FRONTPAGE

Editorial

September/Oktober 2023

 

Liebe Kunst- und Literaturinteressierte, herzlich willkommen auf Literatur & Kunst!

 

Schöne neue Welt
So hiess der dystopische Zukunftsroman von Aldous Huxley, der schon Zeiten überdauert hat, was für den Langzeitwert von Büchern spricht. Wie auch von Filmen: Kennen Sie „Die Zeitmaschine“ nach H.G. Wells? Eben!
   Die AfD, alternative Partei für Deutschland, feierte ihr 10-jähriges Bestehen mit 20 Prozent Wähleranteil im Osten und steht gleichzeitig wegen verfassungsfeindlicher Tendenzen unter staatlicher Beobachtung. Friedrich Merz wollte die rechtsextreme Partei um die Hälfte reduzieren, was dem agilen CDU-Vorsitzenden mit fluider Kanzlerambition bisher nicht gelang, worauf er die CDU anbiedernd als Alternative für Deutschland mit Substanz empfahl, was immer das populistisch auch heissen mag.
  Die AfD-Russlandexperten, die Putins Desinformation vertreten (poor Putin ist gezwungen, einen Krieg gegen die Ukraine zu führen, weil er von ihr und der Nato bedroht wird), – der Sowjet-KGB-Agent Putin war in der DDR im heimatlichen Dresden stationiert -,  wollen auf keinen Fall die Ukraine mit Waffen unterstützen. Und auch aus der EU raus, die der Ukraine gegen die russische Invasion Waffen liefert, das sei ein Prozess, der sich sukzessiv anbahne, meinte Chef Björn Höcke am AfD-Parteitag anfangs August in Magedburg. Aber vielleicht macht Sahra Wagenknecht (vormals Die Linke) mit einer eigenen Partei der AfD einen Strich durch die Rechnung?

Die Selbstüberschätzung des Westens besteht darin, die mächtigsten Diktaturen der Welt, Russland und China, zu unterschätzen.  

   Muss man sich Sorgen machen um unser Europa, das nach 78 Jahren Frieden in Putins Angriffskrieg verwickelt wird? Es wäre doch zu schön, Frieden in Europa und der Welt! Und was soll nur mit den Waffen geschehen, die eiligst in grosser Stückzahl hergestellt werden? Nur die Schweiz ist eine Insel, sie pflegt ihre Neutralität, kann Waffen produzieren und verkaufen, wie an Saudiarabien für den Krieg im Jemen oder sonstwohin, ein Bombengeschäft. Die Ukraine kriegt nichts, die Neutralität verbietet Wiederverkäufe an Staaten, die sich im Krieg befinden. Die Schweiz machte bisher keinen Unterschied zwischen Krieg und Angriffskrieg, dafür bräuchte es eine Gesetzesänderung. Es ist Zeit, die Schweiz in Sachen Neutralität unter die Lupe zu nehmen.

   Apropos: am 22. Oktober sind Wahlen in der Schweiz, man sollte den Populisten, die die Migration für ihre kalten Machtgelüste instrumentieren, ins Leere laufen lassen.

   Aufklärung tönt zwar bereits nostalgisch, ist aber wesentlich. Denn wirklich gefährlich ist die wegschauende Gleichgültigkeit. Im Besonderen gilt das für die USA, die zu einem Wildwestcountry mutieren, wo Trump aus der Hüfte die Verfassung und Gesetze abschiesst.

   Olaf Scholz bringt sich derweil mit Comics in Schwung. Wir machen das mit Literatur & Kunst. Ich wünsche Ihnen eine friedliche Zeit.
Herzlich Ihre Ingrid Isermann
1. September 2023

 

Schauspielhaus Zürich: «Leben des Galilei» von Bertolt Brecht. Premiere 9. September 2023.
 
Intendant Nicolas Steman inszeniert Brechts «Leben des Galilei» und um es vorwegzunehmen, die dreistündige Expedition des engagierten Ensembles ist geglückt, dem Zürcher Publikum die Lehren des Galileo Galilei, Mathematikers und Astronomen zu Padua 1609, nahezubringen.
 
