FRONTPAGE

«Irene Vallejo: Papyrus – die phantastische, lebendige Geschichte des Buches»

Von Ingrid Isermann

 

Ein Buch, das das Buch zum Thema macht, als Kulturgut und Artefakt über Jahrtausende hinweg. Eine unendliche Geschichte, die auch digitale Zeiten überdauert. Das Buch ist eine der schönsten und nachhaltigsten Erfindungen der Menschheit.

Irene Vallejo nimmt uns mit auf die abenteuerliche und spannende Reise durch die faszinierende Geschichte des Buches, von den Anfängen der Bibliothek in Alexandria bis zum Untergang des Römischen Reiches. Wir treffen rebellische Nonnen, gewiefte Buchhändler, phantastische Geschichtenerzähler und Abenteurer, die sich der Welt der Bücher verschrieben haben.

 

Bücher überdauern die Zeit

Über Zeitalter hinweg wurden Bücher aus Rauch, Stein, Lehm, Schilf, Seide, Leder, Lumpen, Bäumen und neuerdings mithilfe der Computer und E-Books jetzt auch aus Licht, erstellt. Wie wir Bücher öffnen und erkunden oder durch Texte navigieren, hat sich im Laufe der Jahrhunderte geändert, die Bücher veränderten ihre Form, in ihrer Haltbarkeit und im Erleben und Erinnern des lauten oder leisen Vorlesens.

 

Das Überleben der besten Ideen der Menschheit verdanken wir den Büchern, ohne sie hätten wir diese Handvoll tollkühner Griechen vielleicht vergessen, die beschlossen, die Macht an das Volk zu übergeben und dieses gewagte Experiment «Demokratie» nannten. Oder die Ärzte um Hippokrates, die den ersten Ethikkodex der Geschichte schufen und sich damit verpflichteten, auch die Armen und die Sklaven zu behandeln.

 

Oder Aristoteles, der eine der ersten Universitäten gründete und seinen Schülern sagte, dass der Unterschied zwischen Weisen und Unwissenden derselbe sei wie der zwischen Lebenden und Toten. Oder Eratosthenes, der die Kraft der Beweisführung nutzte, um mithilfe eines Stabs und dessen Schattenwurf den Erdumfang zu berechnen. Oder die Rechtsordnungen jener verrückten Römer, die eines Tages allen Bewohnern ihres riesigen Reiches das Bürgerrecht gewährten.

Die Autorin taucht in ihrem mitreissend flüssig geschriebenen Buch ein in die Mythen und Urgründe unserer Gesellschaft, die uns bis heute beflügeln.

 

 

Irene Vallejo, geboren 1979 in Saragossa, studierte klassische Philologie an der Universität von Saragossa und Florenz. Dabei entdeckte sie ihre Leidenschaft für die Antike. Pypyrus, ihr erstes Sachbuch, wurde in Spanien ein Bestseller und mit den wichtigsten Literaturpreisen des Landes ausgezeichnet. Es erscheint in über dreissig Sprachen. Sie ist Autorin von zwei Romanen und einigen Kinderbüchern und engagiert sich für soziale Projekte, die Kindern Kunst und Literatur näherbringen. Irene Vallejo lebt mit ihrer Familie in Saragossa.

 

Leseprobe:

Prolog

Seltsame Gruppen berittener Männer durchstreifen die Straßen Griechenlands. Die Bauern beobachten sie misstrauisch von den Feldern aus oder von den Hüttentüren. Aus Erfahrung wissen sie, dass nur gefährliche Leute reisen: Soldaten, Söldner, Sklavenhändler. Sie runzeln die Stirn und knurren, bis die Männer wieder am Horizont versinken. Sie mögen keine bewaffneten Fremden.
Die Reiter nehmen von den Dorfbewohnern keine Notiz. Monatelang haben sie Berge bestiegen, Schluchten genommen, Täler durchquert, Flüsse durchwatet und sind von Insel zu Insel gesegelt. Ihre Widerstandskräfte und Muskeln sind stärker geworden seit dem Antritt ihrer sonderbaren Mission. Um diesen Auftrag zu erfüllen, müssen sie sich in die rauen Territorien einer sich ständig bekriegenden Welt vorwagen. Sie jagen nach einer ganz besonderen Beute. Einer stillen Beute, einer schlauen, die nicht die geringsten Spuren hinterlässt.
Wenn sich diese unheimlichen Gesandten in irgendeine Hafenkneipe setzen, Wein trinken, gebratenen Tintenfisch essen, sich mit Fremden unterhalten und gemeinsam betrinken würden (aus Vorsicht tun sie das nie), könnten sie großartige Reisegeschichten erzählen. Sie hatten sich in Pestgebiete gewagt. Waren durch niedergebrannte Gegenden gereist und hatten die heiße Asche der Zerstörung und die Brutalität der Rebellen und Söldner auf Kriegspfaden gesehen. Landkarten von ausgedehnten Gebieten gab es noch nicht, und so verirrten sie sich und wanderten tagelang ziellos bei sengender Sonne und Stürmen umher. Sie mussten ekelhaftes Wasser trinken, das ihnen heftigen Durchfall bescherte. Wenn es regnete, blieben die Kutschen und Maultiere in Pfützen stecken; mit Rufen und Flüchen zerrten sie dann an ihnen, bis sie selbst auf die Knie gingen und in den Schlamm fielen. Wurden sie fern jeder Bleibe von der Nacht überrascht, schützte sie nur ihr Mantel vor den Skorpionen. Sie kennen die irren Läuseplagen und die ständige Angst vor Räubern, die die Straßen befallen. Oft stockt ihnen das Blut in den Adern, wenn sie durch die Einsamkeit reiten und sich vorstellen, dass sie eine Gruppe von Banditen mit angehaltenem Atem belauert, sich hinter irgendeiner Biegung des Weges versteckt, um über sie herzufallen, sie kalt- blütig zu ermorden, auszurauben und ihre noch warmen Leichen im Gebüsch zurückzulassen.
Logisch, dass sie Angst haben. Der König von Ägypten hatte ihnen große Summen anvertraut, bevor er sie zu ihrem Auftrag auf der anderen Seite des Meeres entsandte. Zu jener Zeit, nur wenige Jahrzehnte nach Alexanders Tod, war das Reisen mit großem Vermögen sehr riskant, fast selbstmörderisch. Und obwohl Diebesdolche, ansteckende Krankheiten und Schiffbrüche eine so kostspielige Mission zu zerschlagen drohten, bestand der Pharao darauf, seine Agenten aus dem Land des Nils über Grenzen und große Entfernungen hinweg in alle Richtungen auszusenden. Un- geduldig, voll quälender Habgier brennt er auf jene Beute, die seine heimlichen Jäger allen fremden Gefahren zum Trotz für ihn aufspüren.
Die neugierig vor ihren Hütten lungernden Bauern, die Söldner und die Banditen hätten ungläubig Mund und Augen aufgerissen, wenn sie gewusst hätten, worauf die fremden Reiter aus waren.
Bücher. Sie suchten Bücher.
Es war das bestgehütete Geheimnis des ägyptischen Hofs. Der Herrscher zweier Kulturen, einer der mächtigsten Männer der damaligen Zeit, gäbe das Leben dafür (das der anderen natürlich, so ist das immer bei Königen), um alle Bücher der Welt in seiner großen Bibliothek von Alexandria zu versammeln. Er träumte von der vollkommenen Bibliothek, einer Sammlung aller Werke aller Autoren seit Anbeginn der Zeit.
Ich scheue mich immer vorm Schreiben der ersten Zeilen, vorm Überschreiten der Schwelle zu einem neuen Buch. Wenn alle Bibliotheken durchforstet sind und meine Hefte strotzen vor fieberhaften Notizen, wenn mir weder vernünftige noch dumme Ausreden einfallen wollen, die das Warten erklärten, zögere ich es noch ein paar Tage hinaus, in denen mir klar wird, worin die Feigheit besteht. Ich fühle mich einfach unfähig. Alles sollte da sein: der Ton, der Humor, die Poesie, der Rhythmus, die Versprechen. Die noch ungeschriebenen, ums Geborenwerden ringenden Kapitel sollten sich im Keimbett der gewählten Anfangsworte schon erahnen lassen. Aber wie macht man das? Was ich derzeit habe, sind Zweifel. Mit jedem Buch kehre ich zum Ausgangspunkt zurück, zum schlagenden Herzen aller ersten Male. Schreiben ist der Versuch herauszufinden, was man schreiben würde, wenn man schriebe, so formulierte es Marguerite Duras und geht vom Infinitiv zur Bedingungsform und dann zum Irrealis über, als spürte sie den Boden unter ihren Füßen bröckeln.

