich des Bewahrens der Klassengesellschaft, der Macht der Eliten und des Beharrens auf Traditionen, dem eine unbändige Lust am Brechen, Biegen oder Austricksen von Regeln gegenübersteht. Mässigung und Disziplin einerseits, Exzess andererseits. «Nichts ist so erfolgreich wie Exzess», konstatierte schon Oscar Wilde.

In «Geschüttelt, aber ungerührt» versucht Marion Löhndorf fundiert die Frage zu beantworten, warum die Engländer so anders sind. Sie darf das, denn sie kennt ihre Pappenheimer nicht nur aus dem Pub, sondern aus langer, eigener, beruflicher Erfahrung und Anschauung. Sie lebt seit über zehn Jahren als Kulturkorrespondentin für die NZZ in London. Zuvor war sie für die FAZ, die dpa u.a. in London tätig. Eine Literaturliste im Anhang lädt zur Vertiefung der Thematik ein.

Fazit: Das blaue Büchlein liest sich gut. Wer ein Faible für die Insel hat, dem wird das Buch gefallen und jede Menge spannender Details erfahren. Die Essaysammlung ist in jedem Fall ein Beitrag zur Völkerverständigung. Am Ende hat man die Engländer trotz Brexit fast schon wieder lieb. Das tut in Zeiten verhärtender Fronten gut.

 

 

Marion Löhndorf
Geschüttelt, aber ungerührt
Was England anders macht.
Zu-Klampen-Verlag, 2021.
240 S., CHF 33.90. € 22.

 

 

«Harry Benson: Prachtvoller Bildband über die Beatles» 

I.I. Die Beatles aus der Hafenstadt Liverpool sind die Ikone der 60er Jahre, von der Queen 1965 mit dem MBE-Orden ausgezeichnet.  Sie prägten bis heute eine ganze Epoche. Bensons atmosphärischen schwarz-weiss-Fotos zeigen die Beatles hautnah aus nächster Nähe beim Komponieren und auf der Bühne, mit ihren Fans und ganz privat. Seine Bilder prägten die Popgeschichte. Dieser prachtvolle Bildband versammelt viele bisher unveröffentlichte Fotos und ist für jeden (England)-Fan ein Must-have.

 

Anfang 1964 erhielt der Fotograf Harry Benson einen Anruf des Bildredakteur des Londoner Daily Express, der Benson bat, eine Paris-Reise der Beatles zu dokumentieren. Der Auftrag war der Anfang der engen Beziehung zur Band, die Bensons Karriere begründete und aus der einige der intimsten Bilder entstanden, die je von den Beatles gemacht wurden.

 

Beatlemania: Unterwegs mit den Fab Four
In Paris schoss Benson das berühmte Foto von den Fab Four bei einer Kissenschlacht im Hotel George V, ein Bild, das Benson selbst einmal als bestes seiner Karriere bezeichnete. Später im selben Jahr begleitete er mit der Kamera die erste US-Tour der Band, inklusive ihrem Auftritt in der Ed Sullivan Show, ihrer überraschenden Begegnung mit Cassius Clay und der Hysterie der New Yorker Beatlemania. Ausserdem hielt er George Harrisons Flitterwochen auf Barbados für die Nachwelt fest. Er dokumentierte die Beatles bei den Dreharbeiten zu ihrem Debütfilm «A Hard Day’s Night» und war bei der inzwischen berüchtigten Tournee von 1966 zugegen, auf der John Lennon behauptete, die Beatles seien „populärer als Jesus“.

 

In diesem Buch sind die besten von Bensons atmosphärisch dichten s/w-Bildern versammelt. Dazu gibt es Zitate und Zeitungsausschnitte aus der damaligen Zeit und eine Einleitung von Benson selbst, in der er seine persönliche Sicht auf die Aufnahmen darlegt, die Zeitgeschichte schrieben.

 

Harry Benson hat jeden US-Präsidenten seit Eisenhower fotografiert, er dokumentierte das Civil Rights Movement der 1960er Jahre und war neben Robert Kennedy in Los Angeles 1968, als er ermordet wurde. Aus Bensons Kamera stammen viele hervorragende Porträts von Prominenten wie den Beatles, der Queen, Elizabeth Taylor und Michael Jackson. 2009 wurde der geborene Schotte, der in New York und Florida lebt, zum Commander of the British Empire (CBE) ernannt.