Geschrieben hat das Schauspiel Bertolt Brecht 1938/39 im dänischen Exil im Vorhof des Zweiten Weltkrieges. Genau 80 Jahre vor der Premiere im Schauspielhaus wurde das Stück am 9. September 1943 im Zürcher Pfauen uraufgeführt. Und die alte Frage, wer ist Subjekt und wer Objekt, ist erneut aktuell.
Galilei erfindet die moderne Wissenschaft, kämpft gegen die Allmacht der Kirche und tritt auf der Pfauenbühne im Kollektiv in verschiedener Gestalt auf (Matthias Neukirch, Steven Sowah, Gottfried Breitfuss), sekundiert vom Special Guest, der jungen Sängerin, Komponistin und Performerin Andrina Bollinger, die oszillierend zwischen Avantgarde-Pop und Jazz einen zauberhaften Soundteppich webt: «In dem Jahr 1609 schien das Licht des Wissens hell zu Padua aus einem kleinen Haus. Galileo Galilei rechnet aus: Die Sonn steht still, die Erd kommt von der Stell».
Als Galileo Galilei (Sebastian Rudolph) am Ende kapituliert, seine Erkenntnisse widerruft, dass die Erde sich um die Sonne dreht und jeder Mensch ein Mittelpunkt ist, sitzt er tief deprimiert am Bühnenrand und zweifelt an sich und der Welt. 1633 wird er in Rom von der heiligen Inquisition zum Widerruf verurteilt. Und doch, in der inneren Emigration hält Galilei an seinem Wissen fest: «… und sie bewegt sich doch».
Genug Stoff, um sich der Bedeutsamkeit von Wissenschaft bewusst zu werden, von der Klimakrise und der Sehnsucht des Menschen nach Sonne, Mond und Sternen; das elegante Bühnenbild in Schwarz-Weiss von Jelena Nagorni, evoziert als dunkler, kühler planetarischer Raum, unterstreicht die Diktion der Figuren mit Sternenglitzer auf ihren dunklen Kleidern.

Ensemble: Alicia Aumüller, Gottfried Breitfuss, Matthias Neukrich, Karin Pfammatter, Maximilian Reichert, Sebastian Rudolph, Steven Sowah.
Live-Musik: Andrina Bollinger. Die Musik von Hanns Eisler wurde für die Inszenierung bearbeitet von Andrina Bollinger und Nicolas Steman. www.schauspielhaus.ch

Ingrid Isermann, 10. September 2023
 

Comedian und Comedienne – Glückssache!
Comedian Jan Böhmermann ist kein Feindbild. Sondern ein Ärgernis und ein lauter Widerling. Warum? Weil er fern von Selbstkritik und Humor agiert. Selbstgerecht bis in die Fingerspitzen schwadroniert er, dass einem nicht zum Lachen zumute ist, wenn er den Mächtigen im ZDF-Royale auf die Finger klopft, plump, dumb, sich selbst als «Arschloch mit Herz» bezeichnend, eine unappetitliche Gemengelage, bei der das Herz einen Stillstand erleidet. Ein Beispiel, wie Comedy geht, könnte sich Böhmermann an seiner Kollegin Maren Kroyman nehmen, die mit Sprachwitz, Satire und Ironie brilliert.
Ingrid Isermann, 17. September 2023

 

 
Sprachlosigkeit
Sprachlosigkeit hat seit kurzem einen neuen Namen und der heisst Hubert Aiwanger, und das in doppelter Hinsicht. Einerseits kann sich der Genannte nicht erinnern, was vor 35 Jahren geschah, als er in seiner Schultasche ein Hetzblatt mit antisemitischem Inhalt herumtrug, woher das kam, wer das geschrieben hat, nicht er, sondern sein Bruder, andererseits macht dieses Kampfblatt eines schulischen Wettbewerbs sprachlos, dass so etwas soviele Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg im Deutschland nach dem Holocaust noch möglich ist. Überhaupt noch möglich ist. Und der o.e. beklagte sich umgehend bitterlich, dass man gegen ihn eine politische Hexenjagd veranstalte von Seiten der Medien, die ihn als Vizepräsidenten der bayrischen Metropole weghaben wollten. Die 25 Fragen zur Aufklärung habe er zeitnah beantwortet, auch wenn die Mehrheit der Antworten seine Erinnerung wie eine Demenz erschienen liessen. Tant pis, der Ministerpräsident Markus Söder kann augenscheinlich nicht auf die Freien Wähler verzichten, die ihren Hubert gleich aufs Schild hoben und ihn mannhaft gegen die Hetze verteidigten.
Auch das macht sprachlos. In diesen Zeiten.
14. September 2023 Ingrid Isermann
 

