«C. F. Ramuz: Sturz in die Sonne – Eine visionäre wie literarische Wiederentdeckung»
Von Ingrid Isermann
Dies ist ein ungeheuer aktuelles Buch in Zeiten des Klimawandels in einer nahezu cineastisch bildhaften Sprache. Durch einen Crash im Gravitationssystem stürzt die Erde in die Sonne und strebt ihr entgegen. Was passiert mit der Menschheit?
Die existenziellen Auswirkungen einer Klimakatastrophe sind von Charles Ferdinand Ramuz in seinem Roman «Sturz in die Sonne» so packend und lebendig beschrieben, dass die Lektüre unmittelbar ergreift und ihre visionäre Kraft erhellend entfaltet. Ramuz interessierte, wie Menschen sich verhalten, wenn alles ausser Kontrolle gerät. 1922 stiess der Roman auf kein grosses Echo.
Climate-Fiction? Man denkt an heutige Waldbrände in Kanada, Griechenland, Algerien und im Wallis bis zu den verdörrten Feldern in Südspanien, Indien oder Pakistan. Man nimmt diese Anfänge und Anzeichen zur Kenntnis, auch die grosse Hitze, wenn das Thermometer auf mehr als 38 Grad steigt. Man lebt unter der Schönheit des Himmels, wie Ramuz es so zutreffend beschreibt, «… der Himmel verdrängte alles und man sagte: «Ja, es ist wahr, es ist heiss, aber es ist schön! (…) Unsere Winzer im Lavaux sollten zufrieden sein mit ihrem letzten Jahr!»
«Die grossen Worte, die grosse Botschaft wurde von einem Kontinent zum anderen über den Ozean gesandt. Gehört, allerdings, wurde sie nicht. (…) Alles Leben wird enden. Die Hitze wird unerträglich sein für alles Lebende. Es wird immer heisser werden, und schnell wird alles sterben. Und trotzdem, noch sieht man nichts. Abgesehen von der extremen Trockenheit hatte es bis Ende Juli keine Anzeichen gegeben, zwar vereinzelte Gewitterregen im Juni, das Heu war schön ausgefallen und die Getreideernte gut und üppig. Erst danach wurde die Erde rissig, das Gras vergilbte und wurde knapp».
Ramuz’ Naturbeschreibungen sind atemberaubend schön und lassen die sich anbahnende Katastrophe unwirklich leuchten: «Ein heisser, starker Wind stiess durch die Fenster, die man Tag und Nacht offen liess, von Wolken keine Spur. Nur diese derart grossen Sterne, derart weiss, dass sie den Himmel ganz schwarz machten. Sterne wie Papierlaternen».
Das Leben nimmt den gewohnten Gang wie bisher, man geht im See baden, in einer kleinen Bude wird Gebäck verkauft, aus einem Holzkübel mit Eis ragen Bierflaschen. Der Sand rinnt wie Wasser durch die Zehen, runde, flache oder eiförmige Kieselsteine liegen verstreut am Strand. Die Dampfschiffe auf dem Genfer See «mit ihren weissen Maschinen mit drehenden Schaufelrädern und einem Kamin, der raucht, wie wenn man beim Matratzenmacher die Rosshaare verzupft», sind voll von Leuten.
Die beunruhigenden Nachrichten verbreiten sich mit Schnelligkeit, zunächst von den Redaktionen ungläubig aufgenommen, dann auf den Titelseiten der Zeitungen veröffentlicht, «gehisst wie schwarzweisse Fahnen, Trauerfahnen». Viele Leute sagen, was geht mich das an und glauben die Botschaft nicht. «Am Anfang ist der Entdecker einer Idee mit seiner Idee allein. Die Nachricht wird mit Gleichgültigkeit und Lächeln aufgenommen».
Was neu begonnen hat, ist die Angst, die diese Art Loch im Raum entstehen lässt. Die Leute auf der Strasse spüren eine leichte Unruhe und man fängt an, über den Tod nachzudenken, «…bisher starb doch jeder für sich allein und nun würde sich das ändern, dass alle zusammen… », weiter möchte man aber jetzt nicht denken».
Ein psychologischer Krimi, der in die Zukunft schaut
«Der Verwalter namens Jules Gavillet hatte bis sieben Uhr in seinem Büro gearbeitet und war dann in die Wirtschaft gegangen, hatte einen Blick in die Zeitung geworfen und wie so viele andere mit den Schultern gezuckt. Er hatte keinen rechten Appetit. Niemand hatte viel Appetit in diesen Zeiten. Und Gavillet ass (…) geistesabwesend und dachte an seine Geschäfte».
