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«Thomas Koerfer, Filmemacher: Ein Leben für Film und Fotografie»

Von Julieta Schildknecht

Der bekannte Schweizer Filmemacher und Produzent Thomas Koerfer im Gespräch mit Julieta Schildknecht über seine Filme und seine Sammlung als international renommierter Fotosammler.

Julieta Schildknecht: Thomas Koerfer, du stellst eine Schlüsselfigur in der Geschichte der Fotografie in der Schweiz sowie im Filmbereich dar, nicht nur als Filmemacher, aber auch als Produzent mit Frenetic Films und der Quinnie-Kette in Bern. Du hast dich immer für verschiedene Fotografen engagiert, nicht nur als Präsident des Stiftungsrates des Fotomuseums Winterthur, sondern auch als feinfühliger international renommierter Fotosammler. Sind deine ersten Filmeinflüsse durch deine Familie entstanden? Dein Grossvater baute bereits ein Kino in den 20er Jahren im Hansahaus, in der Zeit von Eisenstein, Disney, Charlie Chaplin, Paramount Pictures.

 

Thomas Koerfer: Ja, mein Grossvater Jacob Koerfer baute Filmpaläste bis zu dreitausend Zuschauern und das hat mich schon als kleiner Junge stark beeindruckt, dass ein solch wunderbares Gebäude von einem Mitglied der Familie gebaut worden ist. Mein Grossvater starb sehr früh 1930 und das Kino war zerstört, aber zuhause hatten wir Fotos von den Kinosälen. Das zweite, was mich sozusagen auf den Weg des Films gebracht hat, war das Fotografieren. Ich habe früh als Bub eine kleine viereckige Kamera gehabt und sehr viel fotografiert. Da hatte ich auch einen kleinen Laterna Magica-Projektor mit einer kleinen Petrollampe, wo ich Zeichentrickfilme projektieren konnte. Das war der Wechsel von stehendem Bild zu bewegendem Bild.

 

JS: Was hast du projektiert mit deiner Laterna Magica?

TK: Ich habe im grossen Garten des Hauses, wo ich aufgewachsen bin, still life produziert. Es hat sich nicht an den Surrealisten orientiert, weil ich die Surrealisten nicht kannte, aber ich habe mit Schnecken und Mäuschen angefangen, ein bisschen die Realität einzufangen und ein bisschen zu überholen.

 

JS:  … und das war in diesem wunderbaren Haus im Tessin?

TK: Nein, das war in Bern. Das Rothaus war das Haus meiner Mutter, es war ein Haus, das sozusagen die Seele meiner Mutter in sich trug. Meine Mutter starb im Jahr, wo ich geboren bin, also habe ich im Estrich im Haus und im Garten die Mutter gesucht.

 

JS: Das Haus gehörte am Schluss dem Auktionär Eberhard Kornfeld…

TK: Genau, es gehörte ihm und eine meiner Schwestern, die mit ihm verheiratet war. Dadurch ist das Haus zu ihm gekommen.

 

JS: Deine Filme sind durch grosse Narrative geprägt. Wann bist du Filmemacher geworden und warum, anstatt Journalist oder Schriftsteller?

TK: Filmemacher bin ich eigentlich zuerst geworden, indem ich sehr viele Filme angeschaut habe. Ich studierte in Berlin und München Ökonomie und Soziologie, habe aber nur die soziologischen Vorlesungen besucht; ein Hauptteil meiner Studienzeit war nachmittags ab 14:00 Uhr, so konnte ich die verschiedenen Programmkinos aufsuchen und mir die Filmgeschichte und Gegenwart des Studiofilms einverleiben. Ich hatte das Gefühl, ich könne mich im fiktionalen Bereich besser ausdrücken als dokumentarisch. Ich finde auch die Schweiz hatte als eigene Kultur einen beschränkten Zugang zu Fantasie. Es schien mir auch wichtig, innerhalb der Fantasie mit dem Film zu arbeiten.

 

JS: Warum ist es die Auseinandersetzung zwischen Anima und Tier so wichtig, wenn du deine Filme machst und siehst du da eine Parallele zur Soziologie?