Nationalratswahlen 22. Oktober 2022

Ein flauer Wahlkampf, der vorbeirauscht und sich die wichtigen Themen vom Leibe hält. Migration? Nicht mit uns, sagt die SVP. Asylanten, Kriegsflüchtlinge können wir nicht mehr aufnehmen. Die EU hat Begrenzungen und Regelungen beschlossen, aber die Schweiz ist nicht Mitglied der EU. Ein Thema, das der Bundesrat wie eine heisse Kartoffel fallenlässt. Es ist ein Trauerspiel, jahrzehntelange Verhandlungen mit der EU für ein Rahmenabkommens, der Geschäftsgrundlage zwischen Handelspartnern, und kein Ergebnis. Man kommt nicht vom Fleck. Die SVP hat die EU in jahrelangen Diskriminierungen schlechtgeredet, Bundesrat Albert Rösti meint neuerdings, die Schweiz brauche auch kein Stromabkommen mit der EU um jeden Preis. Weit gefehlt, das könnte teuer und teurer werden, denn die Schweiz braucht ein Stromabkommen mit der EU. Die Parteien, zerstritten untereinander, die um die Wählergunst buhlen, wollen sich am Reizthema EU und Neutralität nicht die Finger verbrennen. Das zum Schaden der Schweiz. Der Sonderfall produziert Sonderlinge. Die Dinge werden nicht besser, wenn man den Kopf in den Sand steckt und meint, die Probleme verschwinden von selbst, wenn man sie aussitzt. Das ist keine Haltung, das ist Dienstverweigerung am Volk. Und einem guten Ruf mit den guten Diensten abträglich. Helfen tut das alles nur dem Aggressor Russland, seinen Oligarchen, die ihre Milliardenvermögen in der Schweiz lagern und dem Rohstoffhandel, der über die Schweiz läuft. Und auch die Neutralität spielt dem Kriegstreiber Russland gegen die Ukraine in die Hände, dass die Schweiz über bereits verkaufte Waffen ihr Dementi erhebt. Das ist absolut nicht verständlich, wie wenn man einen Mantel im Secondhand-Laden verkauft hat und danach bestimmen will, an wen und ob er wiederverkauft werden darf. Eine eigenartige Rechnung und Aufrechnung von einer eigenartigen Schweiz, die auf ihre Eigenart so stolz ist. Welche Eigenart? Die des Abseitsstehens und der Profitmaximierung? Oder die der Menschenrechte und der Solidarität mit den Schwächeren? Die Schweiz muss sich entscheiden, dieser Bundesrat trifft keine Entscheidungen, das Volk ist der Souverän, behauptet man, also gehören die Diskurse in das Parlament und vor das Volk. So ist es in einer direkten bzw. halbdirekten Demokratie, oder etwa nicht?
Ingrid Isermann, 24. September 2023

 

Club SRF: Ein Lob auf die Langeweile der Schweizer Politik nach den Wahlen
Die Politik in der Schweiz, sagte Marc Bühlmann, Professor für Politikwissenschaft Universität Bern, sei zwar langweilig, aber lässig und cool… Dem schlossen sich alle
Gesprächsteilnehmenden im Club am 24. Oktober 2023 erleichtert an. So langweilig war’s hingegen nicht, die SVP holte neun ihrer zwölf verlorenen Sitze zurück (neu 62 Sitze), die Grünen verloren fünf Sitze (neu 23 Sitze), die GLP sechs (neu 10 Sitze), obwohl sie prozentual weniger verlor. Die Mitte gewinnt einen Sitz (neu 29 Sitze), die FDP verliert einen Sitz (neu 28 Sitze). Das Schweizer Wahlsystem sei eben sehr kompliziert und im Ausland praktisch nicht zu erklären, meinte Urs Leuthard, Wahl-Speaker SRF. Tja, so ist es eben… wir sind anders! Doch so anders ist die Schweiz gar nicht, denn die SVP wird ringsum nicht als bürgerliche Partei eingeordnet, sondern im europäischen Kontext als eine rechtsradikale populistische Partei, die nicht den Konsens sucht, sondern den Dissenz. Davor möchte man hier lieber die Augen verschliessen, sie nicht in die Nähe der AfD rücken, obwohl kaum Unterschiede festzustellen sind (gegen EU und Waffenlieferungen in die Ukraine, fremdenfeindliche Hetze und gegen die da oben). Bei fast 30 Prozent der SVP der Wählerstimmen (von etwa 46 Prozent der Wählenden) schreibt der Tages-Anzeiger «Die Schweiz wählt Stabilität». Wenn man sich da nur nicht täuscht, denn die selbsternannte Volkspartei hat ausser Angstmache vor Zuwanderung und Asylanten keine Rezepte und Lösungen. Sie befindet sich permanent im Wahlkampf und treibt die anderen Parteien vor sich her. Ersetzt die Mitte die FDP? Will sie einen Bundesratssitz? So weit entfernt voneinander sind die beiden Parteien nicht, vielleicht ist die Mitte etwas europafreundlicher. Viel würde das nicht bewirken. Die Grünen als Schreckgespenst (Klimakleber! Glättli!) würden nur einen Bundesratssitz ergattern, wenn sie mit der GLP zusammengehen, das würde sie als ernsthafte grüne Partei mit Wirtschaftsflügel zu einem Bundesratssitz befördern. Die SP gehört diesmal zu den Gewinnern mit zwei Sitzgewinnen (neu 41 Sitze), was den Kohl auch nicht fett macht. Sie setzte auf die steigenden Krankenkassenprämie und Kaufkraft, das zog. Und sonst? Europa ist kein Thema mehr, Stromversorgung auch nicht, was überhaupt? Ist die Schweiz in der Selbstverzwergung? Wo ist die Aussenpolitik? Und fragt man noch das Volk, was es will? In Sachen Europa, wohin man gehören will? Denn eine Insel war und ist die Schweiz längst nicht mehr, sie wird umtost und umbrandet von den Wellen, die die Tagesthemen in der Presse hochpeitschen.
Den Slogan «10-Millionen-Schweiz» wird die SVP freudig weiter benützen, ungeachtet der Tatsache, dass nicht die Asylanten die grosse Zuwanderung bewirken, sondern die
von der Wirtschaft angeforderten und benötigten Fachkräfte aus dem Ausland, auf die die Wirtschaft nicht verzichten will, um das Wachstum nicht zu gefährden. Da sind sich FDP und Mitte einig. Die SP möchte den Lohnschutz sichern, aber wie wäre es, wenn sie im eigenen Land damit anfangen würde? Stichwort Mindestlohn? Und die Gewerkschaften zur Vernunft überreden würde? Denn ohne Europa und den Europäischen Binnenmarkt geht die Schweizer Wirtschaft bachab. Eigentlich wissen das alle. Warum handeln sie nicht? Und warum fragt der Bundesrat nicht das Volk? Das Volk ist der Souverän. Und nicht die SVP.
25. Oktober 2023 Ingrid Isermann