Das Buch liest sich wie ein psychologischer Krimi, der in die Zukunft schaut, wobei die Zukunft schon begonnen hat, als noch nicht von der globalen Erderwärmung die Rede war. Die grosse Hitze verursacht mehr Luftfeuchtigkeit, was sich in Starkregen und Unwettern niederschlägt, in Bergrutschen und Überschwemmungen, was auch in aktuellen meteologischen Voraussagen zur Sprache kommt.
Schauen, was ist, und hier nichts anderes hintun als das, was ist. «Ich werde noch ein bisschen leben», sagt der Protagonist in Ramuz’ Roman, «ich schaue, solange ich noch kann. Dinge, ich schaue euch an, ich sehe euch. Die Zeit, die vergeht. Nichts hintun als das, was man sieht. Die Dinge ganz sachte geschehen lassen».
In einer meditativen Sichtweise beschreibt Ramuz, wenn etwas nicht mehr da wäre oder überhaupt alles infrage gestellt wäre. «… Er schaut die Dinge an, als ob er sie zum ersten Mal sieht, die Äste eines Baumes heben und senken sich, während sich die Blätter mit jeder Sekunde ein bisschen mehr öffnen, ohne dass man es merkt, das Blatt sich bewegt, das Blatt sich in beide Richtungen um den Stängel dreht, so herum und dann so herum; und noch immer fällt der Tropfen vom Filter, schlägt den Takt der Zeit, wie ein kleines Pendel, das erschöpft war, da es nach und nach alles von sich gegeben hat, was es besass.
Man wendet sich der Sonne zu:«Bist du da?» Sie ist noch da».
In seiner Erzählkunst und formalen Sprachschönheit erinnert Ramuz‘ an die Diktion des Absurden, in die der Mensch existenziell gestellt ist, wie die des späteren Nobelpreisträgers Albert Camus. Ramuz‘ Buch ist der Quantensprung des Klimawandels.
Leseprobe «Sturz in die Sonne» von C.F. Ramuz
XXVIII
So trafen sie im Dorf ein mit ihrer Geschichte, und hatten keine Ohren für die anderen, die man ihnen erzählte. Sie kamen mit ihrer Wut, und die Wut, die sie verspürten, hinderte sie zu sehen, was um sie herum geschah. Gegen Mittag hatte man im Dorf die Glocke geläutet, gegen Abend läutete man sie erneut. Es hatte Erdrutsche gegeben; die heruntergestürzte Erdmasse drohte den Wildbach zu stauen: Eine erste Gruppe Freiwilliger ist aufgebrochen. Und hätte man gut hingehört, hätte man schon diese Art starken Husten vernommen, der von dort kam, wo die Gletscher sind (die man wegen der ersten Hänge nicht gut sah, doch man hätte sie hören können), aber die von der Hütte hatten nichts gesehen, nichts gehört. Sie hatten nur darauf gewartet, dass es Nacht wurde, dachten an nichts anderes als aufzubrechen, was sie auch taten, sobald es Nacht wurde. Mit ihren gründlich geputzten und gefetteten Gewehren zogen sie los. Noch ein Unterfangen der Menschen, noch ein kleines Unterfangen der Menschen zwischen den anderen grossen Unterfangen, denen der Luft, des Wassers, der Erde und des Feuers. Sie legten den am Tag zuvor gegangenen Weg in umgekehrter Richtung zurück; sie legten den am Tag zuvor stellenweise gesprungenen Weg, so schnell hatte es gehen müssen, in gleichmässigen Schritten zurück. Sie folgten einem Gedanken, er steht vor ihnen, sie sahen nur ihn. Als allerdings die Stimme des Wassers da ist, und seine Bedrohung da ist, als der ganze Raum um sie herum sich mit einem Flüstern füllt, als wäre es an sie gerichtet – da bedeckten sich ihre Körper sogar auf dieser Höhe und in der tiefsten Nacht, ganz nah an Schnee und Eis, mit Schweiss. Aber sie dachten nur an den Plan, den sie sich zurechtgelegt hatten. Sie hatten alles gründlich berechnet und durchdacht. Da sie das Gebiet in- und auswendig kannten, hatten sie sich die Posten schon im Voraus aufteilen und zuweisen können: Der eine von ihnen hinter diesem Felsen, der andere hinter jenem Felsen. Einmal angekommen, mussten sie nur darauf warten, dass die Nacht noch ein bisschen weiter auf den Tag zuging. Hinter der Kante der Böschung, wo diesmal sie sich aufhielten, sah man, wie sich am Rand des Himmels etwas Weisses abzeichnete, wie wenn sich auf der Milch ein Häutchen bildet.(…)
40 Grad und mehr auf den Gletschern, aber hier sind wir doch bei uns! Sagen sie sich, ohne etwas zu sagen, weil jeder es für sich denkt, und sie denken es alle gemeinsam. Die Kuh muht, reckt den Hals, lässt die Zunge heraushängen; die Kuh legt sich auf die Flanke, lässt den Kopf zur Seite fallen, während das Horn sich in den Schlamm am Rand des Tümpels drückt.