 

 

Irene Vallejo
Papyrus
Die Geschichte der Welt in Büchern
Aus dem Spanischen von Maria Meinel und Luis Ruby
Diogenes, Zürich 2022
Geb., 745 S., CHF 37.

 

 

«Teresa von Avila: Die innere Burg – Meditationen»

 
Wer der Hektik des Alltäglichen entfliehen möchte, sollte einen Blick in die Schriften der Mystikerin Teresa von Avila werfen. 1966 erschien die Erstausgabe «Die innere Burg», neu aufgelegt von Diogenes, mit einem Vorwort der Autorin. Innehalten und meditieren ist heute so lebendig wie zu Lebzeiten Teresas von Avila.
 
«Die innere Burg» als Metapher für die Seele ist ihr Hauptwerk und ein Klassiker der christlichen Mystik, der sich auch neu interpretieren lässt und damit ein Grundlagenwerk für eine moderne Spiritualität ist. Im Jahr 1577 blickt Teresa von Avila zurück auf ein abwechslungsreiches Leben als Nonne, Reformatorin und Klostergründerin und auf eine lebenslange Reise ins eigene Innere und zu Gott. Auf Drängen eines Beichtvaters schreibt Teresa erneut die Geschichte ihres Lebens nieder, ihre Erfahrungen und Erkenntnisse als Summe ihres mystischen Erlebens. Über die Jahrhunderte hinweg teilt sich uns Teresa mit, nahbar und auf Augenhöhe, ins Deutsche übertragen und eingeleitet von Fritz Vogelgsang.
 
Die Erfahrung des Unsagbaren 
Die Erfahrung des Unsagbaren ist in ihren Schriften literarische Kunst geworden. Sie beschrieb den Weg letzter Freiheit, drei Jahre bevor der französische Edelmann Michel de Montaigne seine Essais zum ersten Mal veröffentlichte, verfasste Teresa gleichsam als Ersatz für ihre Lebensbeschreibung, – deren Handschrift seit langem von der Inquisition beschlagnahmt war und als verloren galt -, dieses Kompendium ihrer seelischen Erfahrung. In Toledo, wo El Greco ein Jahr zuvor sich niedergelassen hatte, begann sie am 2. Juni 1577 mit der Niederschrift. Am 5. November 1577 schrieb sie in Avila das Schlusswort. Was Teresa mit dem ihr unbekannten Einsiedler Montaigne verbindet, der im Turm eines abgelegenen Schlosses über Meditation sinnierte, ist der forschende Blick und die entsagende und zugleich entdeckungsfreudige Einkehr ins eigene Innere.
Der Blick, den Teresa auf sich selber richtete, durchdringt das eigene Wesen, nicht um der eigenen Person zu genügen, sondern um auf dem Grund ihrer Seele jenes Bild zu entdecken, als dessen trübe Spiegelung sie sich fühlt, um vom Schein zur Essenz, vom Wahn zur Wahrheit zu gelangen und um im Blitz tiefster Erkenntnis eins zu werden mit dem Unermesslichen, um Augenblick und Ewigkeit zu verschmelzen zum Nunc acternum.
 
Teresa spricht von verschiedenen Wohnungen ihres Körpers, in denen man sich aufhalten kann, die man durchschreitet und neue Erfahrungen macht. Sie setzt die Symbolik ein, um verständlich zu machen, in welchen inneren Räumen sich unser Innenleben abspielt, «nämlich die Seele als eine Burg zu betrachten, die ganz aus einem Diamant oder einem sehr klaren Kristall besteht und in der es viele Gemächer gibt, gleichwie im Himmel viele Wohnungen sind. Nicht wenig Elend und Verwirrung kommen daher, dass wir durch eigene Schuld uns selber nicht verstehen und nicht wissen, wer wir sind. (…) Nach meiner Erfahrung sind das Gebet und die Andacht das Tor, durch das man die Burg betreten kann. (…) … und es ist eine so wichtige Sache, dieses Erkennen unseres eigenen Ichs».

 

 

Teresa von Avila, geboren 1515 in Ávila, Kastilien/Spanien, gestorben 1582 in Alba de Tormes, reformierte den Orden der Karmeliterinnen und gründete 1562 ein eigenes Karmeliterinnenkloster, dem viele Gründungen nachfolgten. Teresa erfüllte ihr Ordensgelübde mit aller Strenge. Ihre absolute Hingabe, Selbstbefragung und Suche nach einer tiefen Beziehung zu Gott machten sie zur grössten Mystikerin des Christentums. 1622 wurde sie heiliggesprochen.