TK: Du meinst Anima, die Seele?

 

JS: Ja!

TK: Der Film ist etwas, das im Kopf entsteht und zuerst etwas ganz Technisches, das dann beseelt werden muss. Dadurch entsteht das Geheimnis des Filmbildes. Das Tierische wäre wahrscheinlich anarchischer, es ist nicht so mein Filmstil gewesen. Ich habe gerne genau überlegt gearbeitet.

 

JS: …aber du hast mit Tieren die ersten Filme gemacht…

TK: Ja, mit kleinen Flöhen…

 

JS: Genau, und dann hast du den Zugang zur Natur und den Pferden gefunden… Du erzählst, dass du deine Mutter im Garten und im Estrich suchtest. Siehst du da eine Parallele zu Anima oder ist es eine Art von Studie zur Gesellschaft?

TK: Es ist eine Mischung. Ich glaube, in der Entwicklung eines Filmes ist es gut, zuerst einmal die eigenen Schleusen der Fantasie des eigenes Lebens zu öffnen. Die gesellschaftliche Überlegung kommt später dazu und ist eine Art der Überprüfung von dem, was man von sich aus entwickelt hat. Wenn du mich nach den Tieren fragst, dann gibt es noch den Adler im Film «Glut», der ein Repräsentant der griechischen Sage ist, dass nämlich der Adler dem Prometheus die Leber ausgehackt hat, weil er das Feuer gestohlen hat.

 

JS: Man nimmt das Leben weg im Austausch von Intelligenz…

TK: Ja…

 

JS: Das Aussergewöhnliche bei der Bildsprache ist für dich wie eine visuelle Ordnung und wie weit ist es geprägt vom Flair deiner Familie zu der Ästhetik der Neuen Welt?

TK: Ich bin aufgewachsen innerhalb einer Sammlung von Bildern von meinem Vater. Ich bin früh als kleiner Junge schon an den Impressionisten, Kubisten und Konstruktivisten vorbeigelaufen.

 

JS: … aber auch von viel Architektur und industriellem Umfeld von Innovationen der 40er und 50er Jahre …

TK: Es gab sicher die Orientierung auf die Architektur hin, auch geprägt von meinem Grossvater, der selbständig als Unternehmer und Architekt gebaut hat. Etwas das ich auch später machte, als ich selber die Filme produzierte und in Vertrieb brachte, in der Überlegung, dass man es stärker prägen kann, wenn man die Filme selber auch produziert. Das Haus im Tessin, das Breuer-Haus, war ganz eigenwillig aus Naturstein, Beton und Mahagoniholz gebaut. Das erinnerte mich an die grossen amerikanischen Villen, die so auch in den Filmen vorgekommen sind.

 

JS: Dein Augenmerk darauf wurde schon von Anfang an trainiert, oder?

TK: Ja, gut geschult und es war der einzige Bereich, wo mein Vater kommunikativ zu den Kindern war, wenn es um Bilder ging. Sonst war er nicht sehr fähig, Emotionen zu zeigen. Es war die Zeit mit dem Zusammenleben mit der Familie, und es gab die Zeit der Ablehnung der Familie, mit dem Mai 1968 und dem Öffnen der Fantasie auf die Kunstwerke hin. Es war irgendwie wichtig für mich, eine eigene Bildsprache zu finden. Am Anfang waren die Filme vielleicht auch ein Absetzen vom Traditionellen, Herkömmlichen und dem Aufbruch zu neuen Formen.

 

JS: Es war eine Zeit, vieles in Frage zu stellen und du warst an der Universität, wo eine neue Welt sich zeigte…

TK: Ja, die Uni in Berlin war im Aufbruch, es gab den SDS – den Sozialistischen Deutschen Studienbund, die musste man kontrollieren, man spürte schon, was sich alles in Bewegung setzte.

 

JS: Du wirst jetzt 80 Jahre und schreibst gegenwärtig an deiner Biografie. Wie wirst du es schreiben, so wie Bob Dylan, Nick Cave oder wie Dürrenmatt schrieb?