 

 

 

Harry Benson
THE BEATLES
Taschen Verlag, Köln
Hardcover, 22,4 x 31,6 cm, 272 S.,
Deutsch, Englisch, Französisch. CHF 40.
ISBN 978-3-8365-5767-2

 

 

 

«Sally Rooney: Schöne Welt, wo bist du»

 

Die literarische Stimme der Millenials schlägt zum dritten Mal zu. Der gewohnte Rooney-Sound bricht wieder alle Bestsellerrekorde. Wie sich «Schöne Welt, wo bist du» in den Augen eines Silver Agers liest.

 

Wir waren alle mal jung, intellektuell oder pseudointellektuell, gesellschaftskritisch, rebellisch, kämpferisch, engagiert. Wir waren Gretas, Klima- bzw. Umweltaktivisten, Anti-AKW-Demonstranten, für Pille, Abtreibung und Abrüstung. Wir hatten keine Handys, Laptops, Screamingdienste, Clouds, DatingApps und Social Media. Wir verteilten Flugblätter, lasen Kampfschriften, schrieben Briefe und diskutierten die Essays und Reden von Dichtern und Denkern. Wir erschöpften uns nicht in Kurznachrichten und müllten uns nicht tage- und nächtelang mit Mails, Tweets, Chats, Instas und Tonnen getunter, selbstverliebter Ego-Fotos und denen von Algothymen gesteuerter Friends voll.

Wir hatten echte Freunde, die wir live in der Kneipe und im echten Leben trafen. Es war eine geile Zeit, möchte man rufen. Wir hatten Sex ohne Sicherheit und Tabus.
Aber um Vergleiche geht es nicht. Auch wenn sie sich aufdrängen und man sie den pessimistisch-depressiven, im digitalen Hier und Jetzt verorteten Heldinnen von Rooneys’ «Schöne Welt, wo bist du?» entgegenrufen möchte, während man sich durch deren intellektuelle Ergüsse quält. Es geht um die Literatur einer jungen Starautorin.

 

 

Schiller lässt grüssen
Nun also Rooney. Muss man sich ihre Werke als Best Ager antun? Es handelt sich um die erfolgreichste Stimme der englisch-irischen Literatur der Generation Millenials. Geboren 1991 in Castlebar kann die in Dublin lebende, selbsternannte Marxistin und mit Preisen überhäufte Bestsellerautorin den Hype um ihre drei Romane selbst nicht verstehen. Als Studentin wurde sie 2015 von einer Agentin entdeckt und ihr erstes Manuskript zu einem unerhörten Vorschuss versteigert. Sowohl der Erstling «Gespräche unter Freunden», als auch der nachfolgende Titel «Normale Menschen» schlugen ein.
Zurück zur Frage. Nein, muss man nicht, ausser man will erfahren, wie die heutige Generation der 20- bis 30Jährigen tickt. Genau die Titelfrage stellt sich: «Schöne Welt, wo bist du?» Ein kluger Titel, gut gewählt. Die Suche nach dem vergangenen, wahren Schönen formuliert allerdings nicht Rooney originär, sondern Friedrich Schiller 1788 im Gedicht «Die Götter Griechenlands». Rooney greift das Klischee «Früher war alles besser» auf und spielt damit. Wer darauf reinfällt, ist selbst schuld – und verkennt die Raffinesse des Romans, mag sich die Schelmin gedacht haben.
Ob die Autorin in ihrem Romankonstrukt tatsächlich Handlung und Personen, Gefühle und Gedanken raffiniert zu verweben vermag, erschliesst sich nicht einfach so. Man muss schon genau und mit Verstand lesen, gibt einem die Autorin an die Hand. Schiller ist nicht der einzige Grossliterat, auf den sich die Irin bezieht; ihre gebildeten Heldinnen lesen «Die Brüder Karamasow», zitieren Rilke oder parlieren über die «Demoiselles d’Avignon» und «Kind of Blue». Doch nun endlich zur Story.

