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«Joachim B. Schmidt: Wieder ein «Tell»!

Von Ingrid Schindler

Der isländisch-bündnerische Schriftsteller Joachim B. Schmidt geht nach seinem letztjährigen Überraschungserfolg «Kalman» ans Eingemachte: Er erfindet den Nationalhelden der Eidgenossen neu. Taugt Tell 2022 als Antwort auf die Freiheitstrychler?

Mit «Tell» ist dem Diogenes Verlag und Joachim B. Schmidt ein Coup gelungen. Der Autor stellt sich in eine Reihe mit Schiller, Frisch und anderen, die sich mit den «Schweizer Kronjuwelen», so der Verlag, befasst haben. Sein Tell ist isländisch inspiriert und zeigt den Schweizer Nationalhelden in neuem Licht. Aufmerksamkeit ist ihm garantiert.

So schlicht und gradlinig wie der Titel tritt der Held auf. Tell ist ein harter, furchtloser Bergbauer, der keine Rücksicht auf Familie und Zugewandte nimmt und mit Wilderei die Seinen über Wasser hält. «Weiss er, wie ein Bär denkt?» fragt sich Walter, der sich vor dem Vater fürchtet. Als «Querulant» und «Hartschädel», für den es «nur ihn selbst und niemanden sonst» gibt, beschreibt ihn Bauer Tobler.
Der sture, wortkarge, grobe Eigenbrötler gibt, im Gegensatz zur Lichtgestalt seines früh verstorbenen Bruders Peter, den Part des Dunkelhelden: Er zeigt und artikuliert keine Gefühle und schlägt wie ein wildes Tier bei Angriff um sich, als er in die Fänge der Schergen des Landvogts gerät. Äussere Umstände, die Brutalitäten von Harras, Juppjupp und Konsorten, treiben ihn zur Tat und immer tiefer in einen Teufelskreis hinein, aus dem es kein Entrinnen gibt. Diesem stumpfen, gedrungenen Bergler geht es nicht um einen politisch motivierten Freiheitskampf und die Befreiung der Unterdrückten vom Joch. Nicht das Leid der Bauern ist sein Treibstoff, sondern seine Ruhe und sein Recht.

 

 

Temporeiches Kopfkino
Joachim B. Schmidt verwandelt den Tell-Mythos in einen spannungsgeladenen Plot. In rund 100 kurzen, schnellen Sequenzen, in zehn Kapitel unterteilt, erzählt er den bekannten Stoff aus ständig wechselnder Perspektive. Das ist neu. So macht er die Lektüre zum Film und den Roman zum Drehbuch eines actionreichen Thrillers, der temporeich auf den Höhepunkt, Wendepunkt und das dramatische Ende zusteuert. Am Ende erfährt man in einer Art Abspann, wie die Geschichte weitergeht.
Die Tellenstory wird zeitlich linear aus dem Blickwinkel von 20 Personen erzählt und springt dabei von einem Lager ins andere. Mal sind es Mitglieder der Tellfamilie, mal das Umfeld, mal Gessner, mal die raffinierten, mal die tumben Bösen, mal zufällige Passanten, die die Ereignisse und Begegnungen aus ihrer Innenperspektive reflektieren, wodurch das Geschehen von verschiedensten Seiten beleuchtet wird. Tells Gegenspieler bilden keine homogene Front. Im Gegenteil, das Böse kennt viele Abstufungen wie im richtigen Leben. Die Namen der auftretenden Figuren stammen von Schiller, dessen Tell-Version sei sein Fundament, sagt Schmidt.

