FRONTPAGE

«Kuratorin Bice Curiger: Cooler Tanz auf dem glitzernden Parkett der Kunstwelt»

Von Ingrid Isermann

 

Die kulturgeschichtliche, reichhaltig illustrierte Arbeitsbiografie der Basler Kunsthistorikern Dora Imhof «C is for Curator» würdigt Bice Curiger, eine der wichtigsten Kurator:innen der Kunstszene. Man blickt auf Curigers eloquente Präsenz ihrer Stationen vom Kunsthaus Zürich nach Venedig zur Biennale und Arles zur Fondation van Gogh.

Nicht zuletzt mit der Ausstellung «Freie Sicht aufs Mittelmeer» im Kunsthaus Zürich begann eine spektakuläre Entwicklung, indem Curiger Säulenheilige entstaubte und auch moderne Popkultur Einzug in die ehrwürdigen Hallen hielt. Schlag auf Schlag folgten die von Bice Curiger mit cooler Gelassenheit und wie von leichter Hand kuratierten Ausstellungen im Kunsthaus Zürich, die wie beiläufig die Zeitfäden zusammenführten und sich sichtbar und verständlich für alle zu einem Patchwork fügten, einem network-in-progress.

 

Als die Jugend Zürichs im Sommer 1980 auf die Strasse ging und mit Aktionen und Pflastersteinen mehr Freiraum in der Stadt forderte, kursierte der Slogan «Nieder mit den Alpen. Freie Sicht aufs Mittelmeer!» Mit dem vehementen Ruf nach südlicher Horizonterweiterung zielten die Jugendlichen auf das Selbstbild der Schweiz und die Alpen als definiertes Hauptmerkmal, das jedoch auch seit jeher der zentrale Verbindungsweg in den Süden war.

Die Nord-Süd-Verbindung des Gotthards spielte auch in der Kindheit Bice Curigers eine grosse Rolle, denn ihre Mutter Livia kam aus dem Tessin. Aus deren Familie stammte der bekannte Verleger Albert Skira und der Astronaut Walter Schirra, der an drei US-amerikanischen Raumfahrtprogrammen teilnahm und als neunter Mensch in den Weltraum flog. Oft besuchte die Familie die Verwandten oder verbrachte Ferien in Bellinzona.

Ihr Vater, Werner Curiger, geboren in Burgdorf, arbeitete als Architekt im Baubüro des traditionsreichen Zürcher Industrieunternehmens Escher Wyss, das im Schiffbau Turbinen herstellte. Livia, Handarbeitslehrerin, die nach einem Aufenthalt in der Westschweiz nach Zürich gekommen war, und Werner heirateten 1946. Die erste Wohnung der Eltern lag an der Weinbergstrasse im Quartier Unterstrass, wo ihre Tochter die ersten dreissig Jahre ihres Lebens verbrachte. Beatrice, genannt Bice, wurde 1948 in Zürich geboren. Als Kind sprach sie mit ihrer Mutter italienisch oder Hochdeutsch, später wie ihr Vater Schwyzerdütsch.

 

Der polyglotte Hintergrund und die anregenden Aktivitäten der Eltern hatten einen prägenden Einfluss: «Meine Eltern waren keine beflissenen Bildungsbürger, aber neugierig und dem damalig «Modernen» gegenüber aufgeschlossen. Es wurde viel Radio gehört. Man war allergisch auf Ländler, meine Mutter kannte Opernarien und Filmmusik sofort ab dem zweiten Ton, mein Vater sagte von sich, er sei unmusikalisch, aber er trällerte gerne irgendwelche Liedanfänge… beide waren in ländlichem Umfeld aufgewachsen und zugleich stolz, in einer so eleganten, schönen Stadt wie Zürich leben zu dürfen. Sie genossen die Stadt, man ging spazieren und in die Cafés, man schaute sich die Menschen an und kommentierte».