 

Lutz Seiler erhält den Büchner-Preis

Der Schriftsteller Lutz Seiler wird mit dem Georg-Büchner-Preis 2023 ausgezeichnet, teilte die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt mit: «In Lutz Seiler ehrt die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung einen Autor, der mit klangvollen Gedichtbänden begann, von dort zum Erzählen fand, stets aber ein so klarer wie rätselhafter, dunkel leuchtender Lyriker bleibt, zuletzt mit «schrift für blinde riesen», hiess es zur Begründung von der Jury. Seiler habe als Romancier und als Dichter zu seiner eigenen, unverwechselbaren Stimme gefunden, melancholisch, dringlich, aufrichtig, «voll von wunderbaren Echos aus einer langen literarischen Tradition» (siehe auch Archiv Literatur & Kunst 11/2014 «Der proletarische Zauberberg»).

 
Literaturnobelpreis für Jon Fosse
Der norwegische Autor Jon Fosse erhält den Nobelpreis für Literatur, teilte die Schwedische Akademie in Stockholm mit. Er erhalte die Auszeichnung „für seine innovativen Theaterstücke und Prosa, die dem Unsagbaren eine Stimme geben“, hieß es zur Begründung. Der Preis ist mit elf Millionen schwedischen Kronen dotiert (910 000 Franken), das sind eine Million Kronen mehr als im Vorjahr. Im vergangenen Jahr hat die Schwedische Akademie die französische Schriftstellerin Annie Ernaux ausgezeichnet.

(siehe Archiv Literatur&Kunst, 10/2015, Schauspielhaus Zürich, Jon Fosse «Das Meer» https://www.literaturundkunst.net/dekalog-nach-krzysztof-kieslowski-im-schiffbau-eine-fulminante-schaubuhne/)

5. Oktober 2023

 
Frankfurter Buchmesse mit Ehrengast Slowenien vom 18.-22. Oktober 2023
Der Preisträger des Deutschen Buchpreises ist der österreichische Schriftsteller Tonio Schachinger für seinen Roman «Echtzeitalter» (Rowohlt Verlag). Die Begründung der Jury: «Auf den ersten Blick ist Tonio Schachingers «Echtzeitalter» ein Schulroman. Auf den zweiten viel mehr als das: ein Gesellschaftsroman, der das Aufwachsen seines Helden Till an einer Wiener Eliteeinrichtung beschreibt, an der die künftigen Leistungsträger:innen mit reaktionärem Drill und bildungsbürgerlichen Idealen aufs Leben vorbereitet werden. Aus dieser repressiven Umgebung, verkörpert durch den mephistophelischen Lehrer Dolinar, flüchtet sich Till in die Welt des Gaming. Mit feinsinniger Ironie spiegelt Schachinger die politischen und sozialen Verhältnisse der Gegenwart: Aus gebildeten Zöglingen spricht die rohe Gewalt. Die Welt der Computerspiele bietet einen Ort der Fantasie und Freiheit. Auf erzählerisch herausragende und zeitgemässe Weise verhandelt der Text die Frage nach dem gesellschaftlichen Ort der Literatur».

