FRONTPAGE

Editorial

September/Oktober 2023

 

Liebe Kunst- und Literaturinteressierte, herzlich willkommen auf Literatur & Kunst!

 

Schöne neue Welt
So hiess der dystopische Zukunftsroman von Aldous Huxley, der schon Zeiten überdauert hat, was für den Langzeitwert von Büchern spricht. Wie auch von Filmen: Kennen Sie „Die Zeitmaschine“ nach H.G. Wells? Eben!
   Die AfD, alternative Partei für Deutschland, feierte ihr 10-jähriges Bestehen mit 20 Prozent Wähleranteil im Osten und steht gleichzeitig wegen verfassungsfeindlicher Tendenzen unter staatlicher Beobachtung. Friedrich Merz wollte die rechtsextreme Partei um die Hälfte reduzieren, was dem agilen CDU-Vorsitzenden mit fluider Kanzlerambition bisher nicht gelang, worauf er die CDU anbiedernd als Alternative für Deutschland mit Substanz empfahl, was immer das populistisch auch heissen mag.
  Die AfD-Russlandexperten, die Putins Desinformation vertreten (poor Putin ist gezwungen, einen Krieg gegen die Ukraine zu führen, weil er von ihr und der Nato bedroht wird), – der Sowjet-KGB-Agent Putin war in der DDR im heimatlichen Dresden stationiert -,  wollen auf keinen Fall die Ukraine mit Waffen unterstützen. Und auch aus der EU raus, die der Ukraine gegen die russische Invasion Waffen liefert, das sei ein Prozess, der sich sukzessiv anbahne, meinte Chef Björn Höcke am AfD-Parteitag anfangs August in Magedburg. Aber vielleicht macht Sahra Wagenknecht (vormals Die Linke) mit einer eigenen Partei der AfD einen Strich durch die Rechnung?

Die Selbstüberschätzung des Westens besteht darin, die mächtigsten Diktaturen der Welt, Russland und China, zu unterschätzen.  

   Muss man sich Sorgen machen um unser Europa, das nach 78 Jahren Frieden in Putins Angriffskrieg verwickelt wird? Es wäre doch zu schön, Frieden in Europa und der Welt! Und was soll nur mit den Waffen geschehen, die eiligst in grosser Stückzahl hergestellt werden? Nur die Schweiz ist eine Insel, sie pflegt ihre Neutralität, kann Waffen produzieren und verkaufen, wie an Saudiarabien für den Krieg im Jemen oder sonstwohin, ein Bombengeschäft. Die Ukraine kriegt nichts, die Neutralität verbietet Wiederverkäufe an Staaten, die sich im Krieg befinden. Die Schweiz machte bisher keinen Unterschied zwischen Krieg und Angriffskrieg, dafür bräuchte es eine Gesetzesänderung. Es ist Zeit, die Schweiz in Sachen Neutralität unter die Lupe zu nehmen.

   Apropos: am 22. Oktober sind Wahlen in der Schweiz, man sollte den Populisten, die die Migration für ihre kalten Machtgelüste instrumentieren, ins Leere laufen lassen.

   Aufklärung tönt zwar bereits nostalgisch, ist aber wesentlich. Denn wirklich gefährlich ist die wegschauende Gleichgültigkeit. Im Besonderen gilt das für die USA, die zu einem Wildwestcountry mutieren, wo Trump aus der Hüfte die Verfassung und Gesetze abschiesst.

   Olaf Scholz bringt sich derweil mit Comics in Schwung. Wir machen das mit Literatur & Kunst. Ich wünsche Ihnen eine friedliche Zeit.
Herzlich Ihre Ingrid Isermann
1. September 2023

 

Schauspielhaus Zürich: «Leben des Galilei» von Bertolt Brecht. Premiere 9. September 2023.

Intendant Nicolas Steman inszeniert Brechts «Leben des Galilei» und um es vorwegzunehmen, die dreistündige Expedition des engagierten Ensembles ist geglückt, dem Zürcher Publikum die Lehren des Galileo Galilei, Mathematikers und Astronomen zu Padua 1609, nahezubringen.

