FRONTPAGE

«Colson Whitehead: Harlem Shuffle als Hommage an New Yorks berühmtestes Viertel»

Von Ingrid Isemann

 

Der Roman von Colson Whitehead spielt im Harlem der 60er Jahre und trifft grandios die Atmosphäre New Yorks berühmtesten Stadtteils. Ein soziologisches Ganovenstück über einen Mann, der versucht, ehrlich zu bleiben. «Crossroads» von Jonathan Franzen ist der zweite amerikanische Roman, den wir Ihnen vorstellen, eine fulminante Familiengeschichte.

Der mitreissende Roman des zweifachen Pulitzer-Preisträgers Colson Whitehead ist Familiensaga, Soziographie und Ganovenstück, vor allem aber eine Liebeserklärung an New Yorks legendäres Viertel.

 

«Es gab nicht viele Weisse, die ihn Mister nannten. Jedenfalls nicht downtown. Als Carney das erste Mal geschäftlich in die Row gekommen war, hatten die weissen Angestellten so getan, als sähen sie ihn nicht, und Hobbybastler bedient, die nach ihm gekommen waren. In einem Laden nach dem anderen hatte er sich geräuspert, hatte durch Gesten auf sich aufmerksam gemacht und war ein schwarzer Geist geblieben, hatte die üblichen Demütigungen einstecken müssen, bis er die schwarze Eisentreppe zu Aronowitz & Söhne hinaufgestiegen war und der Besitzer gefragt hatte: «Kann ich Ihnen helfen, Sir?» Kann ich Ihnen helfen, wie in Kann ich Ihnen helfen? Im Gegensatz zu Was hast Du hier zu suchen?. Ray Carney hatte im Lauf der Jahre ein Gespür für die verschiedensten Varianten entwickelt».
 

 

Schon nach wenigen Seiten ist man mitten drin im Milieu des Geschehens mit dem Werkstattgeruch und sich im fahlen Licht tummelnden Staubs von Aronowitz & Söhne. Ray versucht, mit dem Kauf und Verkauf gebrauchter Möbel, TV’s, Radios und TV-Röhren, die es vor der Digitalisierung in den 60er Jahren noch gab, über die Runden zu kommen, doch die Einkünfte aus seinem Laden Carney’s Furniture reichen nicht aus für den Standard, den die Schwiegereltern erwarten, ausserdem ist seine junge Frau Elizabeth schwanger mit dem zweiten Kind.
 

 

Cousin Freddy bringt gelegentlich eine Goldkette vorbei, die Ray bei einem Juwelier am Times Square versetzt. Doch was soll er tun mit dem Raubgut aus dem Coup im luxuriösen Hotel Theresa im Herzen Harlems, wo Stars wie Dinah Washington absteigen, nachdem Freddy sich verzogen hat? Als Ray in seinem Laden von der Polizei und Gangstern aufgesucht wird, bekommt er zu spüren, wer im Harlem der Streber, Anwälte und Banken das Sagen hat und sein Doppelleben zwischen Rechtschaffenheit und Schwindel steht auf der Kippe.

 

«An dem Abend, an dem Carney den Mietvertrag für den Laden unterschrieb, veranstaltete das Filmstudio Twentieth Century-Fox seine Premierenparty für Carmen Jones im Hotel. Drei Blöcke weiter auf der Seventh Avenue kippten und schwenkten die wuchtigen Scheinwerferstrahlen. Der Verkehr auf der 125th war ein hupendes Gedränge, mittendrin wütend fuchtelnde Cops. Das weisse Licht, das um die Ecke kam, war so hell, dass es einem vorkam, als hätte die Erde sich aufgetan, als wäre irgendein wundersamer Ausbruch im Gang. Um Carneys neue Vereinbarung mit Salerno Properties Inc. wurde weniger Trara gemacht. Sie schaffte es nicht in die Zeitungen, doch er zog es vor zu glauben, dass sie auf ihre Weise auch bedeutsam war. Als gälten diese hellen Lichter ihm.