TK: Am liebsten würde ich wie Bob Dylan schreiben, aber ich glaube, da fehlen mir die schriftstellerischen Fähigkeiten. Ich schreibe es, indem ich in die Erinnerung eintauche und beschreibe die frühe Kindheit und nachher den Aufbruch des erwachsenen Lebens.

 

JS: Wenn du einen Film neu schreibst und produzierst, wen möchtest du als Regisseur dafür anfragen?

TK: Ich würde versuchen, David Lynch nochmals zu überzeugen, einen Film zu drehen, weil er ein radikaler Erzähler ist und Bildwelten entwirft, die umwerfend sind.

 

JS: Mit welchen Regisseuren konntest du dich am meisten identifizieren und warum sind viele Passagen in deinen eigenen Filmen fast so unheimlich wie bei Buñuel?

TK: Ich glaube, ganz wichtig war Pasolini, als ich meine Filme machte. Er hat auch eine Art mystischen Kommunismus entworfen als Gedankengebäude. Filme wie «Mamma Roma» oder «Teorema», haben mich ganz stark geprägt. Pasolini war ein wunderbarer Filmbeschreiber, er hat die Streitschriften in Freibeuterschriften verfasst. Es entsteht bei ihm eine ganz tolle Ergänzung zwischen dem Geschriebenen und seiner Filmdarstellung.

 

JS: Schön, er war ein Intellektueller und Theoretiker, der viel in Frage stellte hinsichtlich Politik und seiner Genderpositionierung. Er kommunizierte durch Metaphern und Symbole. Seine Filme sind Kunstwerke, die man mehrmals anschauen soll, um sie zu verstehen.

TK: Buñuel habe ich gemocht, aber mir nie zugetraut, diese Art der Geschichtenerzählung zu beherrschen, wie er es machte.

 

JS: Du meinst seinen konstruktiv-destruktiven Modus?

TK: Ja… Ich war noch beeinflusst von Alexander Kluge, von seinem Film «Die Artisten in der Zirkuskuppel» und hatte das Gefühl, dass mein Film «Der Tod des Flohzirkusdirektors» sehr entfernt eine Verwandtschaft hatte mit Kluges Art, Filme zu erzählen.

 

JS: Bei diesem Film muss man nicht unbedingt eine Stimme hören. Als ich es das erste Mal anschaute, stellte ich den Sound auf null. Ich sehe es fast als Stummfilm mit grossem visuellen Narrativ. Die Bilder entfalten sich und werden zu visuellen Erfindungen wie eine kleine Pandora Box.

TK: Ja, bei Flohzirkus, von dem Gesichtsausgehen von François Simon, ist es eine Art Pandora Box. Er, der Ottocaro bekanntmacht, Stücke von Ottocaro auf der Bühne dargestellt hat, er hat eine Gesichtslandschaft, wo der Dialog zurücktritt, wo ein ganzer toller Ausdruck in seinem Gesicht ist.

 

JS: Um fast ein Plagiat von einem Gespräch zwischen Sam Shepard und Bob Dylan zu machen, möchte ich dich fragen: Erinnerst du dich an den ersten Film, den du gesehen hast? Wie war es?

TK: Der erste Film, an den ich mich erinnere, ist «La Grande Illusion» von Jean Renoir. Da wurde ich von meinen Eltern in einer Windjacke versteckt, sodass man nur ein klein wenig das Gesicht sah, weil man erst als 16-jähriger ins Kino gehen durfte. Das war meine erste Kinofilm-Erfahrung und hat mich stark beeindruckt. Es war ein SxW-Film. Ich fühlte mich fast überwältigt, weil ich nie vorher eine grosse Leinwand sah und versuchte, mir die Geschichte zusammenzureimen. Ab dann wollte ich sicher Filmemacher werden. In den späteren Filmen entdeckte ich eine Sprache, die über die Malerei und Fotografie hinausgeht. Lange Zeit war ich noch beeindruckt von den Filmen, das heisst, es beschäftigte mich noch tagelang, nachdem ich den Film gesehen hatte. Bei «Mamma Roma» erinnere ich mich, dass ich weinte, als der kleiner Junge im Gefängnis stirbt. Ich habe mich den Emotionen geöffnet.