Geschrieben hat das Schauspiel Bertolt Brecht 1938/39 im dänischen Exil im Vorhof des Zweiten Weltkrieges. Genau 80 Jahre vor der Premiere im Schauspielhaus wurde das Stück am 9. September 1943 im Zürcher Pfauen uraufgeführt. Und die alte Frage, wer ist Subjekt und wer Objekt, ist erneut aktuell.
Galilei erfindet die moderne Wissenschaft, kämpft gegen die Allmacht der Kirche und tritt auf der Pfauenbühne im Kollektiv in verschiedener Gestalt auf (Matthias Neukirch, Steven Sowah, Gottfried Breitfuss), sekundiert vom Special Guest, der jungen Sängerin, Komponistin und Performerin Andrina Bollinger, die oszillierend zwischen Avantgarde-Pop und Jazz einen zauberhaften Soundteppich webt: «In dem Jahr 1609 schien das Licht des Wissens hell zu Padua aus einem kleinen Haus. Galileo Galilei rechnet aus: Die Sonn steht still, die Erd kommt von der Stell».
Als Galileo Galilei (Sebastian Rudolph) am Ende kapituliert, seine Erkenntnisse widerruft, dass die Erde sich um die Sonne dreht und jeder Mensch ein Mittelpunkt ist, sitzt er tief deprimiert am Bühnenrand und zweifelt an sich und der Welt. 1633 wird er in Rom von der heiligen Inquisition zum Widerruf verurteilt. Und doch, in der inneren Emigration hält Galilei an seinem Wissen fest: «… und sie bewegt sich doch».
Genug Stoff, um sich der Bedeutsamkeit von Wissenschaft bewusst zu werden, von der Klimakrise und der Sehnsucht des Menschen nach Sonne, Mond und Sternen; das elegante Bühnenbild in Schwarz-Weiss von Jelena Nagorni, evoziert als dunkler, kühler planetarischer Raum, unterstreicht die Diktion der Figuren mit Sternenglitzer auf ihren dunklen Kleidern.

Ensemble: Alicia Aumüller, Gottfried Breitfuss, Matthias Neukrich, Karin Pfammatter, Maximilian Reichert, Sebastian Rudolph, Steven Sowah.
Live-Musik: Andrina Bollinger. Die Musik von Hanns Eisler wurde für die Inszenierung bearbeitet von Andrina Bollinger und Nicolas Steman. www.schauspielhaus.ch

Ingrid Isermann, 10. September 2023
 

Comedian und Comedienne – Glückssache!
Comedian Jan Böhmermann ist kein Feindbild. Sondern ein Ärgernis und ein lauter Widerling. Warum? Weil er fern von Selbstkritik und Humor agiert. Selbstgerecht bis in die Fingerspitzen schwadroniert er, dass einem nicht zum Lachen zumute ist, wenn er den Mächtigen im ZDF-Royale auf die Finger klopft, plump, dumb, sich selbst als «Arschloch mit Herz» bezeichnend, eine unappetitliche Gemengelage, bei der das Herz einen Stillstand erleidet. Ein Beispiel, wie Comedy geht, könnte sich Böhmermann an seiner Kollegin Maren Kroyman nehmen, die mit Sprachwitz, Satire und Ironie brilliert.
Ingrid Isermann, 17. September 2023

 

 
Sprachlosigkeit
Sprachlosigkeit hat seit kurzem einen neuen Namen und der heisst Hubert Aiwanger, und das in doppelter Hinsicht. Einerseits kann sich der Genannte nicht erinnern, was vor 35 Jahren geschah, als er in seiner Schultasche ein Hetzblatt mit antisemitischem Inhalt herumtrug, woher das kam, wer das geschrieben hat, nicht er, sondern sein Bruder, andererseits macht dieses Kampfblatt eines schulischen Wettbewerbs sprachlos, dass so etwas soviele Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg im Deutschland nach dem Holocaust noch möglich ist. Überhaupt noch möglich ist. Und der o.e. beklagte sich umgehend bitterlich, dass man gegen ihn eine politische Hexenjagd veranstalte von Seiten der Medien, die ihn als Vizepräsidenten der bayrischen Metropole weghaben wollten. Die 25 Fragen zur Aufklärung habe er zeitnah beantwortet, auch wenn die Mehrheit der Antworten seine Erinnerung wie eine Demenz erschienen liessen. Tant pis, der Ministerpräsident Markus Söder kann augenscheinlich nicht auf die Freien Wähler verzichten, die ihren Hubert gleich aufs Schild hoben und ihn mannhaft gegen die Hetze verteidigten.
Auch das macht sprachlos. In diesen Zeiten.
14. September 2023 Ingrid Isermann
 