Vier Uhr nachmittags, fünf Uhr… Man wollte es nicht glauben: Aber man musste doch. Durch die Felswand, die an die Wiesen angrenzt, ging ein Zucken, wie wenn ein Pferd wegen der Fliegen seine Haut zucken lässt.
Und über der Felswand hängt der Gletscher, dessen unterer Teil wie ein in der Luft angehaltener Wasserfall ist: Und es sah aus, als würde dieser Wasserfall wieder hinabzustürzen beginnen.
Die Schründe, die sonst unbeweglich waren und gerade Linien bildeten, krümmten sich in der Mitte wie ein Bogen über dem Knie.
Es war, als würden Hunderte von Artilleriegeschossen gleichzeitig losgehen. Ein grosser Strudel kam auf, und gleichzeitig heftiger Windstoss, der die Männer und ihre Tiere mit beiden Händen packte, sie wild durcheinander die Bergflanke hinunterschleuderte und das Hüttendach wegfegte.
Charles Ferdinand Ramuz (1878-1947), geboren in Lausanne. Nach dem Studium der Klassischen Philologie ging er 1900 erstmals nach Paris, wo er von 1904-1914 lebte. Seine Romane wurden mehrfach verfilmt und er wurde wiederholt als Nobelpreiskandidat gehandelt. 1936 erhielt er den Grossen Preis der Schillerstiftung. Fast sechzig Jahre nach seinem Tod erschienen 2055 zweiundzwanzig seiner Romane in der renommierten Bibliothèque de la Pléiade in Paris.
Der Übersetzer Steven Wyss, geboren 1992 in Thun, studierte Angewandte Sprachen und Übersetzen in Winterthur und Genf sowie Literarisches Schreiben und Übersetzen an der HKB in Bern. 2021 nah er am Goldschmidt-Programm für junge Literaturübersetzer:innen teil. Er lebt und arbeitet als freier Übersetzer in Zürich.
C.F. Ramuz
Sturz in die Sonne
Übersetzt und mit einem Nachwort
von Steven Wyss
Roman
Editions Georg, Genève 1922
Limmat Verlag, Zürich 2023
Geb., 192 S., Leinen bedruckt
CHF 30. € 26.
ISBN 978-3-03926-055-3
Biographie «Brigitte Reimann: Ich bin so gierig nach Leben»
Dieses Buch birgt Zündstoff. Die ausführliche Biographie über die Schriftstellerin Brigitte Reimann stützt sich auf bisher unbekannte Archivmaterialien, zahlreiche Interviews über das kulturelle Leben in der DDR und erhellt die Zeit der 50er bis 70er Jahre. Eine Trouvaille!
Sie war eine Weggefährtin von Christa Wolf, doch ihr Name war hierzulande nur wenigen literarisch Interessierten bekannt, bevor sie ganz in Vergessenheit geriet. Mit nur 39 Jahren verstarb die Autorin an Krebs, die sich mit der DDR schwertat, von der Stasi überwacht wurde und Texte schrieb, die sich heute aktueller denn je anfühlen. Ihre komplexe Lebensgeschichte bietet Stoff für eine deutsch-deutsche Auseinandersetzung und Anlass, sie neu zu entdecken.
Carsten Gansel, Professor für Neuere deutsche Literatur an der Universität Giessen, hat Brigitte Reimann mit einer akribisch umfassenden Biographie aus der Versenkung ans Licht geholt. Ihr unangepasstes Leben einer modernen, selbstbestimmten Frau galt vielen in der DDR als Femme fatale, die sich politisch engagierte und sich dennoch treu blieb nach ihrem Grundsatz «nur nicht schweigen, nur nicht schweigend Falsches mit ansehen, und dadurch es billigen». Während ihre Ehen scheiterten, hielt sie sich in schwierigen Lebenslagen an ihre schriftstellerische Arbeit.