Friedenspreis des Deutschen Buchhandels für Rushdie
Am Sonntag, 22. Oktober wird Salman Rushdie, dezidierter Religionskritiker, in der Frankfurter Paulskirche mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels geehrt. Für den 76-Jährigen ist der Preis „das Sahnehäubchen, das grosse Ausrufezeichen“ am Ende der Frankfurter Buchmesse.
21. Oktober 2023

 
Schweizer Buchpreis 2023 für den 80-jährigen Schweizer Autor Christian Haller: «Sich lichtende Nebel».

Im Jahr 1925 kommt es zu einem folgenreichen Treffen der Physiker Werner Heisenberg und Niels Bohr. Christian Haller macht daraus eine Novelle der Ungewissheit. Auf Helgoland, wo Heisenberg einige Tage verbringt, erlebt er eine Art mystische Erleuchtung. Es lichten sich die Nebel, er formuliert die Grundlagen der Quantenmechanik. In der Begründung schreibt die Jury: «Meisterhaft verdichtet Christian Haller komplexe Themen zu einer Novelle, die einfach und leicht verständlich daherkommt und dabei durch gedanklichen Tiefgang ebenso überzeugt wie durch sprachliche Eleganz und Klarheit.» Der Preis ist mit 30 000 Franken dotiert.

20. November 2023

 

 
Schalom Israel!
Am 7. Oktober 2023 wurde Israel von der in Gaza herrschenden Terrororganisation Hamas brutal aus dem Hinterhalt überfallen, die Menschen wahllos tötete und Geiseln verschleppte. Die politische Verantwortung für das Versagen der israelischen Geheimdienste, die vom Angriff völlig überrascht wurden, trägt Premierminister Benjamin Netanjahu. Es stockt einem der Atem aufgrund der schrecklichen Bilder und erinnert an den Jom Kippur-Krieg von 1973, mit dem Unterschied, dass Soldaten gegeneinander kämpften und jetzt vor allem die israelische Zivilgesellschaft den Blutzoll zu zahlen hat.
Die israelische Schriftstellerin Zeruya Shalev berichtet im ZEIT-Feuilleton vom 12. Oktober 2023, No. 43 über den Terror und die schlimmsten Albträume ihrer Kindheit, die nun wahr geworden sind, dass Israel sich in einer Illusion der Sicherheit gewiegt hatte: «… im Krieg von 2023 sind wir einer extremen, zügellosen Regierung ausgeliefert, an deren Spitze ein Ministerpräsident steht, den in den letzten Jahren nur noch interessierte, wie er seinem Strafprozess entkommen kann. Wenn zukünftige Historiker einmal die letzten Jahre analysieren, wird sich ihnen ein Bild bieten, das direkt zu den erschütternden, in diesen dunklen Tagen im Netz verbreiteten Videos führt. Sie werden auf einen Ministerpräsidenten stossen, der einen Anschlag auf die Demokratie plante, der versuchte, den Staat zu kidnappen, die Bürger zu Geiseln zu machen. (…) Wir, die liberalen Bürger, die seit neun Monaten gegen die sogenannte Justizreform auf die Strasse gegangen sind, gegen die extreme, verantwortungslose Regierung, (…) haben immer wieder davor gewarnt, dass dieser Ministerpräsident den Staat schwächt, dass unsere Widersacher diese Schwäche erkennen und zuschlagen werden. (…) Ich bete um ein rasches Ende dieses Krieges. Mögen wir ihn überleben. Mögen auf beiden Seiten möglichst wenige Unschuldige leiden müssen. (…) Hoffentlich gelingt ein Zusammenschluss all derer, die das Leben wählen und deswegen einen Kompromiss anstreben. Das scheint noch in weiter Ferne zu liegen, aber womit sollten wir uns trösten?». Schalom Israel!
12. Oktober 2023. Ingrid Isermann

 