 

Lutz Seiler erhält den Büchner-Preis

Der Schriftsteller Lutz Seiler wird mit dem Georg-Büchner-Preis 2023 ausgezeichnet, teilte die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt mit: «In Lutz Seiler ehrt die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung einen Autor, der mit klangvollen Gedichtbänden begann, von dort zum Erzählen fand, stets aber ein so klarer wie rätselhafter, dunkel leuchtender Lyriker bleibt, zuletzt mit «schrift für blinde riesen», hiess es zur Begründung von der Jury. Seiler habe als Romancier und als Dichter zu seiner eigenen, unverwechselbaren Stimme gefunden, melancholisch, dringlich, aufrichtig, «voll von wunderbaren Echos aus einer langen literarischen Tradition» (siehe auch Archiv Literatur & Kunst 11/2014 «Der proletarische Zauberberg»).

 

Zwei empfehlenswerte Essays über Kunst und Politik: George Orwell und Ian McEwan «Der Bauch des Wals».
 
1940, der Zweite Weltkrieg wütete in Europa, schrieb George Orwell den Essay Im Innern des Wals, in dem er die Freiheit des Künstlers, sich von den Problemen der Welt abzuwenden, verteidigte – obwohl er selbst ein eminent politischer Autor war.
Auf diesen berühmten Essay antwortet Ian McEwan in seiner <Orwell Memorial Lecture>, die erstmals in Buchform erscheint, und bezieht Orwells Überlegungen auf unsere Gegenwart.
Muss Kunst politisch sein? Kann politische Kunst gelingen? Zwei Essays über Literatur und politisches Engagement – zwei grosse britische Schriftsteller und Denker im Zwiegespräch.
«Gute Romane werden von Leuten geschrieben, die keine Angst haben». George Orwell.

Diogenes 2023, ISBN 978-3-257-07263-1.
 
George Orwell (1903-1950) ist der Autor der weltberühmten Romane Farm der Tiere und 1984. Ian Mc Ewan (*1948) in Hampshire, lebt in London; 1998 erhielt er den Booker-Preis und 1999 den Shakespeare-Preis der Alfred Toepfer-Stiftung. Seit seinem Welterfolg Abbitte ist jeder seiner Romane ein Bestseller, viele wurden verfilmt.

 

Was können Sie im September/Oktober 2023 auf Literatur & Kunst entdecken?
 

Literatur: C.F. Ramuz: «Sturz in die Sonne» ist ein atemberaubendes visionäres Klimawandel-Epos, eine Wiederentdeckung, 1922 in einer cineastischen Sprache verfasst, die unbedingt zur Lektüre einlädt. Limmatverlag, 2023.
 
Eine Biographie über eine bekannt-unbekannte DDR-Schriftstellerin: «Brigitte Reimann: Ich bin so gierig nach Leben» von Carsten Gansel, Professor für Neuere Deutsche Literatur. Die Texte der mit nur knapp 40 Jahren verstorbenen Autorin, einer Weggefährtin von Christa Wolf, die sich mit der Stasi anlegte, haben sich ihre frauenspezifische Aktualität bewahrt. Aufbau-Verlag Berlin, 2023.
 
Joy Williams ist geschätzt und gefürchtet ihrer kompromisslosen Stories wegen, die allemal unter die Haut gehen: «Stories», dtv 2023.
 
