FRONTPAGE

Editorial Nr. 64/65

Editorial Nr. 64/65

Juli/August 2016

 

Liebe Literatur & Kunst-Freunde und Interessierte,

herzlich willkommen!

 

Pünktlich zum Nationalfeiertag 1. August hat das Schweizerische Nationalmuseum, das Landesmuseum Zürich, seinen Erweiterungsbau eröffnet. Ein monumentaler Bau, der etwas klotzig wirkt, aber durchaus Durchblicke auf die bisherige Geschichte des Landesmuseums erlaubt. Viel Volk nahm den Weg unter die Füsse, angelockt von der volksfestartigen
Veranstaltung. Das neue Museums-Bauwerk, von denen es nicht allzuviele in Zürich gibt, muss natürlich gebührend gefeiert werden. Mit einer Ausstellung wird die Renaissance des Nationalmuseums geehrt: «Europa in der Renaissance». Eine zaghafte Annäherung an Europa, der die Schweiz ansonsten eher die kalte Schulter zeigt mit der Annahme der „Masseneinwanderungsinitiative“? Der umständliche Titel bewirkt eine noch umständlichere Umsetzung als Quadratur des Kreises. Nicht das Ei des Kolumbus also, denn eine Lösung für die sonst so pragmatische politische Schweiz ist noch in weiter Ferne. Der Termin naht und Ungemach droht: bis Februar 2017 muss eine Lösung her. Will man deshalb die «Metamorphosen der Renaissance 1400-1600» beschwören und so auf neue Ideen kommen? Möglich ist alles, nicht nur die Renaissance war geprägt von bedeutenden Umbrüchen der Weltgeschichte wie die Erfindung des Buchdrucks und die Entdeckung Amerikas und nicht zuletzt die Begründung eines neuen Weltbilds. Das können wir durchaus brauchen.

Einen schönen August wünscht Ihnen Ihre Ingrid Isermann.

www.landesmuseum.ch

 

Nach kurzer schwerer Krankheit ist Jacqueline M. Crevoisier (*1942) am 28. Juli 2016 in Amsterdam verstorben. Sie war die Preisträgerin des ersten Zürcher Lyrik-Preises Literatur & Kunst 2012. Wir trauern um eine äusserst geschätzte Kollegin und Lyrikerin.

 

 

UNESCO: Le Corbusiers architektonisches Werk ist Welterbe

 

Die UNESCO hat zwei Schweizer Bauen von Le Corbusier ins Weltkulturerbe aufgenommen: das Mehrfamilienhaus «Clarté» in Genf und die Villa «Le Lac», auch «Petite Maison» genannt, in Corseaux VD.  Das Werk von Le Corbusier sei «ein zentraler Beitrag zur architektonischen Moderne: Zwischen 1910 und 1960 initiierte diese neue Strömung eine globale Debatte zur Aufgabe der Architektur, erfand eine neue architektonische Sprache, modernisierte die Konstruktionsweisen und suchte nach Antworten auf die Bedürfnisse der modernen Gesellschaft».

Unter den weiteren aufgenommenen Corbusier-Bauten befinden sich das Regierungsgebäude von Chandigarh (Indien), das Nationalmuseum für westliche Kunst in Tokio (Japan), ein Haus in La Plata (Argentinien), «La Cité Radieuse» in Marseille, das Dominikaner-Kloster von La Tourette bei Lyon und die «Villa Savoye» bei Paris.

 

 