 

Pop, Feminismus, Kollektive

Bice studierte Kunstgeschichte an der Universität Zürich, 1972 begann sie, nebenbei für den Tages-Anzeiger über Kunst zu schreiben. Mit hochgestochenen kunsttheoretischen Abhandlungen hatte Curiger nichts am Hut, zwar feministisch ohne Schranken, doch mit einem Mona Lisa-Lächeln konterte sie nicht ohne Humor mit kontroversen Gesellschaftsanalysen die patriarchalen Diskurse.

1975, im internationalen UNO-Jahr der Frau, organisierte die 26-jährige Bice Curiger im Zürcher Strauhof im Kollektiv mit Künstlerinnen, u.a. Heidi Bucher und Rosina Kuhn, die feministische Ausstellung «Frauen sehen Frauen»: das Private ist politisch.

Fünf Jahre später flogen die Fetzen bei den Jugendunruhen 1980, die Zürich veränderten und Bice Curiger kuratiert ihre erste Ausstellung «Saus und Braus – Stadtkunst» (1980) erneut im Strauhof, wo es um die junge Kunst- und Musikszene Zürichs geht, die das konservative Zürich gehörig aufmischt.
Zum erstenmal wird auch eine Arbeit von Fischli/Weiss ausgestellt, die später zu den erfolgreichsten Kunstschaffenden der Schweiz gehören sollten, neben Werken von Martin Disler, Urs Lüthi, Dieter Meier, Klaudia Schifferle.

Seit 1992 arbeitete Bice Curiger als Kuratorin im Kunsthaus Zürich, wo «Freie Sicht aufs Mittelmeer» (1998) mit jungen Kunstschaffenden der Szene Furore macht, die auch in der Kunsthalle Schirn in Frankfurt am Main gezeigt wird und wo alles, was der Szene später Rang und Namen verlieh, versammelt war, wie Emmanuelle Antille, John Armleder, Olaf Breuning, Sylvie Fleury, Franz Gertsch, Thomas Hirschhorn, Walter Pfeiffer, Sigmar Polke, Markus Raetz, Pipilotti Rist und viele andere junge Kunstschaffende.

 

Kunst: Round & round 

Mit der Ausstellung «Endstation Sehnsucht» (1994) zeigte Curiger erneut jüngere Kunstschaffende, wie Sophie Calle, Ugo Rondinone, Raymond Pettibon u.a.
Die Ausstellung, die sie 2003 der amerikanischen Künstlerin Georgia O’Keeffe widmete, war in mehrfacher Hinsicht aussergewöhnlich, sie hatte der Malerin schon in der Ausstellung «Birth of the Cool. Amerikanische Malerei von Georgia O’Keeffe bis Christopher Wool» (1996) Raum gewährt, der Malerin von erotischen Blumenbildern und attraktive Muse des Fotografen Alfred Stieglitz, die im Zentrum der Rezeption standen. Sie zeigte die Künstlerin nun in verschiedenen Schnittstellen oder Beziehungen, die zu O’Keeffes Bedeutung beitrugen, diejenige von Europa und den USA, die von Kunstgeschichte und populärer Rezeption, das Verhältnis von Werk und Person sowie das Künstlerbild beleuchteten.

 

Die Ausstellungen «Hypermental – Wahnhafte Wirklichkeit 1950-2000. Von Salvador Dali bis Jeff Koons (2000), «Public Affairs. Von Beuys bis Zittel – Das Öffentliche in der Kunst» (2002), «The Expanded Eye» (2006) und «Deftig Barock. Von Cattalan bis Zurbaran. Manifeste des prekär Vitalen» (2012) oder «Ausbruch & Rausch. Frauen Kunst Punk 1975-1980» (2020) richteten den Blick auf die Kunst der Moderne, aber auch weiter zurück liegende Epochen, gingen aber immer vom Standpunkt der Gegenwart und der zeitgenössischen Kunst aus. Die Horizonterweiterung offenbarte sich auch in den poetischen Titeln der Trigger-Ausstellungen Bice Curigers.

 

20 Jahre, von 1992 bis 2012 war Bice als feste, freie Kuratorin am Kunsthaus Zürich tätig und ihr Einfluss wirkt noch heute nach.

