FRONTPAGE

«Gianna Molinari: Hier ist noch alles möglich»

Von Stefan Zweifel

 

Gianna Molinari, 1988 in Basel geboren, wurde für den Schweizer Buchpreis nominiert. Für einen Auszug aus ihrem Debütroman «Hier ist noch alles möglich» erhielt sie bei den 41. Tagen der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt 2017 den 3sat-Preis, 2018 den Robert-Walser-Preis. Sie lebt in Zürich.

Wir werden schreiben: «Wir essen viele Nüsse», und nicht: «Wir lieben Nüsse». Denn das Wort «lieben» ist kein sicheres Wort, es fehlt ihm an Genauigkeit und Sachlichkeit. «Nüsse lieben» und «unsere Mutter lieben» kann nicht dasselbe bedeuten. Der erste Ausdruck bezeichnet einen angenehmen Geschmack im Mund und der andere ein Gefühl. (Agota Kristof, «Das grosse Heft»).
Immer wieder sehnt man sich nach dem Sound von Autoren, die gestorben sind, und hofft auf unveröffentlichte Texte aus ihrem Nachlass. So etwa bei Martin Heidegger und Thomas Bernhard. Autoren, deren Wille zum Stil von Verächtern wieder und wieder parodiert wurde, während sich die Verehrer an ihnen abarbeiten müssen, um einen eigenen Ton zu entwickeln.

 

 

Verkehrte Perspektive
Ich sehnte mich zuweilen nach postumen Texten von Agota Kristof. Aus Ungarn in die Schweiz geflohen, erarbeitete sich die Schriftstellerin in Neuchâtel ein Französisch, das sie, fernab vom üblichen hohen Ton der Grande Nation, in eine ganz schlichte Sprache, skelettartig fast, abwandelte.
Und plötzlich wurde ich fündig: in «Hier ist noch alles möglich», dem Debütroman der 1988 in Basel geborenen Gianna Molinari.
Ich las das Buch als postumen vierten Teil von Agota Kristofs Romantrilogie. Satz für Satz, Seite für Seite erinnerte es mich an sie. Es wirkte auf mich wie die Vollendung eines Werks, das mit Kristofs Vertreibung aus Ungarn seinen Anfang genommen hatte und nun ins Heute übersetzt wurde, wo die Migration die Konturen unserer Wohlstandsinsel unterspült. Kristofs Schilderung davon, wie man sich aus dem Innen einer Diktatur nach dem Aussen jenseits der Grenzen sehnt und vom Ausbruch träumt, verkehrt Gianna Molinari in eine Parabel, in der die Migration in unsere Eigenheime drängt.

 

 

In der Wortfabrik
Nacht für Nacht wacht Molinaris Ich-Erzählerin in einer Fabrik vor Monitoren, auf denen, selten nur, schematische Figuren auftauchen: der Chef, der andere Nachtwächter, eine Katze. Ähnlich schematisch wirken die Figuren im Roman, deren Innenleben und Gefühlswelt bewusst verschlossen bleiben. Und natürlich ist auch die Symbolik schematisch – der streunende Wolf bedroht die Fabrik wie die Migranten unsere Wohlstandsinsel. Der Fabrikchef wünscht sich, dass die Löcher im Zaun ausgebessert werden.
Als Gianna Molinari vor einem Jahr in Klagenfurt eine Passage aus ihrem im Entstehen begriffenen Roman vorlas und den 3sat-Preis gewann, hörte man noch Sätze wie: Es ginge genauso gut ohne Zaun, wie es auch ohne Wachdienst ginge. Überdeutliche Anspielungen auf die Lage in Europa sind nun konsequent verschwunden. Es braucht in der Tat keine weiteren Winke mit ungarischen Zaunpfählen: Denn der Roman kreist um ein fait divers aus dem Jahr 2010, als in der Schweiz ein Mann vom Himmel fiel. Der Mann stammte offensichtlich aus Afrika. Er war schon erfroren, bevor er auf achthundert Metern Höhe aus dem Rumpf eines Flugzeuges stürzte, das beim Landeanflug auf die Piste 28 im Flughafen Kloten sein Fahrwerk ausfuhr.
Diese Geschichte des Migranten, der vom Himmel fiel, hat der Journalist Christoph B. Keller in einem Radiobeitrag bereits aufgearbeitet. Molinari bettet sie nun in ihren Roman ein. Freilich gilt auch für ihre Erzählerin, dass sie quasi aus dem Himmel fällt. Sie hat eine sichere Existenz aufgegeben und sucht sich in der Fabrik ein neues Umfeld, einen Ort, wo noch alles möglich ist. Was die Erschütterung in ihrem Leben auslöste, bleibt im Dunkeln, doch es bebt im Text nach. Sie sucht Satz für Satz Halt und festen Boden.
Aber den Worten ist so wenig zu trauen wie den Gefühlen. Die Erzählerin muss sie im Universal-General-Lexikon nachschlagen wie Agota Kristofs Figuren im Wörterbuch des Vaters. Denn wie bei Kristof gesagt wird: «Die Wörter, die die Gefühle definieren, sind sehr unbestimmt, es ist besser, man vermeidet sie und hält sich an die Beschreibung der Dinge.»

