FRONTPAGE

«Judith Hermann: Das Leben als langer lyrischer Transit»

Von Ingrid Isermann

 

«Wir hätten uns alles gesagt. Vom Schweigen und Verschweigen im Schreiben»: Judith Hermann erzählt in ihren Frankfurter Poetikvorlesungen, die nun als Buch vorliegen, von einer unkonventionellen Kindheit im geteilten Berlin, Familienbanden und Wahlverwandtschaften, Sommer am Meer, und was Leben und Schreiben miteinander verbindet.

Der erste Teil der Poetikvorlesungen handelt von ihrem Psychoanalytiker Dr. Dreehüs, von ihren Freunden Ada und Marco, der zweite Teil von der Familie, dem depressiven Vater und der russischen Grossmutter und der dritte Teil erzählt von der Zeit der Pandemie und versucht Schreiben und Leben miteinander zu verbinden. «Ich schreibe nichts, worüber sich die Gespräche, die Selbstgespräche der Analysestunden drehen», so Judith Hermann.

 
Als die Autorin spätabends auf einem Spaziergang in der Kastanienallee in Berlin unerwartet ihrem Psychotherapeuten nach zwei Jahren wieder begegnet, löst das eine Welle von Erinnerungen aus, die in die Frankfurter Poetikvorlesungen einfliessen. Sie folgt dem Therapeuten in eine Kneipe namens «Trommel», wo er rauchend an der Bar sitzt und für sie einen Gin Tonic ausgibt und im Laufe des Gesprächs noch einen. Und nach langer Zeit nimmt auch sie wieder eine Zigarette in die Hand.

 

Schwebend leicht und flirrend ist dieser Text geschrieben und scheint so poetisch wie authentisch. Die Autorin erzählt von sich und ihrer Familie, von ihren Freunden und ihrem Leben, wo, wie der Therapeut später in einem Brief anmerkt, alles so geschickt verfremdet und entstellt ist, dass am Ende nichts mehr richtig ist, aber alles wahr.
 

 

Das Gespräch mit dem Therapeuten ist ein Vierteljahr nach der nächtlichen Begegnung auch der Auslöser, die Jugendfreundin Ada vor ihrem 50. Geburtstag wieder zu besuchen. Und so steht die Autorin Anfang Dezember vor dem Haus, in dem Ada immer noch lebt, die sie zehn Jahre lang nicht gesehen hat. Die scheint nicht sehr überrascht zu sein, ausser ihren Kindern ist niemand im Hause. Die Frau, mit der sie zuletzt zusammenlebte, hatte sie am Morgen nach einem Streit verlassen.
Und dann sitzen sie zusammen vertraut in der Küche an ihrem Tisch am Fenster mit Blick in den Hinterhof zu den hellerleuchteten Fenstern und stossen miteinander an und sprechen von vergangenen Zeiten, als beider Kinder noch klein waren, vom Sommerhaus am Meer, in dem sie einige Jahre in den Sommermonaten verbracht hatten. 
 

Wo beginnt eine Geschichte und wo hört sie auf?  Die Geschichte ist ein Schutzraum für eine Erzählerin, ein Gehäuse wie die Schale einer Nuss, der Schutzraum entsteht durch Verschweigen. Jeder Satz ist eine Entscheidung gegen einen anderen Satz. Geschichten ereignen sich nicht. Geschichten werden erzählt, schreibt Judith Hermann. Und woran macht die Autorin fest, dass eine Geschichte eine Geschichte ist? «Dass ein Wort, Satz oder Gegenstand Anfang einer Geschichte sein kann, ein Lot, das ich in einen tiefen Brunnen senke. Worauf verlasse ich mich da. Ich vermute, ich verlasse mich auf einen speziellen Instinkt. Auf diesen einen Instinkt, der dir sagt, dass etwas fehlt, nicht, dass etwas da ist».
 

Das Leben, das zwischen den Fingern zerrinnt, in einem Prozess des Schreibens als Essenz zu bewahren, macht die Faszination dieser Poetikvorlesungen aus. Keine Gewissheiten, das Lebensgefühl einer Generation.

