FRONTPAGE

«Am Schreibtisch grosser Dichter und Denkerinnen»

Von Severin Perrig

Eine Geschichte literarischer Arbeitsorte

 

Orte des Schreibens erzählen seit der Antike von Höhen und Tiefen: von göttlichen Eingebungen auf mythischen Bergen, von kratzenden Federn in klösterlicher Stille, von Luxus-Salons oder armseligen Dachkammern. Die Räume laden ein zur Phantasie, zur musealen Andacht oder zur neuen virtuellen Verwirrung im Computer-Zeitalter. Virginia Woolf wollte „a room for one’s own“, für Friederike Mayröcker ist Chaos ihre Ordnung, Truman Capote brauchte einfach nur ein Bett. Eine aufregende Entdeckungsreise durch die Schreibstätten berühmter SchriftstellerInnen.

 

Einleitung

 

 

Das ist doch ein gar wunderliches Pläsir: statt Tauben im Park, gehmer jetzt Lesungen vergiften im Literaturhaus! Entlocken dem dort gerade vorlesenden Schriftsteller ein maliziöses Lächeln, indem wir ihm die langersehnte Frage stellen: »Warum schreiben Sie denn eigentlich?« Und zugleich belehren wir ihn über unsere simple Lesart seiner Werke. »Als ich Ihren Roman las, hatte ich das Gefühl, mitten in Ihrem Zimmer zu stehen.« Ein weiteres, jetzt müdes Lächeln des Gegenübers folgt. »Ich habe mir gedacht, wenn Sie in Ihrem Roman alles so schlecht hier finden, wechseln Sie doch einfach den Wohnort.« So, jetzt reicht’s aber.

Woher aber nur all die Ungehaltenheit? – Eigentlich sollten wir es ahnen, wenn wir uns an die vielen Aufsätze und Klausuren zurückerinnern. Wie man da im Schulraum mit hochrotem Kopf ab und zu an die Wandtafel, die Uhr daneben, dann wieder an die Zimmerdecke, die Tür oder durchs Fenster starrte und doch rein gar nichts sah.

Wohin der Blick auch fiel, war Leere. Nichts im Raum enthüllte einem auch nur den Hauch einer hinreichenden Idee. Das leere Blatt Papier auf dem Tisch wirkte genauso unzugänglich wie die Aufsichtsperson am Lehrerpult oder die ebenfalls schreibenden Sitznachbarn. Man fühlte sich in diesem schulischen Schreiben ganz auf sich allein gestellt, einsam, je nachdem verzweifelt. Und schließlich lösten wir die Aufgabe dann doch. Was wäre uns auch anderes übriggeblieben?

 

 

So gesehen war der Arbeitsraum allein ein Zimmer mit einem Tisch, woran sitzend ein Text unter unserer Hand entstand, mehr nicht. Eigentlich ein ganz normaler Zustand für literarisches wie gelehrtes Schreiben. Aber gerade das in seiner Banalität wirklich zu glauben, fällt uns im Prinzip noch heute sehr schwer.

Sassen wir damals auch wirklich im eigenen Schreibraum?

War nicht etwa gerade der unscheinbare, anonyme Schulraum, den wir mit anderen teilen mussten, an unseren unterdurchschnittlichen Schreibleistungen mit schuld gewesen?

Man könnte es meinen, wenn man etwa dem italienischen Renaissance-Philosophen Giovanni Pico della Mirandola (1463 – 1494) zuhört, wie er das göttliche Lob auf den »höchsten Baumeister« anstimmt, der sein »irdisches Haus« errichtet »nach den Gesetzen einer verborgenen Weisheit«. Ein in jeder Hinsicht idealer Ruheplatz, mit buntem tierischen und pflanzlichen Nippes über- und stilvoll eingerichtet und zudem mit einer geistvoll abschließenden Himmelsdecke und einem Gestirnleuchter ästhetisch abgerundet, wobei bisweilen die Wolkenvorhänge gezogen sind.

Hier lässt er dann den Menschen, den Philosophen – »ein Gott mit menschlichem Fleische umkleidet« – Wohnsitz nehmen. »Gibt es da noch irgendeinen, der den Menschen nicht bewundern möchte?« Ja, in einem solchen globalen Künstlerhaus möchte man sich gerne niederlassen, bei aller Qual der Ortswahl, mit einem eigenen Häuschen, einem eigenen Arbeitszimmer, das vieles von der phantastischen Umgebung im kleine Mikrokosmos innerhalb von vier Wänden inspirierend wiederaufnimmt. Diesem selber bestens eingerichteten Arbeitsraum werden dann wohl nicht nur Studien und Literatur ebenso göttlich schöpferisch entwachsen, sondern zugleich auf dem beschränkten Papierformat oder Bildschirm ganz neue textliche, fiktionale Räumlichkeiten entstehen. Gemachte, poetische Räume, die sich in die innere Welt der Lesenden wiederum einbauen lassen.