Gessler selbst ist im Grunde ein Guter. Der Landvogt tritt als feinfühliger, zivilisierter Mann mit Heimweh in Erscheinung. Es sind wieder die Umstände, praktische Fragen des fragilen Machterhalts, die ihn wider Willen zum Handeln zwingen. In seinem Innersten respektiert er Tell und versteht die Bergbauern, wie er in Kapitel 8 raisonniert: «Niemand will uns hier, alle wollen in Ruhe gelassen werden. Sie leben nach ihren eigenen Gesetzen und verteidigen sich in der Not eben selbst. Sie alle sind Tell.» Auch Gessler ist Tell und will im Grunde nur seine Ruhe. Er sehnt sich nach Heimat, Liebe und Familie. Bei seinem letzten Atemhauch nennt er seinem Mörder, Wilhelm Tell, den Namen seiner Tochter und stirbt dadurch «als Mensch»: «Ich bin dankbar, dass er (Tell) den Namen meiner Tochter ab jetzt in seinem Herzen trägt.» Liebe und Vertrauen verbinden die beiden Figuren auf ewig. Es ist die Vaterliebe, die Tell und Gessler eint. Denn der ungeschlachte, rohe Protagonist outet mit sich zuspitzender Dramatik mehr und mehr als im Innersten guter Mensch mit feinen Antennen. Insofern ist der neue «Tell» ein Entwicklungsroman.

 

 

Modernes Viel-Helden-Epos mit starken Frauen
Die zentrale Vater-Sohn-Beziehung, die in der Apfelschussszene ihren Höhepunkt findet, aus der Wilhelm und Walter als Helden hervorgehen, diese Beziehung erweitert der Autor um die Vater-Tochter-Liebe bei Gessler und Julia und kontrastiert sie mit der Beziehung des pädophilen Pfarrers Vater Loser zu seinen Schäfchen. Tell als Missbrauchsopfer, zeitgeistiger könnte Schmidts Heldenerzählung nicht sein.
Modern ist sie auch, weil der Wahl-Isländer Tell als Individuum ohne gesellschaftlichen Impetus vom Sockel des Nationalhelden stösst und als Mensch greifbar macht. Empathie mit dem rüden Bauern stellt sich beim Lesen automatisch ein, obwohl Tell erst gegen Schluss des Romans selbst spricht und sein Inneres offenbart. Bis dahin wird die Hauptfigur aus der Sicht der anderen beschrieben, was die Spannung steigert.
Nicht nur alle Mitglieder der Tellsippe tragen gewisse heldenhafte Züge, sondern alle Frauen, die im Roman auftreten. Ob Frau, Mutter, Grosi, Schwiegermutter, Tochter, Pfarrersköchin, Bäuerin oder Nonne, sie agieren unerschrocken und heilen, schützen, wärmen, vertreiben Bären und Bestien bzw. erschlagen sie, dass die Eishexen tanzen. Der Autor lebt eben seit über zehn Jahren in Island. In den isländischen Sagas spielen Frauen traditionell eine starke, selbstbewusste Rolle. Sie hätten ihn inspiriert, meint Schmidt im Pressegespräch, wie auch Einar Kárasons polyperspektivischer Erzählstil der Sturlungen-Romane.

 

 

Mehr Island, weniger Urschweiz
Sogar die magere Kuh Karla, eine «See- und Wunderkuh», ist eine Heldin. Die anrührenden Kuhszenen gehören zu den fesselndsten des Romans, der Leser leidet mit, als die Kuh in den See fällt und Walter sie an Grob verkauft. Da er ist er wieder, der skurille Humor des Herrn Schmidt. Überhaupt diese Sprache! Das Grobe, Ordinäre, Primitive der Gewissenlosen, die tiefgehenden Gedanken des Landvogts, das sich meldende Gewissen von Rapp, die Sprachlosigkeit des Helden usw.: jedem seine Sprache und viel direkte Rede. Das macht die Figuren authentisch und den Stoff lebendig, frisch und zugänglich.
Hier steht ein moderner Tell, bar jeglichem national-patriotischem Überbau und rechter eidgenössischer Gesinnung. Er taugt nicht zum Urvater der Eidgenossen und Heiligen der Nation. Der Querkopf eignet sich ebensowenig dazu, sich von heutigen, selbsternannten Freiheitskämpfern und Querdenkern vor den Karren spannen zu lassen. Umgeben von Eishexen, Trollen und Bären findet Schmidts Tell Frieden und innere Freiheit. «Wir alle sind Tell,» das liest sich gut.

 

 

 

Joachim B. Schmidt

Tell

Roman

Diogenes, Zürich 2022.

288 S., CHF 31.

978-3-257-07200-6

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