 
«Die Familie ist nicht das einzig Ungeheuerliche, was dir geschieht. Am Ende ist alles ungeheuerlich. Das Eigentliche, das Herz der Materie, ist an und für sich nicht erzählbar, das Zentrum ist ein unbetretbarer Ort. (..) Ich bin mit meiner Grossmutter aufgewachsen, was man unkonventionell nennen könnte, möglicherweise wäre das für die Verhältnisse ein unverfängliches Wort. Wir lebten mit meinen Eltern, also zu viert in Berlin-Neukölln in einer weitläufigen, verwinkelten Altbauwohnung mit lichten, halblichten und dunklen Zimmern. Zugeräumte Kammern, Hängeböden, Kartons voller Papiere, Bücherregale, die vor die Flügeltüren geschoben waren, Bücher in Stapeln, Gänge durch Bücherstapel hindurch. Niemand putzte. Alles war staubig. In der Küche sammelte sich das Geschirr, neben der Wohnungstür alte Zeitungen, leere Flaschen, an der Waschmaschine Berge von Klamotten, die meine Mutter, wenn sie abends nach Hause kam, in die Maschine stopfte, bevor sie sich die Jacke auszog, meine Mutter verdiente das Geld für die Familie. In den sieben Jahren, in denen ich  ein Einzelkind gewesen bin, studierte mein Vater Mathematik und Physik; er war depressiv, möglicherweise wäre das ein unverfänglicher Ausdruck für seine Verfassungen. Meine Grossmutter versuchte, den Überblick zu behalten».

 
Im dritten Teil ihrer Poetikvorlesungen schreibt Judith Hermann über die Zeit der Isolation in der Pandemie, als die Welt den Atem anhielt und sie aufs Land zog. Mit Jon, einem in einem Provinzschloss in der Nähe beauftragten Kunstfotografen, reflektiert sie über Geheimnisse ihrer Kindheit und Familienverhältnisse, die sie prägten. Das Schlossmuseum war wegen der Pandemie geschlossen und der Nachtwächter hatte sie im Audienzsaal übers Wochenende beinahe eingeschlossen. Die Autorin schrieb Jon später eine kurze Nachricht, bedauerlich, in diesen 48 Stunden hätten sie sich vermutlich alles gesagt: «Jon kommt oft darauf zurück. Er wiederholt das – wir hätten uns alles gesagt, er will von mir wissen, was das gewesen wäre. Alles». Sie  hört von Jon, sie hätte ein kompliziertes Verhältnis zu Männern. Die Autorin widerspricht:  «Je mehr wir versuchen, uns zu erklären, desto mehr missverstehen wir den anderen. Wie im Märchen. Reden ist Silber. Schweigen Gold. Ich frage Jon, woran das liegen könnte. Er denkt eine Weile nach, dann sagt er tatsächlich, es liegt an den Gespenstern.
Ich denke, dass ich weiss, was er meint».
 

Nach der Suche im Bücherregal finde ich ihn wieder, den Debütband «Sommerhaus, später» (1998) und lese erneut die Geschichte «Rote Korallen», vom Korallenarmband ihrer Urgrossmutter, weswegen ihr Urgrossvater in St. Petersburg in einem Duell erschossen wurde und das ihr selbst den Geliebten nahm, trotz allem eine zärtliche Geschichte. Und natürlich die Titelgeschichte des Buches, das zur Identifikation einer ganzen Generation und zum Bestseller wurde. Vorn im Buch steht mit schwungvoller Handschrift die hingeworfene Widmung: Judith Hermann, Solothurn, 16.5.99, anlässlich der Solothurner Literaturtage 1999.

Daneben im Regal steht der Band «Nichts als Gespenster» (2003), die in den Frankfurter Poetikvorlesungen wieder auftauchen, ein fast prophetischer Titel für die heutige Zeit:
 
«Geschichten schreiben heisst misstrauisch sein. Lesen heisst, sich darauf einzulassen. Jede Geschichte erzählt von einem Gespenst. Am Ende ist das Zentrum der Geschichte ein Schwarzes Loch, aber es ist nicht schwarz, und es ist nicht finster. Es kann im besten Falle glühen».

 

Und was dem Schreiben, dem Leben am nächsten kommt: einen neuen Versuch machen, lautet das Fazit. Nicht wirklich sicher, doch nichts weniger als eine Hommage an das Leben.

 

Judith Hermann wurde 1970 in Berlin geboren und lebt heute in Berlin und Friesland. Auf ihr viel beachtetes Debüt «Sommerhaus, später» folgten der Erzählband «Nichts als Gespenster», einzelne Geschichten wurden fürs Kino verfilmt, die fünf Erzählungen «Alice», der Roman «Aller Liebe Anfang» sowie die Erzählungen «Lettipark», ausgezeichnet mit dem dänischen Blixen-Preis. Ihr Roman «Daheim» erhielt  u.a. den Bremer Literaturpreis.  Im Sommer 2022 folgten die Frankfurter Poetikvorlesungen, die im vorliegendem Band «Wir hätten uns alles gesagt» im S. Fischer Verlag, Franfurt am Main, im März 2023 veröffentlicht wurden.