 

 

Die Welt der hübschen Bilder
Bilden Worte Welt ab? Diese Frage steht im Zentrum des Buchs von Gianna Molinari. Da sie nicht eindeutig beantwortet werden kann, wird der Text mit Skizzen angereichert, wie man sie aus Saint-Exupérys «Der kleine Prinz» kennt. Bilden solche Zeichnungen die Welt genauer ab als Worte? Auch das bleibt fraglich. Fraglich bleibt ausserdem, ob die Zeichnungen wirklich sein müssen. Sie hübschen den Text auf eine Weise auf, die das harmlose Herz der Heldin allzu gewollt illustriert. Zumal noch Fotografien von Christoph Oeschger dazukommen mit verschwommenen Wolken, in denen man – ach! – doch so viele Gestalten und Gesichter sehen kann, wenn man sich eine kindliche Seele bewahrt hat wie die Erzählerin.
Text, Fotos und Zeichnungen – eigentlich des Guten genug, um sich mächtig zu ärgern. Und doch gibt man sich gern dem Sog der Sätze hin, die sich langsam Richtung Welt tasten: «Ich denke, dass es einfacher wäre, die Welt als Scheibe zu denken, mit klarem Rand, mit Welt und Nichtwelt, mit Etwas und Nichts. Aber die Welt ist keine Scheibe. Die Welt ist nicht ausschliesslich Etwas: Auf der Welt gibt es Stellen von Nichts. Der Wolf ist eine davon.»
Einerseits, weil der Wolf nicht erscheint. Und anderseits, weil sich zum Schluss, als er doch noch auftaucht, zeigt, dass Welt und Worte so wenig deckungsgleich sind wie der Begriff «Wolf» und der reale Wolf, der sich ins Zimmer schleicht. Die Bestie ist nämlich ganz lieb, schüchtern fast – so sanft wie der Puma aus Agota Kristofs drittem Roman «Die Lüge», in dem das wilde Wesen kein Fleisch isst, sondern nur Seelen. Dieser Bezug ist allerdings so zufällig wie nebensächlich, denn Molinari hat sich nicht Kristofs Motive, sondern ihren Stil anverwandelt.

 

 

Stilistische Wahlverwandtschaft
«Das grosse Heft», der erste Roman von Agota Kristofs Trilogie, ist eine ungeheuerliche Parabel auf eine Kindheit im Krieg. Zwei Brüder wachsen bei ihrer Grossmutter auf, allein und verwildert wie Tiere. Sie entdecken die Natur, den Körper der Frauen, den Geschmack der Waldpilze und in einem Bombentrichter die Leiche der Mutter.
Die elternlos gebliebenen Brüder härten ihr Herz ab. Sie schlagen sich, peitschen sich, werfen sich Schimpfwörter an den Kopf, bis sie nicht mehr weinen. Und die mütterlichen Koseworte – «Meine Lieblinge! Meine Süssen!» – wiederholen sie so lange, bis sich die Wörter abgenutzt haben und kein Gefühl mehr wecken. Die beiden werden nie mehr weinen, weder aus Schmerz noch aus süsser Sehnsucht. Sie schreiben alles auf. Krass und schonungslos direkt. Jedes Erlebnis wird von beiden Brüdern aufgeschrieben, dann vergleichen sie ihre Versionen und legen die objektiv härtere Fassung in ihr grosses Heft ab.

 