(…) Die Hotels downtown erkannten, dass es Gewinn brachte, sich schwarzen Gästen zu öffnen, und die Jahre der wüsten Zechgelage, des nächtlichen Glücksspiels und der Klatschspalten-Faxen waren dem Ruf des Hotels abträglich. An der Bar fand man sich inzwischen eher neben einem Zuhälter oder einer vom Gewerbe anstelle von Joe Louis oder einer Grande Dame der schwarzen Gesellschaft wieder. Das Café, in dem Adam Clayton Powell Jr. die Bedienungen charmiert hatte wurde von Chock Full o’Nuts übernommen. Der Kaffee war besser und das Essen auch, sodass es in Carneys Augen kein grosser Verlust war. Es war immer noch das Hotel Theresa, Mittelpunkt der schwarzen Welt, und seine dreizehn Etagen bargen mehr Möglichkeiten und mehr Majestät, als ihre Eltern und Grosseltern sich hatten träumen lassen.

Das Hotel Theresa auszurauben war so, als würde man gegen die Freiheitsstatue pinkeln. Als würde man Jackie Robinson am Vorabend der World Series einen präparierten Drink unterjubeln».
 
Das verlangt man von einem Roman, so in die Geschichte einzutauchen, dass man die Zeit vergisst und sich wunderbar spannungsreich unterhalten fühlt. Ein Buch für lange Winterabende, der das Lesen zum Vergnügen macht. Eine filmreife Story!
 
 
 
Colson Whitehead, 1969 in New York geboren, studierte an der Harvard University und arbeitete für die New York Times, Harper’s und Granta. Whitehead erhielt den Whiting Writers Award (2000) und den Young Lion’s Fiction Award (2002) und war Stipendiat der MacArthur „Genius“ Fellowship. Für seinen Roman Underground Railroad wurde er mit dem National Book Award 2016 und dem Pulitzer-Preis 2017 ausgezeichnet. Für seinen Roman Die Nickel Boys erhielt er 2020 erneut den Pulitzer-Preis. Bei Hanser erschienen bisher John Henry Days (Roman, 2004), Der Koloß von New York (2005), Apex (Roman, 2007), Der letzte Sommer auf Long Island (Roman, 2011), Zone One (Roman, 2014), Underground Railroad (Roman, 2017), Die Nickel Boys (Roman, 2019) und Harlem Shuffle (Roman, 2021). Der Autor lebt in Brooklyn.

 

Nikolaus Stingl, 1952 geboren, arbeitet seit 1980 als literarischer Übersetzer. Er hat u.a. Henry James, Ben Lerner, Thomas Pynchon und Emma Cline ins Deutsche übertragen und wurde mit mehreren Übersetzerpreisen ausgezeichnet.
 
Colson Whitehead
Harlem Shuffle
Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl
Hanser Verlag, München 2021
381 S., geb. mit Schutzumschlag
CHF 36.95.
ISBN 978-3-446-27090-9

 

 

«Jonathan Franzen: Crossroads»

 
Ein Roman über eine Familie am Scheideweg: über Sehnsucht und Geschwisterliebe, über Lügen, Geheimnisse und Rivalität. Der Auftakt zu Jonathan Franzens Opus magnum «Ein Schlüssel zu allen Mythologien», einer Trilogie über drei Generationen einer Familie aus dem Mittleren Westen und einem der grössten literarischen Projekte dieser Zeit. Bereits sind die Filmrechte für den Roman gesichert.
 
Dachte man früher an Amerika, hatte man das romantische Bild eines Mythos vor Augen, in dem alles möglich war. Der Transfer in die Vergangenheit der 70er Jahre erweist sich als richtungweisender Transfer in die Zukunft.