Die Symptome des archaischen, psychologischen Fussballs.
Wie sich Männer so innig aneinanderhängen und übereinander legen, das gibt’s nur im Fussball, ohne den Verdacht der Homosexualität, die auch im Fussball nicht unbedingt positiv ankommt, dennoch ein gewohntes Bild, auch jetzt bei der Fussball-EM in Frankreich. Hier ist’s erlaubt, anders als im normierten und notorisch strengen Geschäftsleben. Warum eigentlich? Gefühle zu zeigen, ist doch auch männlich, oder? mindestens menschlich… Und auch die Kommentatoren, meist männlich, sind interessant zu hören und zu beobachten, das Tremolo ihrer Stimmen bei Freistoss! oder Elfmeter! Warum lernen die Buben einfach nicht, dass Fouls oder Rempeleien nichts bringen ausser einer gelben oder roten Karte? Unschuldiges Gesicht, natürlich, hin oder her… Ein sehr junger Sprinter der spanischen Nationalelf wechselte kürzlich seinen Club für 30 Millionen Euro. 30 Millionen! Können das Kickerbeine wert sein? Von wegen Lohninitiative 1:12! Reklamiert wird hier nicht, abgestimmt auch nicht, zu abgehoben sind die Gladiatoren der Moderne.
Mein Fazit: auch Fussballer können nicht loslassen, sie dribbeln solange, bis der Ball weg ist. Schon Picabia sagte, unser Kopf ist rund, damit das Denken die Richtung wechseln kann… Warum schiessen eigentlich die Torhüter oft bis ins gegnerische Tor? Die Tore fallen, wenn sie niemand mehr erwartet.

 

Wir blicken gebannt nach Amerika, den Wahlen im November. Wird es nach 44 US-Präsidenten erstmals eine US-Präsidentin geben? Und wird sie Hillary Clinton heissen? Wie weit schafft es noch der Kandidat mit dem Wischmop namens Donald Trump, der sich am liebsten wie Dagobert Duck in Golddukaten wälzt? Wohin wird sich Amerika und Europa bewegen? Wir sind immer gespannt, wenn Männer etwas Neues zu sagen haben. Haben sie? Oder müssen wir warten auf die „Künstliche Intelligenz“, von der plötzlich so häufig die Rede ist? Die würden uns glatt abschalten und den Stecker ziehen.

 

Nun ist es passiert, der Brexit: der britische Opportunist David Cameron hat England aus der EU herauskatapultiert, mit dem von ihm befürworteten Referendum. Das bringt auch die Wirtschaftsszene in der Schweiz durcheinander und wird geopolitische Unsicherheiten produzieren. Anlass zum Jubeln besteht nicht. 

 

«What people do for money» heisst die internationale «Manifesta», die bis 18. September in Zürich stattfindet und mit einem von der ETH gebauten Holz-Pavillon auf dem Zürichsee Hof hält (Eintritt CHF 30). Das Motto in der Bankenstadt Zürich provoziert, wird es auch Auswirkungen haben und Diskussionen auslösen? Aber, auch wenn’s die Zürcher nicht gerne hören, die Kulturstadt ist Basel, mal abgesehen von Erasmus von Rotterdam, der hier die erste Universität gründete, ihr neues Kulturmuseum haben die Basler schon, lange vor Zürich, nicht zuletzt dank grosszügiger Sponsoren, nirgendwo in der Schweiz werden so schnell Türme hochgezogen, und auch die internationalen Hot Spot-Architekten Herzog & de Meuron stammen aus Basel. 

 

Gernot Böhme «Ästhetischer Kapitalismus», edition suhrkamp 2016:  Homepage und Personalakte – «Wenn man heute überhaupt ein Mensch ist, der dazugehören will und der gesellschatlich agiert, dann hinterlässt man Spuren im Netz, genauer in Dateien und Datenbanken, die man nicht kennt, die aber über Suchmaschinen im Prinzp jeder finden kann. Was sich dort ansammelt, entzieht sich dem eigenen Einfluss, entzieht sich auch der rechtlichen Intervention. Jeder Verriss, jeder Klatsch, jede Verleumdung, Fehldeutung, jede Zeitungsente verdichtet sich mit allen anderen Informationen zur objektiven Wahrheit über die betroffen Person». Eine Leseempfehlung.
Herzlich, Ihre Ingrid Isermann

 

 

Was können Sie im Juli/August auf Literatur & Kunst entdecken?

Wir stellen Ihnen die wunderbaren nachdenklichen Notate von Peter Handke vor: «Vor der Baumschattenwand nachts», Zeichen und Anflüge von der Peripherie 2007-2015, mit poetischen Zeichnungen des Autors, eine Trouvaille. Suhrkamp Verlag, 2016.