 

JS: Gab es auch Frauenfiguren? Weil starke Frauen immer eine wichtige Rolle in deinem Leben spielten, würdest du mit Simone de Beauvoir einverstanden sein, wenn sie in «Das andere Geschlecht» schreibt: «…die Perspektive, die wir (Frauen) eingenommen haben, ist die einer existenzialistischen Moral”»? Deine Grossmutter musste eine sehr starke Frau sein, nachdem dein Grossvater so jung starb. Deine Grosstante, deine Mutter sowie deine Frau waren auch sehr stark. Deine Fotosammlung ist geprägt von Frauen. Es gibt eine grosse Gender-Auseinandersetzung in deinen Werken sowie in deiner Sammlung. Du stellst Fragen, wie bei Pasolini von Tabus und existentiellen Positionen…

TK: Existentiell in meinem Universum war zuerst ein Bild meiner Mutter, das Foto stand auf einem Nachttisch und weil sie im ersten Jahr meines Leben gestorben ist, war das sozusagen der Beweis, dass ich eine Mutter gehabt habe. Das hat mich geprägt für die Auseinandersetzung mit der Fotografie und stark auf das Sammeln der Fotografie. Es war wie das Zurückgehen auf dieses eine Bild, dass eine Wahrheit festgehalten hat. Bei Pasolini gibt es auch die Anna Magnani, die so eine starke Schaupielerin ist und wo dieser Focus auf Liebe und Hass zwischen beiden Geschlechtern entsteht.

 

Bei «Der Gehülfe» wird die Frau langsam stärker als ihr Mann. In «Glut» ist es auch die Ehefrau, die stärker im Haus präsent zu sein scheint.

 

JS: In «Glut» wird die Frau zum Adler.

TK: Ganz früh war ich fasziniert von einer Frau, die roboterartig war, nämlich Brigitte Helm in «Metropolis» von Fritz Lang. Vieles in dieser Fillmgeschichte dreht sich um sie. Lustigerweise habe ich sie später im Tessin kennengelernt und sie lief immer noch ein bisschen expressionistisch durch die Gegend.

 

JS: Wie präsentierst du die Frauen, als Role Models, als Körper ohne Geist, bekommen sie eine Stärke?

TK: Wie gesagt, sie bekommen eine Stärke. In «Der Gehülfe» gibt es die Fotografin, gespielt von Hannelore Hoger. Sie ist im Film eine Fotografin und Sozialistin. Da gibt es keine Entwicklung, sondern sie ist aus ihrer Arbeit heraus stark geworden, damit sie die anderen kommentieren kann.

 

JS: Im Januar 2007, bei der Eröffnung der Ausstellung «Stripped Bare», an der C/O Berlin sagte Urs Stahel am Ende seiner Rede: “Vergessen wir zum Schluss nicht, dass Fotografien, die den entblössten sexualisierten Körper zeigen, ihn repräsentieren, selbst auch sexualisierende Objekte sind — und das irritiert heute noch fast jede Gesellschaft. Vielleicht auch uns hier, wenn wir anschliessend super cool an diesen Bildern vorbeischreiten und jede gedankliche und körperliche Erregung verbergen, nicht zulassen wollen”. Du hast eine der weltweit wichtigsten Sammlungen von erotischen Fotografien. Was wolltest du machen mit soviel Aufregung in öffentlichen Räumen? Was passiert nach so viel Engagement, um Menschen über solche Themen aufzuklären? Wird deine Sammlung wirklich überallhin zerstreut oder wird es Teil eines Museums?