Es ist der 23. Dezember 1971, für Chicago sind Turbulenzen vorhergesagt. Russ Hildebrandt, 47, evangelischer Pastor in einer liberalen Vorstadtgemeinde, ist im Begriff, sich aus seiner Ehe zu lösen, er hat sich unsterblich in die 36jährige Witwe Frances verliebt, sofern seine Frau Marion, die ihr eigenes geheimes Leben lebt, ihm nicht zuvorkommt. Ihr ältester Sohn Clem kehrt von der Uni mit einer Nachricht nach Hause zurück, die seinen Vater moralisch schwer erschüttert. Er will nach Vietnam in den Krieg. Clems Schwester Becky, umschwärmter Mittelpunkt ihres Highschool-Jahrgangs, ist in die Musikkultur der Ära ausgeschert, während ihr hochbegabter jüngerer Bruder Perry, der Drogen an Siebtklässler verkauft, den festen Vorsatz hat, ein besserer Mensch zu werden. Nur der jüngste Sohn Judson scheint von unerschütterlicher Solidität. Jeder der an einem Scheideweg stehenden Hildebrandts sucht eine Freiheit, die jener der anderen zu durchkreuzen droht.

 

Franzen greift zurück auf seine Jugenderinnerungen, einer Jugendorganisation namens «Crossroads», die mit Latzhosen und Stirnbändern dem Gitarre spielenden Gruppenleiter Ambrose folgt statt dem protestantischen Pfarrer Russ. Das originale Foto auf dem Buchcover bezieht sich auf das Zeitalter des New Age der Hippies mit Achtsamkeitsübungen und Selbsterkundungen. Gott wird nicht mehr in der Religion gesucht, sondern das Glück in gesellschaftlichen Beziehungen. Und niemand möchte in der religiösen Jugendgruppe uncool wirken.

Der Rückblick in Marions Jugend in die Zeit des Zweiten Weltkriegs, als Frauen nur im Hausfrauendasein Erfüllung finden sollten, ist mehr als nur eine Episode, sondern eine bis in die Gegenwart reichende Option traditioneller Vorstellungen. Sie träumt von einer Hollywood-Karriere als Filmstar und landet hart auf dem Boden mit Depressionen und sexueller Ausbeutung, wie sie erst Jahrzehnte später in den MeToo-Debatten zur Sprache kamen. Franzen untersucht, wie wir geworden sind, was wir sind: Ein grossartiger Roman über Ursprünge und Wirkungen und das Gefühlspanorama einer prägenden Epoche.

 

Leseprobe:

Der von kahlen Eichen und Ulmen durchbrochene Himmel, an dem zwei Frontensysteme die grauen Köpfe zusammensteckten, um New Prospect weisse Weihnachten zu bescheren, war voll feuchter Verheissung, als Russ Hildebrandt wie jeden Morgen in seinem Plymouth-Fury-Kombi zu den Bettlägerigen und Senilen der Gemeinde fuhr. Eine gewisse Person, Mrs. Frances Cottrell, die ebenfalls zur Gemeinde gehörte, wollte ihm am Nachmittag dabei helfen, Spielzeug und Konserven zur Community of God zu bringen, und obwohl er wusste, dass er nur als ihr Pastor das Recht hatte, sich über diesen Akt freien Willens zu freuen, hätte er sich kein schöneres Weihnachtsgeschenk wünschen können als vier Stunden mit ihr allein.

(…) Er war um halb drei auf dem Parkplatz der First Reformed mit ihr verabredet. Wie ein kleiner Junge, der Weihnachten nicht erwarten kann, war er um 12.45 Uhr dort und ass seinen Mittagsimbiss im Auto. (…)

«Mein Gott, sind Sie das?» hatte sie bei ihrem ersten Besuch in seinem Büro gesagt, im vergangenen Sommer, als sie das Foto aus dem Navajo-Reservat betrachtete. «Da sehen Sie ja aus wie ein junger Charlton Heston». (…)
Es war 14.52 Uhr, als Frances voller Spannkraft auf ihn zugehüpft kam, wie ein Junge. Sie trug ihre Jagdmütze und, heute, eine dazu passende Wolljacke. «Wo ist Kitty;», sagte sie strahlend.
«Kitty fürchtete, dass kein Platz mehr für sie ist, wegen all der Kisten».
«Sie kommt nicht mit?»
Unfähig, Frances in die Augen zu schauen, konnte er nicht sagen, ob sie enttäuscht war oder, schlimmer noch, Verdacht schöpfte. Er schüttelte den Kopf.
«Das ist ja albern», sagte sie. «Ich hätte doch auf ihrem Schoss sitzen können».
«Ist es Ihnen nicht recht?»
«Nicht recht? Es ist ein Privileg! Ich fühle mich sehr besonders heute. Ich bin ein gutes Stück weitergekommen».
Sie machte einen leichtfüssigen, kleinen Ballettschritt, um ihrem Weiterkommen Ausdruck zu verleihen. Er fragte sich, ob das Gefühl, von dem sie sprach, dem Besuch bei Ambrose vorausgegangen oder durch ihn verursacht worden war.
«Na schön», sagte er und knallte die Heckklappe des Fury zu. «Wir sollten jetzt besser
losfahren». (…)