Und gerade deswegen vermuten die Leserin und der Leser mit all ihren Erfahrungen auch nur zu gern hinter jeder Fiktion einen Bezug zur Wirklichkeit in zweifacher Hinsicht. Zunächst versteckt sich hinter dem beschriebenen, romanhaften Raum ein wirklich beobachteter. Und überdies müssten sich in jedem Arbeitsraum, der ein solch faszinierendes Werk hervorbrachte, Spuren von Letzterem, von seinem Entstehen noch auffinden lassen. Denn ein Ort, wo Lesenswertes entsteht, muss auch sehenswert sein. So wird sogar touristisch zu diesem bald himmlisch, bald höllisch erscheinenden literarischen Zuhause gepilgert, um einen andächtigen Blick auf den realen Schreibtisch werfen zu können.

Egal ob er wie für den amerikanischen Schriftsteller Malcolm Cowley (1898 – 1989) ein »Altar«oder wie für die ostdeutsche Schriftstellerin Christa Wolf ein »Folterinstrument« darstellt. Entsprechend spürt man in der einen Studierstube begeistert, wie hier ein Mensch mit einer ungewöhnlich starken Aura geschrieben hat, während eine andere leere Studienörtlichkeit nur Überdruss erzeugt, »da alle Möbel sich in sich zurückgezogen haben, mit ihrem Geheimnis«. Vielleicht lässt sich sogar noch die eine oder andere erfundene literarische Räumlichkeit zur eigenen Freude wiederentdecken, in der Umgebung, im Garten oder durchs Fenster.

 

 

Aber da winken viele Autorinnen und Autoren auch schon wieder ab: Die Schreibumstände müssen für Aussenstehende gar nicht derart perfekt und bewunderungswürdig erscheinen, dass sie noch neidisch werden könnten. Das Zuviel im Zimmer ist eben auch das allzu Ärgerliche.

»Hier am Schreibtisch sitze ich vor einer ganzen Phalanx von Metallgegenständen«, heißt es im Roman »Leb wohl, Berlin« aus den 1930er Jahren des angloamerikanischen SchriftstellersChristopher Isherwood (1904–1986).

»Zwei gewundene Schlangen als Leuchter, ein Aschenbecher, aus dem der Kopf eines Krokodils aufragt, ein Papiermesser in Form eines Florentiner Dolches, ein Delphin aus Messing, an dessen Schwanzende eine kleine zerbrochene Uhr hängt. Was wird aus solchen Sachen? Wie könnten sie jemals vernichtet werden? Wahrscheinlich werden sie Tausende von Jahren heil bleiben; man wird sie in Museen sammeln. Vielleicht wird man sie auch in einem Krieg einfach zu Munition verarbeiten.«

 

Allerdings bleibt die größte Irritation im eigenen Raum gerade recht, wenn sie nur genügend Schutz vor Arbeitsstörungen verspricht. Schreibende benötigen letztlich ganz wenig: eine verschließbare Tür, genügend Licht und Wärme, das nötige Schreibzeug, Bücher und je nachdem Getränke oder Raucherwaren.

Das sind dann »reale«, bescheiden karge Zimmer, in denen fast nichts mehr zu sehen ist – eine einfachste Schreibtischgarnitur wie beim ostdeutschen Autor Reiner Kunze oder vielleicht noch ein Laptop wie beim deutschen Erfolgsschriftsteller Daniel Kehlmann – und in die man entsprechend als Besucher nur sehr selten überhaupt eingelassen wird. Alles in allem, eine ganz spezielle Mischung aus Mönchszelle und Atelierraum.Vielleicht auch einfach nur ein Gehäuse mit Büchern als Bausteinen an den Wänden.

»Dieses Zimmer ist meine Welt«, sagt die österreichische Autorin Friederike Mayröcker von ihrem mit Schreibmaterialien ungeheuer überladenen, höhlenartigen Zufluchtsraum.

 

 

»Ich arbeite hier, ich schlafe hier und nehme zum Teil auch meine kärglichen Mahlzeiten hier ein, also ein Frühstück und eine Päckchensuppe zu Mittag. Es spielt sich eigentlich alles in dem Zimmer ab. Hier schreibe ich schon über vierzig Jahre; ich brauche es. Vor allem brauche ich meine Maschine und absolute Ruhe – es sei denn, ich stelle eine Bach-CD an. Ich habe an meiner Musikanlage eine Wiederholungstaste und spiele meistens das gleiche Stück. Ich kann auch seit Jahren nur in diesem Thonetsessel mit den Armstützen schreiben.