TK: Es ist natürlich toll, Fotografien mit dieser Aufregung um sich herum zu haben. Das ist das Privileg des Privatsammlers, das man zu jeder Tag- oder Nachtzeit die Bilder betrachten kann und sie wieder erneut auf einen wirken können. Ich habe zweimal grosse Ausstellungen gemacht: eine Ausstellung im C/O Berlin 2007 und eine andere im Kunsthaus Zürich 2017. Es war mir wichtig, die eigene Sammlung nach aussen tragen zu können. Ich stelle mir vor, dass die Sammlung aufgelöst wird, die Kinder werden einen Teil übernehmen. Einige Bilder werden an andere Orte hinkommen und doch weiter wirken. Ich glaube nicht so sehr an Privatmuseen, wo die gleiche Ausstellung über Jahre besteht. Ich finde schön, dass ich mit diesen Bildern leben konnte, aber dass sie auch wieder zu anderen gehen.

 

JS: Wo bleibt der Hintergrund von allen diesen Geschichten von so vielen provozierenden Fotos? Wie hast du dich damit gefühlt?

TK: Ich habe mir immer gesagt, ich möchte nur Fotografien sammeln, nicht die mich schockieren, aber die mich selbst auch bis zu einem gewissen Grad provozieren. Dadurch war ich sicher, dass ein Zwiegespräch zwischen der Fotografie und den Bildern entstehen kann.

 

JS: Was bedeutet Schönheit für dich?

TK: Schönheit bedeutet Anmut, Schönheit bedeutet, dass, wenn es ein Mensch ist, eher durch Ausstrahlung innerhalb einer Gruppe hervorsticht, und Schönheit bedeutet auch die Entwicklung des Filmes und der Fotografie um die Darstellung des entblössten Körpers. Ich glaube, da können sich Fotografie und Film die Hand reichen: dort beeinflusst die Fotografie den Film und der Film wiederum die Fotografie.

 

JS: Wäre es auch die unheimliche dreidimensionale Schönheit deiner Sammlung? Weil viele Bilder ein Gegenteil von dem sind, was von Medien geprägt ist oder man als Schönheit in unserer Gesellschaft versteht. Du hast sogar bei anderen Interviews John Baldessaris Schönheitskonzept erwähnt.

TK: Ich glaube schon, dass bei der Fotografie die Zwiesprache zwischen Fotograf und dem fotografierten Objekt oder Subjekt, dass dies zuerst ein ganz enger privater Raum ist. Dass dann das Bild, wenn es unter die Leute kommt, diese existentielle Moral bricht. Im Film ist es das gleiche. Es gibt in dem Jean-Luc Godard-Film die Geschichte der Nana S., die Geschichte einer Prostituierten, die eigentlich in ganzen Film ihre Würde behält. In Erinnerung bleibt einfach ihr würdevoller Körper und ihr Gesichtsausdruck.

 

JS: In solchen Fällen in deiner Sammlung, wenn wir über die existentialistische Moral nachdenken, sind die meisten Frauen nackt. Du erwähnst David Lynch. In «Blue Velvet» mit Isabella Rossellini, den er über eine Frau macht, die Stärke von Dorothy Vallens wird zu einem Torso reduziert. Die Prägung von Stärke in deinen Filmen, wenn Frauen stärker als Männer werden, nimmst du ihre Würde weg? Sind es wie die entfremdeten Körper ohne Kleider, damit du sie besser verstehen kannst oder geht es um die Suche nach deiner Mutter oder die Suche nach deiner Anima?

TK: Wahrscheinlich die Suche nach meiner Mutter ist es immer auch. Weil das so prägend in meinem Leben gewesen ist. Das Privileg, Frauenfiguren zu erfinden und sozusagen sie zu zeichnen, das ist das eine. Ich habe vielleicht eine traditionelle Sichtweise… Ich meine, dass im Leben die Frauen diejenigen sind, die emotional prägend sind. Wenn ich die Ehe meiner Freunde anschaue, habe ich das Gefühl, die Frauen sind diejenigen, die prägend für die Anima sind. Im «Gehülfe» beispielsweise nennt Frau Tobler den Gehülfen zum einen Minister des Inneren. Sie ist prägend für das innerliche und er kann der Dienende sein. Bei meiner Frau hatte ich auch das Gefühl, sie hat eine grössere Fähigkeit gehabt, die Emotionalität zu leben und zu formulieren. Wenn ich zurückblicke, stimmt es überein, zwischen Animus und Anima, die beiden gehören zusammen. Wenn ich wählen müsste, würde ich mich eher für die Anima entscheiden.