Als er in den Fury stieg, fiel eine einzige schlappe Schneeflocke, die erste jener grossen Menge, die der Himmel schon den ganzen Tag verheissen hatte, auf seinen Oberarm und löste sich dort auf. Frances, die auf der anderen Seite einstieg, sagte: «Das ist ein toller alter Mantel. Wo haben Sie den her?»

 

Jonathan Franzen, 1959 geboren, erhielt für «Die Korrekturen» den National Book Award. Er veröffentlichte ausserdem die Romane «Die 27ste Stadt», «Schweres Beben», «Freiheit» und «Unschuld», das autobiografische Buch «Die Unruhezone», die Essaysammlungen «Anleitung zum Alleinsein», «Weiter weg» und «Das Ende vom Ende der Welt» sowie «Das Kraus-Projekt» und den Klima-Essay «Wann hören wir auf, uns etwas vorzumachen?». 2013 wurde ihm für sein Gesamtwerk der WELT – Literaturpreis verliehen. 2015 erhielt er für seinen Einsatz zum Schutz der Wildvögel den EuroNatur-Preis. Er lebt in Santa Cruz, Kalifornien.
 
Bettina Abarbanell, geboren in Hamburg, lebt als Übersetzerin, auch von Denis Johnson, Rachel Kushner, F. Scott Fitzgerald u.a., in Potsdam. Ihr Werk wurde vielfach ausgezeichnet, etwa mit dem Heinrich Maria Ledig-Rowohlt-Übersetzerpreis.
 

 

Jonathan Franzen
Crossroads
Roman
Aus dem Amerikanischen von
Bettina Abarbanell
Rowohlt Verlag, Hamburg 2021
832 S., CHF 32.90. € 28
ISBN 978-3-498

 

 

 

«Patricia Highsmith: Der Hitchcock der Literatur – Die Tage- und Notizbücher»

 

«Nur die Sonne war Zeuge (Plein Soleil)» hiess der Film mit Alain Delon 1960 von René Clément, nach einem Roman von Patricia Highsmith, der im Gedächtnis blieb. Wie auch die Autorin, die mit dem talentierten Mr. Ripley weitere Ripley-Romankrimis folgen liess. Ihren Weltruhm begründete schon 1951 ihr von Hitchcock verfilmter Psychothriller «Der Fremde im Zug». Ihr Roman «Salz und sein Preis», der 1952 unter dem Pseudonym Claire Morgan erschien, wurde mit dem Happy-end einer lesbischen Liebe zum Kultbuch. Erst 1991 veröffentlichte Diogenes den Roman als «Carol» unter ihrem Namen, der 2015 von Todd Haynes mit Cate Blanchett und Rooney Mara verfilmt wurde. Graham Greene nannte sie die «Dichterin der unbestimmten Beklemmung».