 

 

Judith Hermann
Wir hätten uns alles gesagt

S. Fischer , Frankfurt am Main 2023
Geb. mit Schutzumschlag, ca. 190 S.,
CHF 33.90
ISBN 978-3-10-397510-9

 

 

Judith Hermann

Sommerhaus, später

Erzählungen 

S. Fischer, Frankfurt am Main 2023

(Neuauflage), 208 S.

CHF 33.90

 

 

 

 

«Aya Cissoko: Kein Kind von Nichts und Niemand»

 
Aya Cissoko schreibt an ihrer Familiengeschichte und den Lebensbedingungen, unter denen Schwarze Jugendliche in Frankreich aufwachsen. Es ist ein Brief an ihre Tochter, deren Existenz sie veranlasst, erneut ihre Stimme zu erheben, um über Diskriminierung, Rassismus, die Vorurteile und Urteile zu schreiben.

 

Aya Cissoko analysiert die sozialen Hierarchien, zeigt auf, wie sich Rassismus und Klassen-Verachtung mit einer absurd verworrenen und immer weiter existierenden Logik vermischen. Sie geht der Frage nach, ob sich die Umstände heute geändert haben, wenn sie sie mit denen ihrer Eltern, die als Analphabeten und Arbeitsemigranten in den 1970er Jahren aus Mali nach Paris kamen, und ihrer eigenen Kindheit Ende der 1980er Jahre in einem Pariser Ghetto vergleicht.
 
Das Buch ist familiäre Spurensuche, die zu einer zweifachen Geschichte von Gewalt und Schmerz geführt hat: Cissokos Vorfahren waren Krieger aus dem Stamm der Bambara, die gegen die Kolonisierung gekämpft haben; der Vater ihres Kindes stammt aus einer Familie aschkenasischer Juden, die Auschwitz überlebt haben.

 
In ihrem dritten Buch taucht Cissoko tief in die Gesellschaft ein und versucht, Themen wie Rassismus und Diskriminierung an der Wurzel zu packen. Hierbei beruft sie sich auf ihre Mutter: «Kein Kind von Nichts und Niemand – dieser Satz stammt von meiner Mutter, die mir immer eintrichterte: Du bist kein Kind von Niemandem, du bist Teil einer langen Ahnenreihe. Auch ich wollte, dass mein Kind erfährt, woher es kommt. Vor allem, weil diese Geschichten bisher fast nicht erzählt worden sind». Und so ist aus einem an die eigene Tochter gerichteten Brief ein Buch entstanden, welches den Beweggründen gesellschaftlicher Kämpfe um Klasse und Rasse auf den Grund zu gehen versucht.
 

Dabei beginnt Cissoko bei ihrer eigenen Familie und fragt, inwiefern sich das Leben ihrer Generation von dem ihrer Eltern unterscheidet, welche Möglichkeiten, welche neuen Verbarrikadierungen wurden neu aus dem Boden gestampft, welche Erzählungen haben es auf die Tagesordnung geschafft?
 
Aya Cissoko  aussergewöhnliches und emotionales Buch verleiht all jenen eine Stimme, die von der Gesellschaft noch immer durch Diskriminierung und Ausgrenzung unsichtbar gemacht werden und oft zum Schweigen verdammt sind.

 

Aya Cissoko wurde 1978 in Frankreich geboren. Ihre Eltern kamen Anfang der 1970er Jahre aus Mali nach Frankreich. 1986 kommen ihr Vater und ihre Schwester bei einem Brandanschlag in Paris ums Leben. Sie entdeckt das Boxen für sich als Rückzugsort und wird 2006 Amateur-Boxweltmeisterin. Ein Bruch der Wirbelsäule beendet 2010 ihre Boxkarriere. 2011 veröffentlicht sie (zusammen mit Marie Desplechin) ihr erstes Buch, »danbé«, das unter dem Titel «Wohin ich gehe» verfilmt wurde. Sie studiert Politikwissenschaften am Institut d’études politiques in Paris. 2016 erschien ihr zweites Buch «n’ba», das nun in deutscher Übersetzung vorliegt. Sie lebt in Paris.

 

 

Aya Cissoko
Kein Kind von Nichts und Niemand
Wunderhorn Verlag, April 2023
Geb., 120 S. , € 22.
ISBN: 978-3-88423-690-1

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