 

JS: Da sprichst du über deine Transformation, wenn du deinen 80. Geburtstag feierst oder wenn der Adler einen neuen Weg findet, oder?

TK: Ja (lächelt)…

 

JS: Dein Freund Felix Hoffmann, der künstlerische Leiter des Foto Arsenal Wien, sagte auf die Frage «Was ist ein gutes Foto?»:“Wahrscheinlich gibt es kein gutes Foto, sondern ein Foto muss angeschaut werden, es muss zirkulieren. Oft sind Fotos, die ikonisch werden, gar nicht zwingend gut, sondern sie sind einfach in den Medien oder durch Handhabung so oft gezeigt worden, dass sie sich im kulturellen Gedächtnis oder in der kulturellen Praxis verankert haben.”  Wie definierst du ein gutes Foto?

TK: Ich hatte das Privileg, einen ganz frühen Abzug des «Noire et Blanche» von Man Ray zu besitzen. Es handelt sich um ein Bild von Kiki de Montparnasse, die den Kopf auf die Platte gelegt, mit der linken Hand eine afrikanische Maske hält. Man weiss nicht, ob die Maske lebendiger ist als das maskenartige Gesicht von Kiki. Das Bild wurde viel gezeigt oder abgebildet seit es 1. Mai 1926 in der «Vogue», Paris das erste Mal publiziert wurde. Seine surreale Kraft hält und wurde nicht abgenutzt durch die vielen Reproduktionen. Mit diesem Bild zu leben, war immer wieder eine Herausforderung. Das Bild hat ein Geheimnis und ich glaube, das können Bilder für sich haben.

 

JS: Heutzutage werden wir überwältigt von Bildern. Die Narrative bekommen eine andere Art von Wichtigkeit. Schlechte Fotos werden stark verbreitet. Gibt es ein schlechtes Foto, das zu einem ikonischen Foto wurde und weit verbreitet ist? Das Foto von Cicciolina und Jeff Koons, das du besitzt, ist es nicht reines Marketing?

TK: Dort ist die Herstellung des Kunstwerkes als Marketing vom Künstler mit eingeschlossen. Koons hat den sexualisierten Ehestand als paradiesisches Marketing mit einbezogen, vom Kitsch und von der Ausstattung her, er hat den Skandal somit vorprogrammiert. Eigentlich, wenn er das zugrundegelegt hat, ist es eine Weiterführung der Ehepaarbilder so gut wie die Ehepaarbilder der niederländischen Malerei, übertragen in das Ende des 20. Jahrhunderts. Wenn schlechte Fotos ausgestellt sind, wenn der Raum für das Betrachten ein neutraler Raum sein kann, wird es immer möglich sein, ein gutes Foto von einem schlechten Foto zu erkennen. Es ist schade, dass die grossen Zeitungen die Fotografie nicht mehr nutzen. Früher waren Folgen von Geschichten wertvoll. In «Life Magazine» zum Beispiel, obwohl es eine Illustrierte war, kam die Fotografie stark zum Ausdruck. Das gibt es nicht mehr. Was es gibt, ist das Internet, wo alles durchgeschüttelt ist, ist es schwieriger, die prägenden Bilder zu erkennen.

 

JS: Zum Schluss, bitte ein paar kurze Statements über deine Erfahrungen für die jüngere Generation: Warum visuelle Kunst, Film und Fotografie:

TK: Ich finde es toll, dass Produktionsmittel zugänglicher geworden sind, dass mehr Spielfilme hergestellt werden können, aber billigere Produktionen sollten mit der genau gleichen Ernsthaftigkeit wie bei grossen Produktionen gedreht werden. Wenn man früher die Kamera von Punkt A zum Punkt B umbauen wollte, war es eine ganze Operation, es schufteten zwei Leute, um die Filmkamera an einen anderen Ort zu bewegen. Man musste genau überlegen, was ist der richtige Ort. Natürlich ist das heute entfallen.