 

Nun sind die Hintergründe und Entstehung dieser Romane nachzulesen, zum 100. Geburtstag vom Diogenes-Verlag herausgegeben. Die Tage- und Notizbücher, die 1941 beginnen, sind das missing link im Gesamtwerk der Patricia Highsmith, denen sie scharfzüngig ihre Gefühle, Irritationen, Zweifel und Selbstbehauptungen anvertraute. Vertrauen schenkte sie Katzen oder Schnecken eher als den Menschen. Die kompromisslosen Aufzeichnungen, in denen sie sich selbst nicht schonte, lesen sich wie ein atemberaubender Gesellschaftskrimi.
Rund achttausend Seiten umfassen Highsmiths 18 Tagebücher und 38 Notizhefte, die nach ihrem Tod in ihrem Haus im Wäscheschrank gefunden wurden, und nun in einer Auswahl nach jahrelanger Arbeit erstmals präsentiert werden. Die Herausgeberin und Lektorin Anna von Planta lernte Highsmith 1984 selbst kennen und betreute bei Diogenes ihre Bücher.
 
Die Hälfte der Texte aus den Tagebüchern stammt aus den 1940er Jahren in New York, wo die 1921 in Texas geborene Tochter eines Graphiker Ehepaars ihr Quartier aufgeschlagen hatte. Nach dem College und einem Bachelor-Abschluss arbeitet sie als Texterin und bewegt sich schnell in der Bohème Manhattans und trifft zahlreiche spätere Schriftstellergrössen wie Truman Capote.
Sie veröffentlicht erste Erzählungen in Magazinen und Studentenzeitschriften und schreibt schon bald an ihrem ersten Buch.
1950 erscheint der Roman «Zwei Fremde im Zug», der 1951 von Hitchcock unter dem Titel «Der Fremde im Zug» verfilmt wird und ihren Weltruhm begründet. Mit einem Schlag wurde sie bekannt und schwirrte durch die Salons, führte viele Liebschaften, meist mit Frauen, vereinzelt auch mit Männern, denen sie beim Sex keine Phantasie zusprach.

 

Die Tagebücher offenbaren ihre Sehnsüchte und Selbstanalysen, ihre offen gelebte Homosexualität in Zeiten, in denen das unter Strafe stand. Es ist zu vermuten, dass ein grosser Teil ihrer Wut auf eine bigotte Gesellschaft darauf zurückzuführen ist und immer von neuem ein Feuer der Empörung in ihr entfachte, eine Triebfeder auch für die Kriminalromane.
Patricia Highsmith konnte die gesetzliche Akzeptanz der Homosexualität mit eingetragener Partnerschaft und Heirat nicht mehr miterleben, sie hielt sie wohl auch kaum für möglich.
Was sie nicht davon abhielt, ihr Leben so zu führen, ausschweifend, offen, unverblümt, wie sie es tat. Die junge Highsmith, das zeigen die intensiven Tagebücher war optimistisch, mutig, fröhlich und draufgängerisch, zudem attraktiv, die ältere Highsmith wurde zunehmend misstrauisch, schottete sich von den Menschen ab und war eher eine ungemütliche Zeitgenossin, die sich antisemitisch äusserte und zeitlebens mit sich selbst im Clinch und Widerspruch lag.

Seit langem lebte sie im Tessin, zuletzt in ihrem Haus in Tegna, das wie eine Festung erschien und in das sie selten Besucher einliess. Sie lebte dort zurückgezogen mit ihren Katzen, die sie auch malte, in einem Band von Diogenes veröffentlicht, wie sie überhaupt vielseitig talentiert war, wie ihr wahrscheinliches Alter Ego Tom Ripley, dem sie mehrere Bücher widmete.

 

Schon mit drei Jahren lernte sie lesen, mit neun Jahren Dostojewski, Conan Doyle und Dickens, mit acht Jahren über die Abgründe der Menschen in «The Human Mind», die sie nie losliessen und die sie so meisterhaft in ihren Romanen «Der talentierte Mr. Ripley» verarbeitete. Bereits vor ihrer Geburt lassen sich ihre Eltern scheiden, ihr Vater war der deutschstämmige Graphiker Jay Bernard Plangman, dem sie erstmals 1933 in der Nähe von New York begegnet. Als ihre Mutter 1924 den Graphiker und Fotografen Stanley Highsmith heiratete, hiess Patricia fortan Highsmith. Ihren Stiefvater konnte sie von Anfang an nicht leiden und zu ihrer Mutter hatte sie ein schwieriges Verhältnis.