 

Hierzulande ist er weitgehend noch unbekannt, der flämische Dichter und Slam-Poet Andy Fierens, der kein Blatt vor den Mund nimmt und  mit «Gambaviecher in fetter Tunke» ein beachtliches Debüt vorlegt. Wunderhorn Verlag, 2016.

 

Eine Wiederentdeckung ist längst fällig: Die Luzerner Künstlerin «Sonja Sekula & Friends» machte Furore in New York im Kreise der Surrealisten um Andé Breton und Marcel Duchamp, Kunstmuseum Luzern, zur Ausstellung ist eine ausführliche gleichnamige  Publikation erhältlich, Scheidegger & Spiess, 2016.

 

«Bittersüsse Romanzen» laufen derzeit im Kino, Rolf Breiner berichtet über die neuen Filmtendenzen abseits der X-Supermänner. Aktuelle Filmtipps halten Sie dazu auf dem Laufenden.

 

Das Architekturmuseum Basel widmet dem Architekten André Studer eine Ausstellung, die Fabrizio Brentini vor Ort für uns besucht hat. Ferner: Architekturführer Iran und Chile, DOM publishers 2016.

 

Kriminalromane sind en vogue, das beweisen die steigenden Leserzahlen. Spannend sind auch die neuen
Krimis von Dominique Manotti über «Schwarzes Gold» und mafiöse Verstrickungen in Marseille, Ariadne 2016, sowie «Ewige Jugend» von Donna Leon, Diogenes 2016, das bereits auf der Bestsellerliste des «Spiegel» steht.

 

Die Schriftstellerin Isolde Schaad hat sich in einem Essay wesentliche Gedanken über die Frauenpower gemacht. Es gibt sie noch, und wie! Lesen Sie ihren Text und die Tipps.

 

Das Münsterland ist eine kleine Schatzkammer, der Westfale Rolf Breiner berichtet in seiner Reportage von der Droste bis zum Kiepenkerl und natürlich dem berühmten westfälischen Schinken…
Viel Vergnügen!

 

 

Last but not least – hier drei last minute Frauen-Buchempfehlungen:

 

«miis züri» – Neun Streifzüge durch Zürich für Frauen, von Yvonne-Denise Köchli,
Xanthippe Verlag, Zürich 2016, mit Fotos von Jutta Jacobi,  260 Seiten, CHF 35, ISBN 978-3-905795-48-6.

 

An der Buchvernissage im Zürcher Rathaus am 28. Juni, wo die altgedienten Politiker-Vorfahren mit weisser Halskrause streng aufs Publikum hinunterblicken, versammelten sich soviele Frauen aufs Mal, wie man sie selten sieht,  die wenigen Männer waren an einer Hand abzuzählen. Wie wichtig Frauen für Zürich schon immer waren und sind, zeigt nun der erste Stadtführer der grössten Stadt der Schweiz von Frauen für Frauen.

Die Limmatstadt aus Frauensicht: der Stadtführer «miis züri» beleuchtet das andere Zürich, nicht wie gehabt das der Herren Zwingli, Brun, Escher oder Pestalozzi, sondern das Zürich der Frauen in Geschichte, Literatur, Wissenschaft, Wirtschaft, Architektur und Design, das Zürich der Künstlerinnen, Literatinnen, Musikerinnen, Theater- und Filmschaffenden, Tänzerinnen und Modeschöpferinnen. Bekannte und unbekannte Namen, historische sowie zeitgenössische Persönlichkeiten lernen Sie so spielerisch kennen.  Ein „must“ für Zürich-Fans und solche, die es werden wollen… 

www.xanthippeverlag.ch

 

«Wir kommen», Ronja von Rönne, Roman, Aufbau-Verlag Berlin 2016, 205 Seiten, CHF 25.50, auch als Hörbuch, gelesen von der Autorin, erhältlich. ISBN  978-3-351-03632-4.