 

Fritz Vogelgsang, geboren 1930 in Stuttgart – 2009 in Xiva de Morella, Spanien, war ein deutscher Übersetzer, Essayist und Herausgeber. Er übersetzte u. a. literarische Werke der Nobelpreisträger Miguel Ángel Asturias, Juan Ramón Jiménez, Pablo Neruda und Octavio Paz. Aufgrund seiner Verdienste um die spanische Literatur in den deutschsprachigen Ländern erhielt Vogelgsang zahlreiche Auszeichnungen.

 

 

Teresa von Avila
Die innere Burg
Herausgegeben und übersetzt von Fritz Vogelgsang
Mit einem Vorwort der Autorin
Diogenes, 2022
Taschenbuch, 400 S., geb.
CHF 18. € 14 (D). € 14.40 (A)
978-3-257-26168-4

 

 

«Weltgeist aus Limmat-Athen»

 

Mit der Aufklärung Anfang des 18. Jahrhunderts wird Zürich zu einem gesellschaftlich-kulturellen Hotspot. Lichtgestalten wie Bodmer, Lavater, Scheuchzer, Füssli und Pestalozzi prägen eine neue Zeitepoche und tragen ihre Ideen in die Hauptstädte Europas.

 

Wer mehr über die frühe Geschichte Zürichs wissen möchte, entdeckt hier eine Fülle kulturhistorischer und literarischer Bezüge. Die Autoren François G. Baer und Yves Baer zeichnen die Geschichte Zürichs und die Entwicklung der kleinen Handelsstadt vom Beginn der Aufklärung bis zum Zusammenfall der Alten Eidgenossenschaft. Ausgewählte zentrale Ereignisse, Schauplätze und Akteure zeigen den städtischen Wandel in Kunst, Wirtschaft und Politik.

 

Zürich durfte sich seit dem Ende des Dreissigjährigen Krieges mit dem Westfälischen Friedens 1648 eine Republik nennen. Die 10 000 Einwohner zählende Handelsstadt Zürich kann 1698 stolz ihr neues Rathaus am Limmatquai einweihen, das den Zürchern heute altvertraut ist. Der Neubau des Rathauses drückte das neue Selbstverständnis der Stadtrepublik Zürich aus.

 

Nur kurze Zeit später wird die erste reformierte Kirche 1706 erbaut: St. Peter mit dem grössten Zifferblatt Europas. Im Stadtkern entstanden neue Zunfthäuser wie 1757 die prunkvolle Zunft zur Meisen. Die Stadt Zürich war damals schon eine offene Handelsstadt, die geschäftig Handelswaren aus Italien, den holländischen, flandrischen und den selbständigen Handelsstädten des Deutschen Reichs importierte. Junge Zürcher Kaufleute benutzten den Landfrieden auf dem Kontinent, um im Ausland Sitten und andere Sprachen zu lernen.

 

Die Aufklärung brachte Zürich mit dem Zeitalter des Sturm und Drang eine rege literarische Tätigkeit. Nun schrieben die Gelehrten nicht mehr in lateinischer Sprache, sondern in der deutschen Sprache, sodass es alle verstehen konnten. Es bildeten sich Salons und Debattierclubs, in denen das Bildungsgut der Aufklärung diskutiert wurde und das sich als Netzwerk zu ganz Europa entwickelte. Von Zürichs Schriftstellern, Dichtern, Künstlern und Verlegern gingen Impulse aus, die hochgeschätzt wurden. Zürich stand im Ruf, eine Stätte der Lehre, Forschung und Geistesentfaltung zu sein und wurde Reiseziel der Eliten jener Zeit. Man besuchte auch den Rheinfall von Schaffhausen oder das alpine Berner Oberland.

 

Zu den gelehrten Lichtgestalten gehörten beispielsweise der Homer-Übersetzer Johann Jakob Bodmer und der Philologe Johann Jakob Breitinger wie auch der Pfarrer, Autor und Physiognom Johann Caspar Lavater, der Maler Johann Heinrich Füssli und der Verleger und Künstler Salomon Gessner.
Johann Wolfgang von Goethe besuchte Zürich und ihre Lichtgestalten dreimal und verbrachte auch längere Zeit bei Johann Caspar Lavater an der St. Peterhofstatt. 1779 führte er den jungen Herzog Carl August von SachsenWeimar in die Zürcher Gesellschaft ein.