 

Tagebuch-Auszüge
 
1. Februar 1941. Habe weisse Socken (für Männer!) gekauft, die lang genug sind – endlich. Tja, von den Knien abwärts bin ich jetzt angezogen wie ein Mann. (Das stört mich nicht.) Grandpa ist krank: eine Nierenkrankheit. Sie müssen mit einem Schlauch entleert werden, manchmal schafft er das nicht allein. Es ist schwierig.

 

12.4.1941 Ich frage mich oft, ob das, wonach ich mich sehne, Liebe ist oder der Kitzel der Dominanz – oder vielmehr nicht Kitzel, sondern Befriedigung. Denn das ist of Befriedigender als die Liebe; auch wenn ich mir keine Dominaz ohne Liebe und keine Liebe ohne Dominanz vorstellen kann. Falsch.

 

14. April 1941. Ich hungere nach Literatur – nach Büchern, so wie vor ein oder zwei Monaten mein Körper seine Bedürfnisse einforderte. Mein Appetit ist ein zweifacher: Ich hungere nach Liebe und nach Ideen. Zusammengenommen bringt mich das überallhin. Habe ein Gedicht darüber geschrieben.

 

14.4.1941 Anmerkung zum Gegensatz zwischen Körper und Geist. Mein Geist ist jetzt so hungrig wie mein Körper vor vier Monaten – vor einem Monat! Erstaunlich. Sie arbeiten in entgegengesetztem Takt. Wie zwei Eimer an einem Brunnenseil. Einer wird gefüllt, während der andere sich leert!

 

14.4.1941 Es ist eine schöne Beobachtung, dass Menschen für jede Liebe einen Teil von sich hergeben müssen. Sie müssen etwas preisgeben. Sie verkaufen etwas, um etwas anderes zu kaufen. Auch für nicht-leidenschaftliche Beziehungen. Etwas muss im Tausch gegeben offenbart, verraten werden. Daher auch der Widerwille, sich zu verlieben. Aber das geht den meisten Menschen gar nicht so. Die meisten Menschen, und besonders Frauen, sind unglücklich, wenn sie der geliebten Person nichts geben, nichts von ihr nehmen können. Sie müssen unter Leuten sein. Sie müssen reden und lachen. Nur ganz wenige sind sich dieses Selbstverkaufs bewusst.

 

31.4.1941 Menschen legen solchen Wert darauf, geliebt zu werden – mehr noch als darauf, selbst zu lieben, wie ich an anderer Stelle schon einmal erwähnte -, es ist ihnen so wichtig, geliebt zu werden, dass sie sich, sobald jemand Interesse zeigt, unbewusst völlig abmühen, um sich beliebt zu machen – selbst wenn sie kein Fünkchen Liebe für die interessierte Person verspüren. Die Erkenntnis, dass wir geliebt werden wollen, und den Liebhaber auf jede nur erdenkliche Weise anzuspornen versuchen, trifft einen zunächst wie ein Schlag – aber von solcher Ehrlichkeit! -, und dann kommt eine Art Schuldgefühl hinzu, eine Ahnung von Scheinheiligkeit, von Oberflächlichkeit und Irreführung, von Dekadenz und einer ungesunden Spottlust.

 

 

Patricia Highsmith, geboren 1921 in Fort Worth/Texas, wuchs in Texas und New York auf und studierte Literatur und Zoologie. Erste Kurzgeschichten schrieb sie an der Highschool, den ersten Lebensunterhalt verdiente sie als Comictexterin, und den ersten Welterfolg erlangte sie 1950 mit dem Romanerstling «Zwei Fremde im Zug», dessen Verfilmung von Alfred Hitchcock sie über Nacht berühmt machte. Unsterblich wurde sie mit ihren fünf Romanen um den talentierten Mr. Ripley und dem lesbischen Liebesroman «Salz und sein Preis».
Patricia Highsmith starb 1995 in Locarno.