Blowin’ in the Wind…

«Es kann doch so einfach sein», sagte die 102-jährige Margot Friedländer in Talkshows und in einem Biopic über ihr Leben als Holocaust-Überlebende, «… wir sind doch alle Menschen. Und Menschen möchten leben…».  Wenn nur nicht das jüdische Leben so bedroht wäre, dass man Juden nach dem Leben trachtet. Antisemitismus nennt es sich, das Wort, das eigentlich ein Unwort ist. Denn was heisst es, ein Antisemit zu sein? Zuletzt haben das die Hamashorden gezeigt, die in Israel mit mörderischer Brachialgewalt einfielen, junge und alte Menschen in ihrem Kibbuz töteten und Geiseln nach Gaza verschleppten. In Essen im Ruhrgebiet fühlten sich danach furiose Hamas-Anhänger ermutigt, nach einem Kalifat in Deutschland zu rufen. Wie weit sind wir gekommen und wie soll es weitergehen? Auf einem Gebiet, halb so gross wie der Schweiz, leben neuneinhalb Millionen Menschen, fünf Millionen davon sind Palästinenser in Gaza und im Westjordanland, hier unter israelischer Besatzung. Der Konflikt schwelt seit Beginn des Staates Israel 1948, der mit der Vertreibung der palästinensischen Landbevölkerung begann. 700.000 Menschen flüchteten vor dem neuen Staat nach Jordanien und in den Libanon. Und die Kriege begannen. Zwei Völker raufen um ihre Identität und den Boden. Hat es Platz für zwei? Von einer Zwei-Staaten-Lösung wollten weder die Extremisten in Gaza noch die Orthodoxen in Israel etwas wissen. Alle Friedensbemühungen scheiterten an diesen Extremen, die kein Jota ihrer Position aufgeben wollten. Wie lange noch? Und wie lange will man im Westen und den USA die palästinensische Frage ignorieren? Tom Segev, ein israelischer Schriftsteller, im November in der Schweiz zu Gast, sagte in einem Radiointerview mit SRF1, er sei pessimistisch für die Zukunft. Netanyahu bombardiert Gaza und 240 Geiseln sind noch nicht befreit. Ohne Eingeständnis, dass die Palästinenser vertrieben wurden und Israel Zugeständnisse machen werden müsse, würde es keine Zukunft geben. Er stelle sich vor, dass Jordanien ein Stück Land abgeben könne für einen palästinensischen Staat und die israelischen Siedler im Westjordanland ihre Häuser räumen würden für die Flüchtlinge. Israel würde kleiner werden, aber dafür sicherer und müsste auf die Nachbarn zugehen, um in Sicherheit leben zu können. All das wird erst nach dem Krieg entschieden werden, wenn die Hamas in Gaza entmachtet und eine neue Regierung etabliert werden könnte. Solange blüht der Antisemitismus und Israels Dilemma. Der Nahostkonflikt betrifft uns alle und unser Verhältnis zu Juden und Arabern. In die Ferien gehen wir gerne zu ihnen, und sonst, who cares?  17. November 2023 Ingrid Isermann

PS. Seit der viertägigen vereinbarten Feuerpause in Gaza auf Druck der USA und des Westens sind seit Freitag, 24. November 2023 über 50 Geiseln aus der Gefangenschaft der Hamas nach Israel gebracht worden. Die Feuerpause soll verlängert werden, wenn weitere Geiseln entlassen werden. Danach würde der Krieg gegen die Hamas weitergehen, bekräftigte Netanjahu. 27. November 2023

 
Neue Ausstellung der Sammlung Emil Bührle im Kunsthaus Zürich: «Eine Zukunft für die Vergangenheit. Sammlung Bührle: Kunst, Kontext, Krieg und Konflikt».

 
Ab 3. November 2023 zeigt das Kunsthaus Zürich die Sammlung Bührle  unter verschiedenen Perspektiven, die vertieft den historischen Kontext beleuchten, in dem der Mäzen und Waffenfabrikant Bührle die Kunstwerke erwarb. Ausführliche Biografien der früheren Eigentümer und Kunstsammler sind in der neu gestalteten Ausstellung der hochkarätigen Kunstsammlung zu sehen. Der Beirat war kurzfristig zurückgetreten. An der heutigen Presseorientierung erklärte Stefanie Mahrer aus dem Beirat, zu stark stehe die Person Emil Bührle immer noch im Vordergrund und zu wenig Gehör erhielten die Geschichten der jüdischen Eigentümer, die ihre Werke veräussern mussten. Das Kunsthaus sei zu wenig weit gegangen. Ann Demeester, die Direktorin des Kunsthauses betonte, dass die Ausstellung erst den Beginn einer weiterführenden Auseinandersetzung darstelle. Im Sommer 2024 werde der Bericht des Historikers Raphael Gross zur Provenienz vorliegen. Das Museum sucht ebenfalls explizit den Dialog mit dem Publikum, auch ein Novum für das Kunsthaus Zürich.
2. November 2023 Ingrid Isermann

 

Zwei empfehlenswerte Essays über Kunst und Politik: George Orwell und Ian McEwan «Der Bauch des Wals».
 