Manchmal hat man so Augenblicke, in denen man ganz meditativ wird. Wenn ich gedanklich irgendeiner Spur folge, vielleicht einer Gefühlsspur, lehne ich mich zurück und stütze meine Arme auf – und da ist dieser Sessel genau richtig.«

 

 

Letztlich bemisst sich ein Arbeitszimmer eben an diesen praktizierbaren Schreibritualen, um schließlich den individuell brauchbaren, inneren Reflexionsraum für die eigene Geistesarbeit zu erzeugen, den man mit den Gedanken dann auch möblieren kann.

Bisweilen macht es sogar den Anschein, als würde er abends in den Fensterscheiben hinter der Pultleuchte als eine zweite geisterhafte Arbeitszimmer-Welt wirklich sichtbar reflektiert. Was sich da in den Retorten der Literaten- und Gelehrtenstuben gedanklich zusammenbraut, bedenkt auch immer die eigene Schreibsituation mit.

In »Der Postmoderne Künstler« hat der französisch-amerikanische Literaturwissenschaftler und SchriftstellerRaymond Federman (1928 – 2009) diesen Sachverhalt beispielhaft in eine Kurzerzählung gefasst. Ein Künstler spiegelt und kopiert darin sein ganzes Arbeitszimmer mit Inventar inklusive Fenster noch einmal auf die gegenüberliegenden Zimmerwände und die Dinge auf dem Fußboden an die Zimmerdecke, natürlich sich selber gleich auch mit.

Sein so hergestelltes Abbild ist in seiner Hyperrealität derart täuschend echt, dass zwischen der künstlich gemalten Atelierwelt mit ihm am Schreibtisch und der Realität nicht mehr zu unterscheiden ist. Das ist sozusagen die Grundsituation im Arbeitszimmer, worin sich der Schreibende und das Geschriebene immer wieder in eigenartigen wie beengenden Wechselverhältnissen im Raum finden:
Mal herrscht die größte Distanziertheit vor, dann wieder ist alles Geschriebene nur ein Abbild der Wirklichkeit, schließlich verwirrt sich noch alles und der Autor fühlt sich selber wie ein Schrank voller Papiere und Bücher, der quasi als menschliches Möbelstück nur noch in der Studierstube überhaupt vorstellbar ist.

Sind Schriftstellerzimmer und Schriftstellerhirn etwa am Ende sogar identisch? Doch es ist neuerdings auch ohne alle neuro-philosophischen Spekulationen wieder viel vom Raum und seiner »Wiederentdeckung« die Rede, zumindest in den Sozial- und Kulturwissenschaften. Da wird etwa der Geschichts- und Gesellschaftsraum neu vermessen, mit einem regelrecht alles verräumlichenden Blickwinkel als neue Ordnungskategorie, einem sogenannten »spatial turn«.

 

 

Auch die Welt des Literarischen sieht sich verstärkt mit Literaturgeographie und -topographie konfrontiert, indem die realen und fiktiven Örtlichkeiten der Literatur in den Vordergrund gerückt werden.Der schon im 18. Jahrhundert einsetzende romantische Literaturtourismus hat für sich die Lebens- und Arbeitsorte von Autoren und Autorinnen wiederentdeckt, um dabei Lektüre-Erinnerungen und unmittelbare Anschauung in eine Übereinstimmung zu bringen. Letztlich entspricht dies eben einem solch regen Bedürfnis, alles Literarische in einem engen Bezug zur Realität zu sehen und nicht zuletzt auch die biographischen Schreibumstände der Literaten nie ganz außer Acht lassen zu wollen oder zu können.

 

Daran knüpft sich jeweils die berühmt-berüchtigte Frage des Surrealisten André Breton, die er 1965 an verschiedene Schriftsteller gestellt hat: »Wie einflussreich ist der Ort des Schreibens?« Eine Frage, die uns bis heute beim jeweiligen Betrachten von Schriftstellerporträts bewegt: der österreichische Schriftsteller Peter Handke am einfachen Holztischchen, der kolumbianische Literaturnobelpreisträger Gabriel Garcia Márquez inmitten seiner Tausenden von Vinyl-Schallplatten, die chilenische Bestsellerautorin Isabel Allende im stilvoll aufgeräumten Interieur eines spätviktorianischen Hauses bei San Francisco oder die zurückgezogen lebende österreichische Nobelpreisträgerin Elfriede Jelinek mit ihrem Fensterausblick.

 

Und wie muss man sich erst den Schreibtisch des amerikanischen Schriftstellers Thomas Pynchon vorstellen, von dem selber nicht einmal ein aktuelles Porträtfoto existiert? Unzählige Eindrücke, Fotos und Bilder sprechen heutzutage von einer solch handwerklichen Interessenahme wie andächtigen Bewunderung des über verschiedensten literarischen Werkstätten herrschenden Schutzgeistes.