 

Anna von Planta, geboren 1957 in Basel, ist nach ihrem Studium der Anglistik, Germanistik und Romanistik in Genf und Stationen beim S. Fischer Verlag in Frankfurt und der Joan Daves Literary Agency in New York Belletristiklektorin im Diogenes Verlag, neben Patricia Highsmith (deren Werk sie seit 1985 betreut) u.a. auch von Patrick Süskind, Friedrich Dürrenmatt, John Irving, Martin Walker, Joey Goebel und Anthony McCarten.

 

 

 

Patricia Highsmith
Tage- und Notizbücher
Herausgegeben von Anna von Planta
Aus dem Amerikanischen von
Melanie Walz, Pociao, Anna-Nina Kroll,
Marion Hertle und Peter Torberg
Diogenes Verlag, Zürich 2021
1370 S., CHF 46.90. € 32.

 

 

 

 

«Françoise Gilot – Leben mit Picasso»

 

«Leben mit Picasso» ist ein Buch über den Mann, Menschen und Maler Pablo Picasso, aber auch ein Buch über die Beziehung zweier Menschen.

 

Der von Picasso und der jungen Malerin Françoise Gilot, die zehn Jahre mit ihm verbrachte, die Kinder Claude und Paloma mit ihm hatte und irgendwann ihren eigenen Weg gehen musste.

Noch immer bewegt und bezaubert diese Biografie einer Malerin, die selbstbewusst wie keine andere Frau neben Picasso ihren eigenen Weg verfolgt und Rückschau auf diese Zeit hält.

Nach wie vor lesenwert, in einer neuen Auflage des Diogenes Verlages.

 

Françoise Gilot
Carlton Lake
Leben mit Picasso
Aus dem Amerikanischen von Anne-Ruth Strauß.
Mit 23 Reproduktionen von Bildern, Zeichnungen und Fotos
Biographien, Kunst, Cartoon, Fotografie
Taschenbuch
Diogenes Zürich, 2021
Neuauflage
11,3 × 18 cm
592 S., CHF 22. € 15 (D). € 15.50 (A)
978-3-257-24607-0

 

 

»Françoise Gilot ist eine ausgezeichnete Zeugin für Picasso als Künstler und für seine Ansichten über die Kunst.«
Aline Saarinen / New York Times Book Review

 

Leseprobe:

Ich begegnete Pablo Picasso im Mai 1943, zur Zeit der deutschen Besetzung Frankreichs. Damals war ich einundzwanzig, und ich fühlte bereits, dass die Malerei mir alles im Leben bedeutete. Ich hatte eine ehemalige Schulfreundin bei mir zu
Gast, die aus Montpellier in Südfrankreich
gekommen war, um einen Monat mit mir zu verbringen. An einem Mittwoch ging ich mit ihr und dem Schauspieler Alain Cuny zum Essen in ein kleines Restaurant, das damals viel von Malern und Schriftstellern besucht wurde. Es hieß Le Catalan und lag in der Rue des Grands-Augustins
am linken Seineufer, nicht weit von Notre-Dame. Als wir drei an jenem Mittwochabend im Catalan Platz genommen hatten, sah ich Picasso zum ersten Mal. Er saß mit ein paar Freunden am Nebentisch: ein Mann, den ich nicht kannte, und zwei Frauen. In einer von ihnen erkannte
ich Marie-Laure, Vicomtesse de Noailles, die Besitzerin einer bedeutenden Gemäldesammlung, die heute selbst so etwas wie eine Malerin ist. Damals hatte sie noch nicht zu malen angefangen – wenigstens nicht offiziell –, doch sie hatte eine kleine Dichtung, Der Turm von Babel, geschrieben.
Eine kunstvolle Frisur, die mich an Rigauds Porträt Ludwigs xiv. im Louvre erinnerte, umrahmte ihr langes, schmales, irgendwie dekadent wirkendes Gesicht.Die andere Frau, so flüsterte mir Alain Cuny zu, sei Dora Maar, eine jugoslawische Fotografin und Malerin, die, wie jeder wusste, seit 1936 Picassos Geliebte war. Ich hätte sie auch ohne seine Hilfe gleich erkannt, denn ich kannte Picassos Werk gut genug, um zu sehen, dass dies die Frau war, die als Porträt von Dora Maar in vielen Formen und Variationen dargestellt
war. Sie hatte ein schönes, ovales Gesicht, aber ein ziemlich starkes Kinn, ein charakteristisches Merkmal in fast allen Porträts, die Picasso von ihr
gemalt hat. Ihr schwarzes Haar war in einer strengen, ausgesprochen theatralischen Frisur zurückgerafft. Mir fielen ihre intensiv bronzegrünen Augen
auf und ihre schlanken Hände mit den langen, spitzigen Fingern. Doch das Bemerkenswerteste an ihr war ihre eigenartige Unbeweglichkeit. Sie redete nicht viel, machte überhaupt keine Gesten, und in ihrem
Verhalten lag etwas, das über Würde hinausging – eine gewisse Starrheit. Es gibt dafür einen sehr treffenden französischen Ausdruck: Sie gab sich wie das Heilige Sakrament. Über Picassos Aussehen
war ich etwas erstaunt. Meine Vorstellung von seinem Äußeren ging auf eine Fotografie Man Rays in der Picasso-Sondernummer zurück, die von der Kunstzeitschrift Cahiers d’Art 1936 herausgebracht wurde: dunkles Haar, lebhafte, blitzende Augen, sehr stämmig gebaut, robust – ein schönes Tier. Nun gab ihm sein ergrautes Haar und der aus Zerstreuung oder Langeweile abwesende Blick ein in sich gekehrtes, orientalisches Aussehen, das mich an
die Statue des ägyptischen Schreibers im Louvre erinnerte. In seiner Art, sich zu bewegen, hatte er aber gar nichts Statuarisches oder Gemessenes: Er gestikulierte, er drehte und wendete sich, sprang auf, lief
schnell hin und her. Während des Essens merkte ich, dass Picasso uns beobachtete und ab und zu ein wenig vor uns posierte. Offensichtlich hatte er Cuny erkannt und machte
Bemerkungen, die von uns gehört werden sollten – immer, wenn er
etwas Amüsantes sagte, lächelte er mehr zu uns herüber als zu seinen Tischgenossen.
Schließlich stand er auf und kam an unseren Tisch. Er brachte eine Schale voll Kirschen mit
und bot uns in seinem harten spanischen Akzent davon an;
er nannte sie cerisses, mit einem leichten Doppel-s-Klang.
Geneviève war ein sehr schönes Mädchen. Sie stammte
von französischen Katalanen ab, hatte aber ein griechisches
Profil mit einer Nase, die eine direkte Verlängerung der
Stirn bildete; ein Kopf, wie Picasso mir später erzählte,
den er bereits auf Bildern der Ingres-Periode oder der römischen gemalt zu haben
glaubte. Oft betonte sie dieses griechische Aussehen dadurch, dass sie wie an diesem
Abend ein fließendes, plissiertes Kleid trug.
»Nun, Cuny«, sagte Picasso, »würden Sie mich Ihren Freunden vorstellen?«
Cuny stellte uns vor und sagte dann: »Françoise ist die Intelligente.« Und auf Geneviève
deutend: »Und sie ist die Schöne! Sieht sie nicht aus wie eine
attische Marmorstatue?« Picasso zuckte die Achseln. »Sie
reden wie ein Schauspieler«, sagte er. »Wie würden Sie die
Intelligente charakterisieren?«
An jenem Abend trug ich einen grünen Turban, der
meine Stirn und meine Wangen ziemlich verdeckte. Geneviève beantwortete seine Frage:
»Françoise ist eine florentinische Madonna«, sagte sie.
»Aber nicht von der üblichen Art«, ergänzte Cuny
. »Eine säkularisierte Madonna.« Alle lachten.
»Umso interessanter, wenn sie nicht von der üblichen
Art ist«, sagte Picasso. »Und was treiben sie, Ihre beiden
Schützlinge aus der Kunstgeschichte?«
»Wir sind Malerinnen«, antwortete Geneviève.
Picasso brach in Gelächter aus.
»Das ist das Komischste, was ich heute gehört habe.
Mädchen, die so aussehen, können keine Malerinnen sein.«

 

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