«Käthe Kollwitz: Stellung beziehen» heisst sowohl eine ausgezeichnete Publikation mit Gastbeiträgen als auch die Ausstellung im Kunsthaus Zürich mit Interventionen von Mona Hatoum. Nie wieder Krieg! war eine der Diktionen der begnadeten Künstlerin Kollwitz, deren Werke sich tief ins kulturelle Gedächtnis eingeschrieben haben.
 
Lyrik: In eigener Sache – das «Logbuch Chaos&Kosmos» beinhaltet Gedichte, Visuelle Poesie und den Prosatext «Weltenflimmern», Fragmente, Episoden und Reminiszenzen. Wolfsberg Verlag, 2023. Vorzugsausgabe mit Original-Lithographien VISUELLE POESIE Steindruckerei Thomi Wolfensberger, Eglistrasse 8, 8004 Zürich.
 

Arne Rautenberg: «sekundenfrühling». Neue Gedichte von Arne Rautenberg, der sich auch der Visuellen Poesie annimmt. Mit einem Vorwort von Durs Grünbaum. Wunderhorn-Verlag, 2023
 
«O Stern und Blume, Geist und Kleid»: Blumenbilder und Blumengedichte von Leonardo da Vinci bis Ernst Jandl, Schirmer/Moser-Verlag, 2023
 

Kunst: Die Weltausstellung von 1873 als Wirtschaftsmotor katapultierte Wien in eine moderne Metropole. Ingrid Schindler berichtet vor Ort von der Ur-EXPO, was davon noch übrig blieb. 
 
Photo/Film: Das Zurich Film Festival (ZFF) ist jedes Jahr ein grosses Ereignis für Zürich! Vom 28. Septmber bis 8. Oktober 2023 stehen die neuesten Filme auf dem Programm und das Goldene Auge wird an die deutsche Schauspielerin Diane Kruger am 2. Oktober verliehen. Marion Löhndorf über Robert De Niro zum 80. Geburtstag. Aktuelle Filmtipps.
 
Architekturtipps: OMA’s Kunsthal, Rotterdam ist ein fulminanter Museumsbau von Rem Kohlhaas; Israelischer Pavillon an der 18. Architekturbiennale Venedig; Advancend School of Collective Feeling,
Park Books, 2023.
 
Widescreen: Museum Rietberg, Zürich   
«Look Closer. Kunst Afrikas im Archiv Himmelheber. 17.03.2023-17.09.2023
links: Künstler im Dan-Stil, Maske, Deangle, Liberia, vor 1965, Holz, 2015.243, 1965 erworben von Hans Himmelheber, Geschenk Eberhard und Barbara Fischer, Museum Rietberg; rechts: Jean Don Gba, Porträtmaske von Hans Himmelheber, Côte dʼIvoire, Dan-Region, Petit Baple, 13., 15., 17. Februar 1971, Holz, 2017.36, 1971 erworben von Hans Himmelheber, Geschenk Eberhard und Barbara Fischer, Museum Rietberg

 

Buchtipps: Teresa Präauer «Kochen im falschen Jahrhundert», eine vergnügliche Kochshow, Wallstein Verlag, 2023.
Isolde Schaad «Das Schweigen der Agenda», Geschichten vom Gendern und gehörig-ungehörigen Geheimnissen, Limmatverlag, 2023.
Christina Hug «Unser Haus», ein authentischer Roman über die Hausbesetzerszene um die Jahrtausendwende, Zytglogge Verlag, 2023.
 
Buchtipps/Ausstellung: Rachel Lumsden «Ritt auf der Wildsau», Notizen über die Kunstszene und den Weg als Künstlerin. Scheidegger & Spiess; Ausstellung im Kunstmuseum Thurgau, Kartause Ittingen.
Mara Meier «Im Sommer sind die Schatten blau» über die Künstlerin Amanda Tröndle-Engel, Zytglogge-Verlag, 2023. Spannende Rezensionen von Ingrid Schindler.
 
Last but not least: Die Journalistin und Fotografin Julieta Schildknecht im Gespräch über das Logbuch Chaos&Kosmos.

 

 

Wir wünschen Ihnen einen farbigen Herbst und viele schöne, anregende Momente mit Literatur & Kunst!

 

Herzlich
Ihre Ingrid Isermann, Herausgeberin