FRONTPAGE

«Colin Barrett: Junge Wölfe»

Von Ingrid Isermann

 

Die Stadt ist ihr Revier, hier streifen sie umher, die jungen Leute dieser von der Wirtschaftskrise gebeutelten Gegend im äussersten Westen Irlands. Stets auf dem Sprung, stets bereit zu einer Schlägerei, dem rettenden Rausch oder der schnellen Nummer, ohne echtes Ziel, aber immer auf der Suche. Ein brillantes Debüt  des jungen Iren Colin Barrett.

Sie sind Türsteher, Kleinkriminelle oder Tankwarte, sie sind so rücksichtslos wie weichherzig, doch wenn es um Gefühle geht, lassen sie lieber Taten sprechen. Jungs wie Jimmy, der seine Liebeserklärung auf das umgeworfene Auto seines Rivalen malt, wie Tug, der Schrecken der Stadt, dem das Schicksal eines vermissten kleinen Jungen nicht aus dem Kopf geht. Oder wie die Gangster Arm und Dympna, deren Schicksal besiegelt ist, als sie einen Job so richtig vermasseln.

 

Colin Barrett, so die New York Times, «versteht sich blendend darauf, Momente einzufangen, in denen es bei jemandem richtig mies läuft» – und das tut er mit Mitgefühl und großem Spass. In seinen gefeierten Erzählungen gehen schwarzer Humor, Gewalt und Zärtlichkeit eine unwiderstehliche Liaison ein.

 

Leseprobe:

 

DER KLEINE CLANCY

«Meine Stadt liegt nirgends, wo Sie je gewesen sind, aber Sie kennen die Sorte. Ein Kreisverkehr an einer Nationalstrasse, ein Industriegebiet, ein Cineplex mit fünf Sälen, eine Hundertschaft Pubs, die sich auf den zwei, drei Quadratkilometern des Stadtgebiets zusammendrängt. Der Atlantik ist nah; das zerklüftete Kinn des Küstensaums mit seinen von Möwen heimgesuchten Felsvorsprüngen ist nah. Sommerabende, und auf den nach Jauche duftenden Weiden der Trabantengemeinden heben die Zen-Rinder die Köpfe und meditieren über das V8-Geheul der jugendlichen Raset, die über die Nebenstrassen brettern.

Ich bin jung, und von uns Jungen gibt es hier nicht viele, aber ich übertreibe nicht, wenn ich sage, dass die Stadt uns gehört.

Es ist Sonntag. Das Wochenende, dieses dreitätige Abnutzungsfest, liegt hinter uns. Sonntag ist der Tag der Läuterung und der Abbitte; der weichen Birnen, der flauen Mägen und der hohlen Gelübde, sich nie wieder so vollzudröhnen. Ein Tag, den man gern vorübergehen sieht, bevor er richtig in Gang kommt.

Es ist weit nach acht, aber draussen ist es noch hell, ein warmes Licht, durchtränkt von jener glücklichen Schwermut, die einen Juliabend im Westen begleitet. Ich sitze mit Tug Cuniffe an einem Tisch im Raucherbereich von Dockers Pub. Der Raucherbereich befindet sich im Freien, ein schmaler betonierter Hof hinter dem Gebäude, von dem aus man den städtischen Fluss sieht. Mücken kitzeln unsere Kopfhaut. Eine buntgestreifte Markise ist ausgefahren, und hin und wieder bläht das Tuch sich in der Brise wie ein Segel.

Tug umfasst den Tisch, und ich spüre, wie dieser schwankt und in die Höhe schwebt. Ich schnappe mein Getränk und lehne mich zurück. Die Bierdeckel wirbeln davon. Tug schlingert, und der Tisch folgt seinem Schlingern und fällt krachend auf den Betonfussboden. Die Leute in der Nähe kreischen auf und springen zurück. 

Ich steige geziert von meinem Hocker, erst ein Fuss, dann der andere, und lasse Tug nicht aus den Augen. Er hat die Lippen zu einem höhnischen Grinsen hochgezogen, sein Atem geht schnell und glucksend. «Tut mir leid, Tug», sage ich. Seine Nasenflügel beben und flattern, dann finden sie wieder zu einem gleichmässigen Rhythmus. «Ist schon gut», sagt er, «ist schon gut».