Das Jahr 1798 markiert einen bedeutenden historischen Einschnitt in der Entwicklung von Zürich: Die Alte Eidgenossenschaft steht am Beginn dieser «Zeitenwende», die Helvetische Republik entsteht. Der Graben zwischen Stadt und Land wird tiefer. Das Buch erläutert, wie dieser Prozess vor sich ging und was während der kurzen Helvetischen Republik und nach deren vorzeitigem Ende die Stadt Zürich bewegte, bis schliesslich der moderne, souveräne Kanton geboren war.

 

«Weltgeist in Zürich» ist reich bebildert mit zeitgenössischen Abbildungen, Kunstwerken, Karten und Plänen, aber auch mit aktuellen Fotografien aus dem 20. und 21. Jahrhundert. Damit wird das Buch zu einem attraktiven kulturhistorischen Führer. Anhand von architektonischen (Neu-)Bauten wie die des Rathauses, den Werken von Zürcher Künstlern wie Johann Heinrich Füssli und den Kartierungen von Johannes Müller wird das sich wandelnde Bild Zürichs nochmals deutlich gemacht.

 

 

François G. Baer (*1945) ist Grafiker und Buchgestalter. Seit 2002 konzipierte und publizierte er als Mitautor mehrere kulturhistorische Sachbücher.
 
 
Yves Baer (*1976) ist Publizist und Autor mehrerer Sachbücher und Kurzgeschichten. Seit 2019 ist er Präsident des Zürcher Schriftstellerinnen und Schriftsteller Verbands ZSV.
 
 

 
François G. Baer, Yves Baer
Weltgeist in Zürich
Schauplätze und Lichtgestalten zur Zeit der Aufklärung
NZZ Libro, Basel, 2022
300 S., 300 Abb., 24 x 14.5 cm, geb.
CHF 34. € (D) 34.
ISBN 978-3-907291-73-3

 

 

 

«Christiane Hoffmann: Auf den Spuren des Fluchtwegs ihres Vaters»

 

«Alles, was wir nicht erinnern»: Ein Buch, das gefangen nimmt und das man kaum aus der Hand legen mag, so fesselnd beschreibt die Autorin Christiane Hoffmann den Fluchtweg ihres Vaters 1945 aus Niederschlesien, von der Oder bis nach Bayern, den sie 2020 nachgegangen ist, 550 km weit. Rosenthal, ein kleines Bauerndorf, die Heimat ihrer Vorfahren, ist nun polnisch und heisst Różyna.

 

Wie leben die Menschen dort auf dem früheren Hof ihres Vaters und welche Erinnerungen haben sie an die Flüchtlinge von damals? Ein Zeitdokument, das aktueller nicht sein könnte. Kurz nach Fertigstellung ihres Buches begann der Angriffskrieg von Russland gegen die Ukraine am 24. Februar 2022 und die Flüchtlingsfrage ist erneut das Thema, das alle beschäftigt. Das Erinnerungsbuch hat bereits die 5. Auflage erlebt und steht auf der «Spiegel»-Bestsellerliste. Und es ist nicht nur Zeitgeschichte, wie sie erlebt wurde, sondern auch, wie diese Geschichte geschrieben ist, in einer literarischen Sprache, die dem schwierigen Thema der Heimatvertriebenen, dieser Gratwanderung auf allen Seiten, gerecht wird. Nicht zuletzt deshalb ist dieses Buch eine Entdeckung.

 

Flüchtlinge – ein unbequemes Thema
Flüchtlinge sind ein unbequemes Thema, man will möglichst nichts damit zu tun haben, auch die Flüchtlinge selbst. So erzählt Christiane Hoffmann von ihrem Vater, der nach seiner Flucht mit seiner Mutter in Wedel bei Hamburg gelandet ist und sich dort integriert, sogar Plattdeutsch lernt und nie etwas von Schlesien erzählt, weil das auch niemanden interessiert. Heute ist das nicht viel anders.