Sie schreiben nicht: «Der Adjutant ist nett», sondern, sachlich: «Der Adjutant gibt uns warme Decken.» Genau diese Vermeidung von Gefühlen gibt dem Leser Raum, seine eigenen Gefühle beim Lesen auszugraben. Durch den stilistischen Dreh wird «Das grosse Heft» zu einem offenen Heft, zu einem offenen Herzen, in dessen Kammern die verborgenen Wünsche und wehen Erinnerungen des Lesers pulsieren.
Diese Regel befolgt nun auch Molinaris Erzählerin. Anstatt zu schreiben, dass sie den Nachtwächter Clemens gernhabe, räsoniert sie über das Wesen der Wölfe. Heulen, so schreibt sie, würden die Wölfe vor allem, wenn ein Tier, das ihnen nahesteht, das Rudel verliesse. Und bildet sie mit dem Chef, dem Koch und Clemens nicht auch eine Art Rudel? Fest steht: «Wenn Clemens die Fabrik verlassen würde, dann würde mein Heulen am lautesten sein.» Voilà.
Anstatt die eigene Einsamkeit direkt zu benennen, träumt sie von den «Skiapoden», mythologischen Schattenfüsslern, die auf einer fernen Insel unter der erbarmungslos brennenden Sonne leben. Wenn es ihnen zu heiss wird, strecken sie ihren Fuss in die Luft und legen sich in den eigenen Schatten. Sie bleiben stets allein, heisst es, und meiden die Gesellschaft anderer. Mehr und mehr zieht sich die Erzählerin in ihr Zimmer in der Fabrik zurück. Auch sucht sie die Nähe des Mannes, der aus dem Himmel fiel. Sie schleicht sich in den Rumpf eines Flugzeuges am Flughafen, rechnet aus, wie rasch der Mann aufprallte, als er hinunterstürzte. Die Kälte dieses Todes spiegelt sich in den mathematischen Formeln ihrer Berechnung.
Hart und stumm bleibt die Sprache auch, als die Erzählerin endlich das Grab des fremden Mannes findet: «Auf dem Friedhof gehe ich die Grabreihen entlang, gehe Sterbedaten und Lebensjahre ab. Die Lebensjahre sind als Strich zwischen Geburtsdatum und Sterbedatum zusammengefasst. Ein Strich für ein ganzes Leben. Egal ob es aufregend, aufreibend, traurig, verzweifelt, langweilig oder gefährlich war, egal ob es achtzehn oder einundachtzig Jahre dauerte: Der Strich ist immer gleich.» Und dann: «Am Ende einer Reihe finde ich sein Grab. Auf der grünen Tafel fehlt das Geburtsdatum. Es fehlt auch der Strich.»

 

 

Plagiat per Vorwegnahme
Das ist Kristof-Sound pur. Und der macht süchtig. Natürlich entfaltet diese Schreibtechnik bei Molinari neue Wirkungen, die diesem Buch ganz eigen sind. Nämlich im Rahmen einer wortakrobatischen Komik, die die Sätze in kurzen philosophischen Reflexionen auftreten lässt, als wären sie Buster Keaton: «Ich versuche, das Unwichtige vom Wichtigen zu unterscheiden. Ist der Schatten des Vogels, der über den Hallenboden streift, das Wichtige oder ist es der Vogel selbst, den ich vom Stuhl aus nicht sehen kann? Wichtig sind meine Hände, ebenso die Arme und Schultern, der Kopf, die Augen, der Mund. Auch meine Beine sind wichtig. Sie bringen mich vom Tisch zum Bett, von den Ecken in die Hallenmitte, an die Fensterfront.»
So erzielt Molinari surreale Effekte durch Reduktion, während Dorothee Elmiger im thematisch verwandten Roman «Schlafgänger» durch barocke Variationen im migrantischen Milieu etwas Ähnliches erreichte. Sicher gibt es auch zu Elmiger Bezüge, sogar zu Peter Bichsel und natürlich zu Judith Schalanskys «Atlas der abgelegenen Inseln».
Als Leser stellt man solche Bezüge her, um die Faszination des Textes zu verorten. Die deutschen Rezensentinnen und Rezensenten, die sich vor Lob überschlugen, fahndeten vor allem nach Spuren von Füchsen im zeitgenössischen Roman. So bahnt sich jeder seinen eigenen Weg durch das Rätsel, das von Molinaris Debüt ausgeht. Eine Suche, die manchmal so hilflos wirkt wie die Verlockungen des stilistischen Echoraums, der sich in mir öffnet.
Vielleicht hat Gianna Molinari Kristof nie gelesen. Vielleicht auch ist der Roman eine heimliche Hommage, denn im Schweizer Exil arbeitete Agota Kristof wie Molinaris namenlose Erzählerin in einer Fabrik.
Wer Kristof noch nicht kennt, an Molinari Gefallen gefunden hat und traurig ist, weil das Buch zu Ende ging, kann nun, im Nachhinein, das viel früher entstandene Universum von Kristofs Trilogie erkunden. Bei dieser Lektüre dürfte er ein kurioses Phänomen beobachten, für welches der französische Autor Georges Perec einen Namen erfand: das «Plagiat per Vorwegnahme».

 

 

Gianna Molinari

Hier ist noch alles möglich

Aufbau Verlag, Berlin 2018.

190 S., ca. 28 Franken

eBook ca. 16 Franken

https://www.aufbau-verlag.de/index.php/hier-ist-noch-alles-moglich.html

 

Stefan Zweifel ist studierter Philosoph, Übersetzer, Literaturkritiker und Ausstellungskurator. Von 2007 bis 2014 zählte er zum Team des «Literaturclubs» beim Schweizer Fernsehen, die letzten zwei Jahre als Moderator. Er lebt in Zürich (siehe auch Archiv Literatur & Kunst).

 

Erstveröffentlichung «Republik», 4.9.2018 mit freundlicher Genehmigung des Autors.

 

Hier ist der Link zur deutschen Buchpreisgewinnerin Inga-Maria Mahlke «Archipel», und einer Rezension von Insa Wilke, Courtesy DIE ZEIT.

https://www.zeit.de/kultur/literatur/2018-09/inger-maria-mahlke-archipel-roman

 

 

NACH OBEN

Literatur