Er reibt sich das eingedellte Rund eines Schädels und blickt mit grösster Verblüffung auf den gekenterten Tisch, als hätte er nichts mit ihm zu schaffen. «Komm», sage ich, «lass uns abhauen». Alle weichen zurück, als wir vorübergehen, ich in Tugs Kielwasser. Ich weiss, was sie denken, das Riesenbaby spielt wieder mal verrückt. Das Riesenbaby hat wieder mal einen Anfall. Das bekloppte Riesenbaby und sein bekloppter Kumpel Jimmy Devereux».

 

 

Colin Barrett

Die jungen Wölfe

übersetzt durch Hans-Christian Oeser
Steidl Literaturverlag, Göttingen, 2016

224 Seiten
Leineneinband 
12.6 x 20.8 cm
deutsch, € 20,00

ISBN 978-3-95829-134-8

 

Colin Barrett, 1982 geboren, wuchs in der irischen Grafschaft Mayo auf. Er arbeitete zunächst für eine Mobilfunkfirma in Dublin, studierte dann bis 2009 Creative Writing am University College Dublin. Sein Debüt «Junge Wölfe» (Young Skis) wurde mit dem Frank O’Connor International Short Story Award 2014, dem Rooney Prize for Irish Literatur 2014 und dem Guardian First Book Award 204 ausgezeichnet. In den USA erhielt er den The National Book Foundation’s 5 under 35 Award 2015. Colin Barrett arbeitet an seinem ersten Roman, der ebenfalls bei Steidl erscheinen wird. Er lebt in Dublin.

«Dies sind Erzählungen, die man bestimmt einmal im Unterricht durchnehmen wird – ihrer Form wegen». The New York Times

«Tschechow hat einmal zu seinem Verleger gesagt, die Aufgabe des Schriftstellers bestehe nicht darin, Antworten zu geben, sondern die richtigen Fragen zu stellen. In diesem herausragenden Debüt, besonders aber in den vorzüglichen Geschichten, die den Band rahmen, stellt Collin Barrett die richtigen Fragen». The Guardian (UK)

 

 

«Patti Smith: Meditation M Train»

 

In »M Train« erzählt Patti Smith von ihrer Ehe mit Fred Sonic Smith, von ihren Lieblingsbüchern und von Dingen und Menschen, die sie im Laufe ihres Lebens verloren hat und die dadurch für sie nur an Bedeutung gewonnen haben.
Patti Smith nimmt den Leser mit in unzählige Cafés auf der ganzen Welt, in denen sie schreibt, malt, Listen komponiert und nachdenkt. Über alte Zeiten, über die Gegenwart und über die Bücher, die sie gerade liest oder dringend wieder lesen muss. Bis zu 14 Tassen Kaffee trinkt man mit ihr pro Tag und schweift dabei zusammen mit ihr durch ihr Leben, von den 1980er-Jahren bis heute.

 

Es geht auf spektakuläre Reisen, nach Französisch-Guyana auf den Spuren von Genet oder zu den Gräbern seelenverwandter Künstler  wie Sylvia Plath, Rimbaud, Frida Kahlo. Immer wieder kommt Patti Smith auf für sie wichtige Autoren zurück: auf Murakami, Bolaño, Wittgenstein und Bulgakow. Jede Geschichte ist gespickt mit kleinen Besonderheiten: Begegnungen, Gegenständen, Bildern, die Patti Smith wie kaum eine andere auratisch aufzuladen versteht.

 

Eine wunderbare Meditation über das Reisen, über kreatives Schaffen und die hohe Kunst der Kontemplation. Mit zahlreichen von Patti Smith aufgenommenen Polaroidfotos.

 

 

Kiepenheuer & Witsch

M Train


Aus dem amerikanischen Englisch von Brigitte Jakobeit


ISBN: 978-3-462-04863-6
336 Seiten, geb.

ISBN 978-3-95829-134-8 


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