1940, der Zweite Weltkrieg wütete in Europa, schrieb George Orwell den Essay Im Innern des Wals, in dem er die Freiheit des Künstlers, sich von den Problemen der Welt abzuwenden, verteidigte – obwohl er selbst ein eminent politischer Autor war.
Auf diesen berühmten Essay antwortet Ian McEwan in seiner <Orwell Memorial Lecture>, die erstmals in Buchform erscheint, und bezieht Orwells Überlegungen auf unsere Gegenwart.
Muss Kunst politisch sein? Kann politische Kunst gelingen? Zwei Essays über Literatur und politisches Engagement – zwei grosse britische Schriftsteller und Denker im Zwiegespräch.
«Gute Romane werden von Leuten geschrieben, die keine Angst haben». George Orwell.

Diogenes 2023, ISBN 978-3-257-07263-1.
 
George Orwell (1903-1950) ist der Autor der weltberühmten Romane Farm der Tiere und 1984. Ian Mc Ewan (*1948) in Hampshire, lebt in London; 1998 erhielt er den Booker-Preis und 1999 den Shakespeare-Preis der Alfred Toepfer-Stiftung. Seit seinem Welterfolg Abbitte ist jeder seiner Romane ein Bestseller, viele wurden verfilmt.

 
BLICKFANG Design Days: Kongresshaus Zürich vom 17.-19. November 2023.
Er ist wieder da, der BLICKFANG mit glitzernden und überraschenden Neuheiten in Sachen Design, seien es Schmuck, Mode oder Möbel… fündig wird man hier allemal. 180 Design Labels aus der Schweiz und ganz Europa stellen sich mit ihren neuesten Produkten vor. Spannend sind auch die Abschlussarbeiten des Studiengangs Objektdesign am Stand der Hochschule Luzern (Stand 124 im 1. OG). Design aus Kopenhagen, elegante Keramik aus der Schweiz, Leuchten und Wohnaccessoires, bequeme Mode, laden zum Schnuppern ein! Qualität vor Quantität! Und einen Designpreis gibt’s auch. Alle Infos unter www.blickfang.ch

 
Premiere im Schauspielhaus Pfauen: Rhapsody in Orange, breite Schulterpolster und Cancel Culture.
 
Das ganze Bühnendekor samt Personal ist in Orange getaucht, der Farbe gegen Gewalt an Frauen. In Virginie Despentes Briefroman «Liebes Arschloch» treffen drei
Protagonisten aufeinander, die mit Feminismus, Sucht und Entzug, MeToo und Cancel Culture zu tun haben, in Szene gesetzt von der politischen Regisseurin Yana Ross als Uraufführung auf der Pfauenbühne. Ein Solo für die brillante Schauspielerin Karin Pfammatter als alternde und drogensüchtige Diva Rebecca und Matthias Neukirch als hadernder Oscar und der im Hintergrund agierenden Zoé, ehemaliger Pressereferentin in Oscars Verlag und feministischer Sociel-Media-Aktivistin, die zehn Jahre nach Oscars sexuellen Übergriffen und ihrer Entlassung den MeToo-Skandal lostrat, sowie der Musikerin Magda Drozd, die für musikalische Highlights sorgt. Kathy Perrys Girlkiss schwebt durch den Raum und Billie Elish’ brüchige intime Stimme untermalen die widersprüchlichen Emotionen, Distanzen und Annäherungen. Ein optisch visueller Hingucker mit tiefgründigen Animationen und nachdenklichen Anregungen. Premiere 25. November 2023.
Ingrid Isermann 26. November 2023

 

Was können Sie im September/Oktober 2023 auf Literatur & Kunst entdecken?
 

Literatur: C.F. Ramuz: «Sturz in die Sonne» ist ein atemberaubendes visionäres Klimawandel-Epos, eine Wiederentdeckung, 1922 in einer cineastischen Sprache verfasst, die unbedingt zur Lektüre einlädt. Limmatverlag, 2023.
 
Eine Biographie über eine bekannt-unbekannte DDR-Schriftstellerin: «Brigitte Reimann: Ich bin so gierig nach Leben» von Carsten Gansel, Professor für Neuere Deutsche Literatur. Die Texte der mit nur knapp 40 Jahren verstorbenen Autorin, einer Weggefährtin von Christa Wolf, die sich mit der Stasi anlegte, haben sich ihre frauenspezifische Aktualität bewahrt. Aufbau-Verlag Berlin, 2023.
 