 

 

Banalitäten im Rooney-Sound
Der Roman dreht sich um die Freundinnen Alice und Eileen, beide Anfang Dreissig wie die Autorin. Alice ist Erfolgsschriftstellerin und hat sich aus Dublin aufs Land zurückgezogen, mental und psychisch ausgelaugt. Eileen, die eigentlich Erfolgversprechendere, hat es «nur» zur Redakteurin in einem Literaturverlag gebracht. Sie lebt in Dublin, weshalb die beiden lang und breit per E-Mail miteinander verkehren. Nur einmal treffen sie sich tatsächlich.
Die beiden Frauen tauschen sich in intellektueller Attitüde über alles aus, was sie bewegt: Konservatismus, Klassenunterschiede, Politik, Gleichberechtigung, Freundschaft, ihre sich anbahnenden Beziehungen zu Männern. Alice verbandelt sich schliesslich mit dem Lagerarbeiter Felix, Eileen bandelt wieder mit ihrem seit der Jugend angebeteten Ex, dem fünf Jahre älteren Juristen Simon, an. Bindungsängste, Liebe, Sex, der ganze Beziehungskisteneiertanz junger Leute, werden in aller Breite durchgekaut. Wir lesen die Banalität des Alltäglichen in humorfreier Besetzung, elektronisch voll ausgestattet und im typischen, aus den Vorgängern bekannten Rooney-Sound.

 

 

Ein Selbstporträt?
Die Ähnlichkeit der Autorin mit ihrer Protagonistin Alice fällt auf und ist nach Rooneys eigenen Worten beabsichtigt. Das passt in die moderne Gegenwartsliteratur, die das Autoren-Ich mehr oder weniger gebrochen zum Sujet macht. Dem «SPIEGEL» gestand Rooney, dass mit Alice eine gewisse Deckungsgleichheit bestehe: «Ich hatte das Gefühl: Das bin ich. Das ist mein Leben. Das kommt direkt aus meinem Herzen.»
Alice bekommt für ihren Erstling ebenfalls eine unglaublich grosse Geldsumme und wird als literarische Entdeckung gefeiert. Wie Rooney selbst hadert sie mit dem Erfolg und stellt der gegenwärtigen Literaturszene ein vernichtendes Urteil aus, da sie normale Menschen abwerte. So lautet nicht zufällig der Titel von Rooney’s zweitem Roman, den die Literaturkritik nicht nur feierte.
Soll man es als Empfehlung an ihre Leser begreifen, wenn die Schriftstellerin Alice ihrer Freundin Eileen mitteilt, „Ich persönlich muss sehr bewusst handeln, wenn ich lese und verstehen will, was ich lese, und mir alles lange genug merken will, um im Verlauf des Buchs des Sinn des Ganzen zu erschliessen.“? Lesen sei keineswegs ein passiver Prozess, bei dem sich Schönheit ohne Zutun vermittle. Vielmehr eine konstruktive Leistung, deren Ergebnis die Erfahrung von Schönheit sei.
In altmodischer, dahinplätschernder Briefromanform tritt der hohe literarische Anspruch der Zeitgeistautorin zutage, den diese in unaufgeregt kühler, unauffälliger Sprache ihren Protagonistinnen in die Tastatur getippt hat. Der Wechsel der Perspektiven zwischen Innen und Aussen verleiht der Story keinen zusätzlichen Reiz. Der Verdacht liegt nahe, dass Alice und Eileen zwei Seiten der ein und derselben Person sind. Eine Vertiefung des Psychogramms der sich in Selbstzweifeln und Beziehungsgeflechten verstrickten Heldinnen im Lauf ihrer schier endlosen Diskursen erwartet man vergebens.
Fazit: Ein Buch für junge Leser oder solche, die in die alltäglichen Nöte, Themen und Kommunikationswege normaler, junger Menschen eintauchen wollen. Natürlich waren wir nicht klüger, besser usw., natürlich waren wir Älteren ebenso in unseren Liebesfreuden und -leiden hin- und hergerissen, unsicher, unschlüssig. Aber anders. Das digitale Zeitalter war noch nicht angebrochen. Wir hingen an der Nabelschnur des Telefons statt am eigenen Nabel. Es war nicht die Zeit der permanenten, obsolet-obsessiven Selbstbesessenheit. Wir waren freier, sprühender, bewegter – und, aus unserer Sicht, aufregender zu lesen.

 

 

Sally Rooney
Schöne Welt, wo bist du
Aus dem Englischen von Zoë Beck
Claassen Verlag, Berlin 2021
352 S., CHF ca. 30, € 20

ISBN 978-3-546-10050-2

 

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