Ab 1984 fungierte Bice Curiger auch als Autorin verschiedener Kunstbücher und als Herausgeberin der renommierten Kulturzeitschrift «Parkett» zusammen mit Jacqueline Burckhardt. Bis 2017 erschienen jährlich vier und zuletzt zwei Ausgaben über das internationale zeitgenössische Kunstschaffen mit limitierten Auflagen von Kunstwerken. Jeff Koons oder Ai Weiwei entwarfen Editionen für «Parkett», wie auch Meret Oppenheim, die Bice Curiger in ihrer Monografie «Spuren durchstandener Freiheit» umfassend darstellte (1982/1984/1989, ABC-Verlag, Zürich) und für sie eine Ausstellung in New York kuratierte: «Meret Oppenheim: Beyond the Teacup» im Guggenheim Museum (1996).

 

«ILLUMInazioni – ILLUMInations» – Erste Direktorin der Biennale di Venezia
2011 wurde Bice Curiger zur ersten Biennale-Direktorin an der 54. Biennale von Venedig ernannt. Literatur & Kunst befragte sie zur Premiere zu den «Illuminationen». Ihre Statements wirken im nachhinein, bezogen «auf das Miteinander der avancierten Gegenwartskunst, auf die Präsenz von Geschichte mit gleichzeitiger Bezugnahme auf eine globalisierte Welt», erhellend prophetisch (Auszug, siehe Archiv L&K 06/2011). Illuminationen könnten wir jetzt gut gebrauchen in Zeiten des Krieges in der Ukraine und deren Folgen.

 

Literatur & Kunst: Illuminationen – Wie kamen Sie auf den Titel?
Bice Curiger: Ich habe an Venedig und dessen Licht gedacht und an Tintoretto, den grossen venezianischen Maler des Lichts aus dem 16. Jahrhundert. Zudem ist Licht ein klassisches Thema der Kunst. Licht allein wäre mir jedoch etwas zu abstrakt und unverbindlich gewesen, mit der Betonung des falschen Suffix bekam der Titel die für mich richtige Substanz.

 

Sie erweisen Tintoretto Reverenz – Was hat Sie dazu inspiriert? Warum gerade dieser Meister?
Ich habe immer eine Schwäche für Tintorettos Malerei gehabt. Ich finde, dass gewisse Werke, wie die drei, die ich ausgewählt habe, eine enorm starke Bildsprache entwickeln, welche auch Menschen ohne kunsthistorische Vorkenntnis mit ihrer Direktheit anzusprechen vermögen. Es interessierte mich zudem, die Spaltung von Gegenwarts- und Altmeisterpublikum durcheinander zu bringen.

 

Die flirrende Magie Venedigs und die Nationen – Was bleibt – was ist anders – was soll sich ändern?
Ich wünsche mir, dass zwischen der internationalen Ausstellung und den Nationenpavillons ein gewisser Austausch geschieht ohne, dass dieser zu stark forciert wird. Ich vertraue auf den Ort und dessen Anziehungskraft, sowie auf das Miteinander der avancierten Gegenwartskunst, auf die Präsenz von Geschichte mit gleichzeitiger Bezugnahme auf eine globalisierte Welt.

 

Was erwarten Sie von der 54. Biennale di Venezia? Was sind die Highlights? Auf was können wir uns besonders freuen?
Ich erwarte, dass es eine reiche, komplexe, aber auch nachdenklich machende und beglückende Ausstellung wird. Highlights sind die vielen jungen Künstler, die Interaktion zwischen diesen jungen und den älteren Künstlern, sowie zwischen Mainstream und Outsidern, wie es auch Tintoretto zu seiner Zeit einer war.

 

Fondation van Gogh in Arles – neue Sicht auf van Gogh
Eine lange Arbeitsbeziehung verband Bice Curiger mit dem Künstler  Sigmar Polke, der zwölf Fenster im Grossmünster Zürich gestaltete (2009). Sie lernten sich 1974 kennen und sie stellte den Künstler im Kunsthaus Zürich aus «Sigmar Polke. Werke & Tage» (2005) und in Arles, zusammen mit Werken von Picasso, Etel Adnan und van Gogh.«Soleil chaud, soleil tardif. Les modernes indomptés» (2018).
 