Allerdings hat diese Verehrung des Genius Loci bisher keine eigentliche »Geschichte von des deutschen Dichters Arbeitszimmer« entstehen lassen, wie es der Zürcher Literaturwissenschaftler Peter von Matt bereits 1978 anregte.

Ebenso fehlt nach wie vor eine umfassendere Darstellung von Schreibörtlichkeiten im Kontext europäischer Kultur- und Mentalitätsgeschichte.

Dieses Fehlen mag sich aus der Tatsache erklären, dass sich die Geschichte des literarischen Arbeitszimmers seit der Antike bezeichnenderweise kaum vollständig erzählen lässt. Diese wellenförmigen Entwicklungslinien des Schreibens vom Draussen nach Drinnen scheinen im Laptop-Zeitalter einfach wieder im Draussen, im Ortlosen zu enden. Und was immer auch in stets gleichbleibenden, festen Strukturen und Verhaltensmustern am Schreibort aufscheint, all das kann jederzeit wieder mit andern wie neuen individuellen Schreibbedürfnissen bestritten werden.

 

Doch die Fragen bleiben nach wie vor: Wo verfassten antike Klassiker ihre Werke? Wie kam es zum eigentlichen Studierzimmer?

Beeinflussten adlige und bürgerliche Repräsentationsräume, Dichterkämmerchen und -höhlen oder gar das Fehlen speziell eingerichteter Schreiborte die Schriftsteller und ihre Produkte?

Gingen Örtlichkeiten auch gänzlich vergessen? Welchen Anteil haben die Schreibmedien bis zum heutigen Computerzeitalter an diesen Veränderungen gehabt? Solchen und ähnlichen Fragen geht das vorliegende Buch nach, um nach Antworten in der Entwicklungsgeschichte literarischer Räume zu suchen, in denen man bis heute lebt, studiert, arbeitet und letztendlich auch stirbt.

Manchmal wird wie beim schwäbischen Dichter Eduard Mörike(1804 – 1875) sogar einfach nur befremdlich von diesen Studierzimmern geträumt, man müsste etwa in ihnen wie in einer Schulsituation eine Prüfung ablegen oder gieße gleich das ganze Tintenfass auf den wertvollen Sessel darin.

So gesehen beinhaltet eine Entdeckungsreise durch die Arbeitszimmer verschiedenster Epochen immer auch allerhand Absurdes und Kurioses. Die literarischen Zeugnisse seit der Antike erzählen dabei durchaus unterhaltsam vom Veränderbaren und Unveränderlichen des Arbeitsortes, vom Individuellen und der Gesellschaft, von uns Bekanntem oder Befremdendem beim jeweiligen Einrichten und Benützen eines geistigen Arbeitsortes.

Und zum Schluss, nach allen gemachten Recherchen und Schreibarbeiten, bleibt doch noch die beruhigende Feststellung zu machen, dass sich den Literaten ihr Arbeitszimmer nicht einfach mit ein paar eklig gestellten Fragen im Literaturhaus vergällen lässt. Aber auch nicht mit langatmigen, literaturwissenschaftlichen Theorien. Dafür blickt jeder dieser Orte schon auf eine zu große, bewegte wie traditionsreiche Geschichte zurück.

 

Der Pariser Dichter Charles Baudelaire (1821 – 1867) jedenfalls wird nicht so schnell den Blick von seinem Arbeitstisch erheben, wenn er seiner verträumten Schreiblust im abgeschlossenen Arbeitszimmer vollkommen erliegt:

 

 

»[…] Von der Mansarde aus, die Hände unterm Kinn,

Seh ich auf summendes, redseliges Treiben hin,

Auf Türme und Kamine, die sich wie Masten recken,

Und Himmel, die den Traum von Ewigkeiten erwecken.

Wie wohl tut es, von fern durch Nebel hin zu sehn,

In einem Fenster Licht, im Blau den Stern aufgehn,

Wie sich zum Firmament ein Kohleschwall ergießt,

Und wie das Mondlicht bleich und zaubervoll zerfließt.

So seh ich Frühlings-, Sommer-, Herbsteszeit;

Und wenn es monoton im Winter niederschneit,

Ich alle Läden und Gardinen zugemacht,

Bau ich mir Feenschlösser in die Winternacht.

In meinen Träumen find ich blaue Fernen wieder […]«

 

Severin Perrig

Am Schreibtisch grosser Dichter

und Denkerinnen

Verlag Rüffer & Rub Zürich, 2011

272 S., Hardcover,
CHF 38.00. EUR 28.80.

ISBN 978-3-907625-56-9

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