 

Im Zürcher Kaufleuten am 29. Juni fanden sich an diesem selten schönen Sommerabend die Gäste erst zögerlich ein, um an die Buchvernissage mit Ronja von Rönne  (*1992 in Berlin) zu kommen und die vielgelobte und wegen ihrer Feminismus-Attacke vielkritisierte Autorin selbst zu erleben… Viel hatte man schon über sie gelesen als „neue Stimme der jungen Generation“, und genau das wollte sie gar nicht sein, wie Ronja wie eine Räubertochter deklarierte, sie spricht nicht für eine Generation, sondern für sich selbst und sie weiss auch nicht viel und nicht mehr als andere … So erfrischend natürlich, spritzig intelligent und witzig, nachdenklich mit ständig herauspurzelnden Bonmots, die durchaus gescheit ihre Lage und die junger Menschen widerspiegeln, hatte man sie nicht erwartet. Ihre subjektiven und subversiven Texte machen Freude, das fand auch das geneigte Publikum an der Lesung, moderiert von Mona Vetsch, übrigens sehr durchmischt in verschiedenen Generationen anwesend.  Internet mit seinen vielen Narzissten spricht sie gar nicht an, facebook gehöre eigentlich abgeschafft. Diesem Buch kann man jedenfalls nur viele Leserinnen und Leser wünschen, ein poetisches Buch voller kleiner Weisheiten, Komik und Humor ist es allemal! Seit 1995 arbeitet Ronja von Rönne als Redaktorin im Feuilleton der «Welt».
www.aufbau-verlag.de  www.sudelheft.de

 

 

Kunst-Publikation «Rita Ernst — Imagination Mies».

Ausstellung Rita Ernst 

 im Architekturforum Zürich 
2. Juni  – 15. Juli 2016.

Hg Dr. Wita Noack, Mies van der Rohe Haus, Berlin. Mit Texten von Jan Maruhn, Kunsthistoriker Berlin; Sabine Arlitt, Kunsthistorikerin Zürich; Santiago Calatrava, Architekt, Zürich. Gestaltet von Naroska Design,
Leineneinband
 30 x 24 cm,
140 Seiten
, 61 Farb- 3 S/W-Abb. 
Deutsch/Englisch 
in Vorbereitung
39.90 €. ISBN 978-3-86828-701-1.

 

Rita Ernst (*1956 in Windisch AG) befasste sich in den letzten zehn Jahren tiefgehend mit dem Werk des Architekten Mies van der Rohe, sie übersetzte Grundrisse, Fassaden- und Raumansichten von Bauten Mies van der Rohes in eine neue Bildsprache und einen neuen Kunstgenuss.

Ihre farbigen Gemälde bestehen aus Linien- und Flächenkonstruktionen, die die Ordnungsprinzipien der Architektur van der Rohes zum Thema haben. Die gegenwärtige Ausstellung im Architekturforum Zürich macht anschaulich, wie sehr die Architektur die Bilderwelt von Rita Ernst beeinflusst hat.

 

 

40. Ingeborg-Bachmann-Preisverleihung in Klagenfurt

Ausgerechnet zwei ältere Männer spielen die Hauptrollen in den ausgezeichneten Texten: Die in Berlin lebende Britin Sharon Dodua Otoo hat mit ihrem Text «Herr Gröttrup setzt sich hin» den Bachmann-Wettbewerb 2016 gewonnen. Hochverdient, befanden die Kritiker. Der 3sat-Preis ging an Julia Wolf für ihren Text «Walter Nowak bleibt liegen», der Kelag-Preis an den Schweizer Dieter Zwicky für den Text «Los Alamos ist winzig». Die Wienerin Stefanie Sargnagel erhielt den Publikumspreis, über den im Internet abgestimmt werden konnte, für «Penne vom Kika».

 

Der Schriftsteller Marcel Beyer wird mit dem Georg-Büchner-Preis ausgezeichnet. Der mit 50.000 Euro
dotierte Preis gilt als wichtigste literarische Ehrung in Deutschland. Der in Dresden lebende 50 Jahre alte Beyer sei ein Autor, «der das epische Panorama ebenso beherrscht wie die poetische Mikroskopie», begründete die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung ihre Entscheidung. Die Verleihung des Preises ist am 5. November 2016 in Darmstadt vorgesehen.

 

Wir wünschen Ihnen einen schönen erfüllten Sommer mit Literatur & Kunst und machen Sie’s gut!

Herzlich
Ihre Ingrid Isermann, Herausgeberin

Editorial