Joy Williams ist geschätzt und gefürchtet ihrer kompromisslosen Stories wegen, die allemal unter die Haut gehen: «Stories», dtv 2023.
 
«Käthe Kollwitz: Stellung beziehen» heisst sowohl eine ausgezeichnete Publikation mit Gastbeiträgen als auch die Ausstellung im Kunsthaus Zürich mit Interventionen von Mona Hatoum. Nie wieder Krieg! war eine der Diktionen der begnadeten Künstlerin Kollwitz, deren Werke sich tief ins kulturelle Gedächtnis eingeschrieben haben.
 
Lyrik: In eigener Sache – das «Logbuch Chaos&Kosmos» beinhaltet Gedichte, Visuelle Poesie und den Prosatext «Weltenflimmern», Fragmente, Episoden und Reminiszenzen. Wolfsberg Verlag, 2023. Vorzugsausgabe mit Original-Lithographien VISUELLE POESIE Steindruckerei Thomi Wolfensberger, Eglistrasse 8, 8004 Zürich.
 

Arne Rautenberg: «sekundenfrühling». Neue Gedichte von Arne Rautenberg, der sich auch der Visuellen Poesie annimmt. Mit einem Vorwort von Durs Grünbaum. Wunderhorn-Verlag, 2023
 
«O Stern und Blume, Geist und Kleid»: Blumenbilder und Blumengedichte von Leonardo da Vinci bis Ernst Jandl, Schirmer/Moser-Verlag, 2023
 

Kunst: Die Weltausstellung von 1873 als Wirtschaftsmotor katapultierte Wien in eine moderne Metropole. Ingrid Schindler berichtet vor Ort von der Ur-EXPO, was davon noch übrig blieb. 
 
Photo/Film: Das Zurich Film Festival (ZFF) ist jedes Jahr ein grosses Ereignis für Zürich! Vom 28. Septmber bis 8. Oktober 2023 stehen die neuesten Filme auf dem Programm und das Goldene Auge wird an die deutsche Schauspielerin Diane Kruger am 2. Oktober verliehen. Marion Löhndorf über Robert De Niro zum 80. Geburtstag. Aktuelle Filmtipps.
 
Architekturtipps: OMA’s Kunsthal, Rotterdam ist ein fulminanter Museumsbau von Rem Kohlhaas; Israelischer Pavillon an der 18. Architekturbiennale Venedig; Advancend School of Collective Feeling,
Park Books, 2023.
 
Widescreen: Museum Rietberg, Zürich   
«Look Closer. Kunst Afrikas im Archiv Himmelheber. 17.03.2023-17.09.2023
links: Künstler im Dan-Stil, Maske, Deangle, Liberia, vor 1965, Holz, 2015.243, 1965 erworben von Hans Himmelheber, Geschenk Eberhard und Barbara Fischer, Museum Rietberg; rechts: Jean Don Gba, Porträtmaske von Hans Himmelheber, Côte dʼIvoire, Dan-Region, Petit Baple, 13., 15., 17. Februar 1971, Holz, 2017.36, 1971 erworben von Hans Himmelheber, Geschenk Eberhard und Barbara Fischer, Museum Rietberg

 

Buchtipps: Teresa Präauer «Kochen im falschen Jahrhundert», eine vergnügliche Kochshow, Wallstein Verlag, 2023.
Isolde Schaad «Das Schweigen der Agenda», Geschichten vom Gendern und gehörig-ungehörigen Geheimnissen, Limmatverlag, 2023.
Christina Hug «Unser Haus», ein authentischer Roman über die Hausbesetzerszene um die Jahrtausendwende, Zytglogge Verlag, 2023.
 
Buchtipps/Ausstellung: Rachel Lumsden «Ritt auf der Wildsau», Notizen über die Kunstszene und den Weg als Künstlerin. Scheidegger & Spiess; Ausstellung im Kunstmuseum Thurgau, Kartause Ittingen.
Mara Meier «Im Sommer sind die Schatten blau» über die Künstlerin Amanda Tröndle-Engel, Zytglogge-Verlag, 2023. Spannende Rezensionen von Ingrid Schindler.
 
Last but not least: Die Journalistin und Fotografin Julieta Schildknecht im Gespräch über das Logbuch Chaos&Kosmos.

 

 

Wir wünschen Ihnen einen farbigen Herbst und viele schöne, anregende Momente mit Literatur & Kunst!

 

Herzlich
Ihre Ingrid Isermann, Herausgeberin

Editorial