 

Frenetic Films:
– es war ein erfolgreicher Ausflug, die Sichtweise zu ändern und nicht selber die Filme zu machen, sondern Filme zu suchen, um sie im Kino auszuwerten, möglichst innovative, prägende Filme in die Kinos zu bringen. Frenetic Films gibt es noch in einer kleineren Struktur, es ist etabliert und zu einer Garantie der Qualität geworden.

 

Quinnie Cinema Films:
– es waren acht Kinosäle, um zu schauen, wie man mit der Programmierung der Kinos auch wieder prägende Filme dem Publikum anbieten kann. Es war für mich ein kostspieliges Labor, aber es war mein Leben, die drei verschiedenen Filmsparten von Kino betrieben zu haben. Selber Filme machen, Film verleihen und sie dann auszuwerten, hat grosse Unabhängigkeit und Sicherheit ermöglicht. Ich durfte experimentieren.

 

Träume:
– ein entscheidender Traum war in Bezug zu Marlene Dumas’ «Blindfolded» Bild, das ich in Antwerpen bei Zeno X sah. Es zeigt einen Palästinenser, wahrscheinlich ein Kämpfer, nicht sicher, ob tot oder noch lebendig, er hat verdeckte Augen. Ich habe den Galeristen Frank Demaegd um einen Tag Zeit gebeten, um zu überlegen, und in der Nacht bin ich schreiend aufgewacht, wie wenn ein schwarzer Mann durch mein Zimmer gelaufen ist. Ich wusste, dass es mit dem Bild zusammenhängt. Am nächsten Tag kaufte ich mir das Bild. In «Glut» waren es Traumbilder, wo der Adler, der auf das Zimmer zufliegt, den Vater verletzt. In «Gehülfe» kommen auch Träume vor, eigentlich ist der ganze Film eine Traummaschine. Bei Jean Cocteau findet man zahlreiche Träume. Mich haben diese Brechungen manchmal interessiert, sie in die Filme hineinzunehmen. Ich habe einen Film über Bechter und Goethe in der Nähe von Kassel gemacht. Dort, beim Vorbeifahren, entdeckte ich einen  riesengrossen Salzberg, ungefähr 100 Meter hoch. Der Salzberg wurde gebraucht, um eine Traumsequenz zu filmen, wo Goethe im Schoss von Lotte von Stein liegt. Dann wird er ersetzt von Bechter. Ein Film, der aus einem Gedicht aus dem früheren Jahrhundert entsteht, aber einen grossen Sprung in die Zeit durch einen grossen Salzberg macht. Fast kindisch und chaotisch.

 

Was fehlt?:
– die Filme von 1998, als ich aufhörte, Spielfilme zu machen, als ich mehr Zeit dem Verleih und den Kinos widmete. Manchmal denke ich, es ist ein Irrturm gewesen und es wäre besser gewesen, weiter Filme zu machen. Vielleicht wird das Buch, dass ich schreibe, zu einem Drehbuch, aber Filmemachen ist Knochenarbeit. Ganze Nächte werden gebraucht fürs «Durchdrehen»…

What creates impact in my life and in my surroundings:
– Ich beobachte viel momentan und bin in einer neuen Phase meines Lebens. Ich lese viel. Im Moment beschäftigt mich stark die Aggression in der Welt, die Aggression im Gazastreifen, die Aggression im Ukrainekrieg. Das sind Themen von den Neuigkeiten, die auf mich zukommen über die Medien, ist es ein Versuch, irgendwie emotional diese Aggressionen erklären zu können, falls das überhaupt möglich ist, es nachzuvollziehen? Was mich prägt: Wie meine Enkel älter werden und wie sie auf die Welt kommen, wie sie noch stärker eigene Persönlichkeiten werden, viel früher und schneller im Vergleich zu anderen Generationen.

 

JS: Thomas Koerfer, vielen Dank für das ausführliche und aufschlussreiche Gespräch.

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