 

Gerade das mag die Autorin bewogen haben, nach dem Tod ihres Vaters der Sache selbst nachzugehen, im wahrsten Sinne des Wortes, nachzuforschen, was es mit Flüchtlingen und den Ansichten darüber, hier wie dort, auf sich hat. Und da sind ihr Menschen begegnet, im heutigen Polen, die sich an die deutschen Flüchtlinge von damals nicht mehr erinnern, es erinnert auch nichts mehr an sie, nur einige sehr alte Leute wissen noch etwas, und sie haben das wenige, was sie wissen, bereitwillig geteilt. Das ist anrührend zu lesen, denn auch die Polen wurden vertrieben, mehrmals in ihrer Geschichte, sie kamen nach Schlesien, ungewollt und sollten sich die von den Deutschen verlassenen Häuser aneignen, die Russen hatten es befohlen.
 
Von den Russen ist viel die Rede, wie die Flüchtenden 1945 das Schiessen der sowjetischen Artillerie über die Oder auf dem Fluchtweg hörten, wie der neunjährige Junge, der Vater der Autorin, mit wenig Hab und Gut mit seiner Mutter und Verwandten, einem Pferd und einem Planwagen, voller Angst Kilometer um Kilometer zu Fuss zurücklegte. Man mag sich das gar nicht vorstellen, und gerade deshalb ging die Autorin diesen langen Weg allein zu Fuss selbst, im kalten Winter, wie am 22. Januar 1945, als der Krieg fast zu Ende war, aber immer noch brandgefährlich. Und wie er es jetzt auch wieder ist, von einem Moment auf den anderen, wo Menschen Haus und Hof und ihre Angehörigen verlieren und in aller Hast flüchten müssen, wie jetzt in der Ukraine. Dass das nochmals möglich ist in Europa, war das bisher Undenkbare.

 

Man sah Russland nicht mehr als Feind, nicht nachdem die Sowjetunion 1991 zusammengebrochen war, und die früheren Sowjetstaaten wie auch die Ukraine selbständige souveräne Staaten wurden. Und sich seither dem Westen zuwandten, einem besseren Leben, der Freiheit. Die ist nun wieder aufs äusserste bedroht, wie wir jeden Tag in der Zeitung lesen können und in den Nachrichten im Fernsehen, das uns nicht fern von hier das mörderische Geschehen näher bringt. Davon wusste die Autorin noch nichts, als sie die Idee zu ihrem Buch hatte, das ein Stück Vergangenheitsbewältigung werden sollte. Doch die Vergangenheit ist nicht tot, sie ist noch nicht einmal vergangen, schrieb William Faulkner.

 

Was diese Geschichte so lesenswert macht, sind die Reflexionen unterwegs, die die
Vergangenheit mit der Gegenwart verbinden, was sich geändert hat im Denken der Menschen und was nicht. Sie kämpft sich durch Hagelstürme und sumpfige Wälder, sitzt in Kirchen, Küchen und guten Stuben. Sie führt Gespräche mit anderen Menschen und mit sich selbst. Sie sucht nach der Geschichte und ihren Narben. Ein sehr persönliches, literarisches Buch über Flucht und Heimat, über die Schrecken des Krieges und über das, was wir verdrängen, um zu überleben.

 

 

Christiane Hoffmann, geboren 1967 in Hamburg, ist seit Januar 2022 Erste Stellvertretende Sprecherin der Bundesregierung. Hoffmann studierte Slawistik, osteuropäische Geschichte und Journalistik in Freiburg, Leningrad und Hamburg. Sie arbeitete fast 20 Jahre für die «Frankfurter Allgemeine Zeitung» und berichtete als Auslandskorrespondentin aus Moskau und Teheran. Anfang 2013 wechselte sie als stellvertretende Leiterin ins Hauptstadtbüro des «Spiegel». Seit 2018 war sie dort Autorin und häufiger Gast in Rundfunk und Fernsehen. Hoffmann ist die Tochter zweier Flüchtlingskinder. Ihre Vorfahren väterlicherseits stammen aus Schlesien, die Familie ihrer Mutter aus Ostpreussen. Sie ist mit dem Schweizer Diplomaten Tim Guldimann, dem früheren Botschafter in Berlin, verheiratet und hat zusammen mit ihm zwei Töchter.

 

 

Christiane Hoffmann
Alles, was wir nicht erinnern
Zu Fuß auf dem Fluchtweg meines Vaters
Verlag C.H. Beck, München 2022.
280 S., 12 Abb., CHF 34.90. € 22.

NACH OBEN

Literatur