FRONTPAGE

«Mary Oliver: Vademecum der Lyrik»

Von Ingrid Isermann

Die Gedichte der amerikanischen Lyrikerin Mary Oliver sind lebensnah und suchen den Dialog auf einnehmende Weise wie ein Gespräch, das neue Perspektiven eröffnet. Mit einem Vorwort von Doris Dörrie.

Wie Mary Oliver Schönheit, Poesie und vor allem das Gehen das Leben gerettet haben, «das einfache Gehen durch die Natur, wie sie die Landschaft mit Heft und Stift in der Hand durchstreift, schaut, horcht und sich Notizen macht», zitiert Doris Dörrie die Dichterin in ihrem Vorwort.

 

Schon als Kind flüchtete Oliver vor Gewalt und Streit in den Wald, wo sie beobachtete und lauschte und etwas begriff, was sie später in dem Gedicht «De rerum natura» des Dichters und Philosophen Lukrez wiederfand: «Es gibt nicht das Nichts. Woraus wir bestehen, wird etwas Anderes werden».
 
Der Natur Aufmerksamkeit zu schenken, Empathie und Mitgefühl zu zeigen mit der Kreatur, aber auch mit sich selbst, scheint als Credo in den Gedichten Mary Olivers auf.

 

Der Sommertag
 

Ich weiss nicht genau, wie ein Gebet aussieht.
Ich weiss, wie man Aufmerksamkeit schenkt, wie man
ins Gras fällt, wie man sich ins Gras kniet,
wie man müssig und gesegnet ist, wie man durch die Felder
streunt,
denn das ist es, was ich den ganzen Tag machte.
Sag, was hätte ich sonst machen sollen?
Stirbt nicht alles am Ende und viel zu schnell?
Sag mir, was hast du vor
mit deinem wilden, kostbaren Leben?

(Auszug)

 

Mary Oliver fragt lakonisch, ob dieser Tag heute wirklich ein produktiver Tag war, wenn wir keinen Grashüpfer oder einen Sonnenuntergang wahrgenommen haben, sondern nur auf unsere multiplen Smartphones gestarrt und uns in Social Media-Diskussionen verloren und abgearbeitet haben. Um was geht es im Leben? Was erregt unsere Aufmerksamkeit?

 

 

Die Welt, in der ich lebe

 

Ich habe mich geweigert,
eingeschlossen im aufgeräumten Haus von
Gründen und Beweisen zu leben.
Die Welt, in der ich lebe und an die ich glaube,
ist viel grösser als dies. Und überhaupt,
was ist falsch am Vielleicht?

 

Ihr würdet nicht glauben, was ich ein-oder
zweimal gesehen habe. Ich sage
euch bloss so viel:
Nur wenn Engel in eurem Kopf sind, dann
seht ihr, vielleicht, einen einzigen.

 

 

Selbstportrait

 

Ich wünschte, ich wäre zwanzig und ins Leben verliebt
und noch immer putzmunter.

 

Vorwärts, ihr alten Beine!
Dort sind die langen, fahlen Dünen; auf der anderen Seite
blühen die Rosen und empfinden ihre Mühe
nicht als Missgeschick für den Geist.

 

Hinauf, ihr alten Beine! Dort sind die Rosen, dort ist das Meer,
das wie ein Lied leuchtet, wie ein Körper,
den ich berühren möchte,

obwohl ich nicht zwanzig bin
und nicht wieder werde. Ah, siebzig! Doch noch immer
verliebt ins Leben. Und noch immer putzmunter.

 

 

Franz Marcs blaue Pferde

 

Ich betrete das Gemälde mit den vier blauen Pferden.
Ich bin nicht mal überrascht, dass ich das kann.

 

Eines der Pferde kommt auf mich zu.
Die blaue Nase beschnuppert mich leicht. Ich lege meinen Arm
über seine blaue Mähne, halte nicht fest, verbinde mich nur.
Es gestattet mir mein Vergnügen.
Franz Marc starb als junger Mann, ein Schrapnell im Kopf.
Ich würde eher sterben, als den blauen Pferden zu erklären
   versuchen, was Krieg bedeutet.
Sie würden vor Schreck ohnmächtig werden, oder es wäre
   ihnen einfach nicht möglich, es zu glauben.
Franz Marc, ich weiss nicht, wie ich dir danken soll.
Vielleicht wird unsere Welt irgendwann humaner werden.
Vielleicht ist das Verlangen, etwas Schönes zu erschaffen,
   ein Teil Gottes, das in jedem von uns steckt.
Nun sind alle vier Pferde nähergekommen,
   sie beugen ihre Gesichter herunter,
        als hätten sie mir Geheimnisse zu erzählen.
Ich erwarte nicht, dass sie sprechen, und sie tun es nicht.
Wenn es nicht ausreicht, so schön zu sein, was
      könnten sie dann wohl sagen?

 

 

 

Mary Oliver
Sag mir,was hast du vor mit deinem

wilden, kostbaren Leben.
Gesammelte Gedichte.
Aus dem amerkianischen Englisch
und mit einem Nachwort von
Jürgen Brôcan.

Mit einem Vorwort von Doris Dörrie.
Diogenes Verlag, Zürich, 2023
Geb., 447 S., CHF 39.90
ISBN 978-3-257-07262-4

 

 

Mary Oliver, 1935 in Ohio geboren, gehört zu den meistgelesenen zeitgenössischen US-amerikanischen Dichterinnen. Zu Lebzeiten veröffentlichte sie mehr als 20 Gedichtbände, mit denen sie auf der New York Times-Bestsellerliste stand und zahlreiche Preise gewann, u.a. den Pulitzer-Preis für American Primitive und einen National Book Award für New and Selected Poems. Sie besuchte die Ohio State University in Columbus, danach das Vassar College in Pughkeepsie und übernahm Lehraufträge an verschiedenen amerikanischen Universitäten. In den späten Fünzigerjahren lernte sie ihre langjährige Lebenspartnerin Molly Malone Cook kennen und zog nach Provincetown, Massachusetts, wo die Dichterin über fünfzig Jahre lebte. Nach dem Tod von Cook verlegte Oliver ihren Wohnort nach Florida, wo sie 2019 starb.

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