Seit 2013 ist Bice Curiger Gründungsdirektorin der Fondation Vincent van Gogh im südfranzösischen Arles und präsentierte die Ausstellungen: «Van Gogh Live» (2012), «Van Gogh – Couleurs du Nord, Couleurs du Sud» (2014)

Der holländische Maler Vincent van Gogh reiste 1888 nach Arles, wo er 15 Monate verbrachte und 180 Gemälde schuf, darunter auch das berühmte «Zwölf Sonnenblumen in einer Vase». Das nach ihm benannte Museum zeigt seine Bilder, aber auch von anderen Kunstschaffenden, wie beispielsweise den georgischen Maler Niko Pirosmani, die im Kontext mit zeitgenössischer Kunst eine neue Sicht auf den Maler ermöglichen (siehe auch Archiv Literatur & Kunst 05/2019)., wie u.a. die Ausstellungen «Roni Horn: Butterfly to Oblivion» (2015), «Saskia Olde Wolbert: Yes, These Eyes Are the Windows» (2016), «Glenn Brown: Suffer Well» (2016), «Van Gogh en Provence: la tradition modernisée», «Mon cher… Urs Fischer» (2017),«La Vie simple, Simplement la vie» (2018), «Vincent van Gogh: Vitesse & Aplomb» (2019). «Vincent van Gogh: Le retour du semeur … et labora» (2019/2020). 
Aktuelle Ausstellung in der Fondation Vincent van Gogh: «Nicole Eisenman et les Modernes. Têtes, baisers, batailles». 21. Mai bis 23. Oktober 2022.

 

Bice Curiger – Kuratorin, Kunstkritikerin, Herausgeberin und Fotografin 

All diese Facetten der Kunst gehören zu Bice Curigers Lebenselixier. An der Kunst fasziniert sie, «dass sich Räume eröffnen, die die Möglichkeit geben, Dinge und den Reichtum der Welt anders zu sehen und ausserhalb des rationalen Alltagsdenkens zu erleben». Und eben die Spaltung von Gegenwarts- und Alterspublikum durcheinander zu bringen.
 
Was Sie schon immer über die Schweizer und internationale Kunstszene wissen wollten und möchten: alle Ausstellungen Bice Curigers werden in der fabelhaften Biografie erstmals ausführlich dokumentiert und analysiert. Statements von führenden Künstler:innen und Kurator:innen geben persönliche Einblicke in Curigers Arbeit und Denken. Das Buch ist ein Must-have, nicht nur für Zürcher Kunstfans!
 
Bildlegenden, von oben: 1) Cover «C is for Curator». Bice Curiger. Eine Arbeitsbiografie. 2) Plakat «Ausbruch & Rausch». FRAUEN KUNST PUNK. 1975/2020. 3) Plakat «Freie Sicht aufs Mittelmeer». Kunsthaus Zürich, 1998. 4) Plakat «Deftig Barock», Kunsthaus Zürich, 2012. 5) Bice Curiger. 6) Bice Curiger und Andy Warhol. 7) Biennale di Venezia 2011, Bice Curiger, Direktorin. 8) Fondation Vincen Van Gogh, Arles. 9)Aktuelle Ausstellung Nicole Eisenman, Fondation Van Gogh, Arles. Kunstzeitschrift «Parkett», 1984-2017.

 

Dora Imhof
C is for Curator.
Bice Curiger – eine Arbeitsbiografie

Verlag der Buchhandlung von Walther und Franz König, Köln 2022
Mit Beiträgen von Katharina Fritsch, Kathy Halbreich,
Thomas Hirschhorn, Massimiliano Gioni, Dora Imhof,
Hans Ulrich Obrist, Nicholas Serota & Philip Ursprung.
Coverzeichnung: Klaudia Schifferle.
404 S., geb., 80 farbige, teils ganzseitige Abb., Bibliographie
CHF 45.90. € 29.80.
ISBN 978-3-7533-0070-2

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