Brigitte Reimann wurde am 21. Juli 1933 in Burg bei Magdeburg geboren. Mit 14 Jahren erkrankte sie an Kinderlähmung, musste ein halbes Jahr auf einer Isolierstation verbringen und beschloss in dieser Zeit, Schriftstellerin zu werden. Nach dem Abitur 1951 arbeitete sie zunächst als Lehrerin. Als Schriftstellerin war sie dem Bitterfelder Weg verpflichtet, nach dessen Leitlinien Autoren angehalten wurden, durch die Arbeit in Industriebetrieben einen engeren Kontakt zum Volk herzustellen. Der vom DDR-Regime propagierten Stilrichtung des Sozialistischen Realismus stand Reimann anfangs positiv gegenüber, und Walter Ulbricht berief die Autorin in die Jugendkommission beim Zentralkomitee der SED. Mit der Zeit veränderte sich nicht nur ihre politische Haltung, sondern auch der literarische Anspruch Brigitte Reimanns, die insbesondere in ihrem postum veröffentlichten umfangreichen Romanfragment «Franziska Linkerhand» (1974) verstärkt mit Formen des assoziativen und subjektiven Erzählens experimentierte.
Während der Jahre 1960 bis 1968 in Hoyerswerda arbeitete sie im VEB Kombinat Schwarze Pumpe. Aus dieser Tätigkeit heraus schrieb sie 1961 den Kurzroman «Ankunft im Alltag», der sich mit den Erlebnissen dreier Abiturienten in einer Arbeiterbrigadebeschäftigt. Das Buch hatte Erfolg und gab der sogenannten Ankunftsliteratur den Namen. Reimann war in dieser Zeit in zweiter Ehe mit dem Schriftsteller Siegfried Pitschmann verheiratet, mit dem sie mehrere gemeinsame Werke schuf. Für ihre Erzählung «Die Geschwister» (1963), die sich mit dem Thema der Flucht in den Westen beschäftigt, erhielt Reimann 1965 den renommierten Heinrich-Mann-Preis.
1965 gibt es keine wirkliche Opposition, die jungen Leute ihrer Generation haben kein Reformprogramm für die DDR, sie fühlen sich im Bunde mit den führenden Genossen, die ihnen die Spielräume eröffnet haben. Das Ministerium für Staatssicherheit in Neubrandenburg hat eine Operative Vorlaufakte (OVA) für Brigitte Reimann angelegt. Sie trägt den Decknamen «Denker», als Tatbestand ist der Paragraph 106 des Strafgesetzbuchs genannt: «Staatsfeindliche Hetze». Als Grund für die OVA wird angegeben, dass «R. als freischaffende Schriftstellerin in Hoyerswerda und Neubrandenburg» laufend durch negative Diskussionen aufgefallen sei.
Von 1964 bis 1970 war sie mit Hans Kerschek verheiratet, den sie in ihren Tagebüchern Jon K. nannte. Ab November 1968 wohnte sie in Neubrandenburg, wo sie, ab 1969 mit dem Hörfunkjournalisten Juergen Schulz befreundet, 1971 den Arzt Rudolf Burgartz heiratete. Hier arbeitete sie, obwohl in ihren letzten Lebensjahren durch eine Krebserkrankung stark beeinträchtigt, an ihrem letzten Hauptwerk «Franziska Linkerhand». Im Februar 1973 starb Brigitte Reimann kurz vor ihrem 40. Geburtstag in Berlin.
Die Biographie beleuchtet auch Brigitte Reimanns regen Austausch mit Autorenkollegen, wie u.a Günter de Bruyn, Reiner Kunze, Margarete Neumann, Erwin Strittmatter oder Christa Wolf. Die politische Situation im geteilten Deutschland und ihre Nachwirkungen bis heute machen das Buch zu einer so aktuellen wie historischen Fallstudie.
Carsten Gansel
Brigitte Reimann
Die Biographie
Ich bin so gierig nach Leben
Aufbau Verlag, Berlin 2023
Geb., 705 S. CHF 43.90
ISBN 978-3-351-03964-6
«Joy Williams: Letzte Generation und andere Stories»
Dreizehn Short Stories der vielfach ausgezeichneten amerikanischen Schriftstellerin Joy Williams (*1944), die in einem Atemzug mit Short-Story-Klassikern wie Carson McCullers oder O’Henry genannt wird und zu den nachdrücklich ökologischen Stimmen in den USA zählt, sind erstmals auf Deutsch zu entdecken. Die Autorin lebt in Key West, Florida und Tucson, Arizona.
Die zwischen 1972 und 2015 in den USA in verschiedenen Medien publizierten Kurzgeschichten entfalten ein Panorama von Lebensentwürfen, die Schritt für Schritt ins Unwägbare und Unvorhersehbare hineinführen, wo das Leben unversehens ausser Kontrolle geraten kann, wie bei «einer Schwimmerin, die mit dem Ertrinken vorankommt», wie es in einer der Geschichten heisst.
Der Prediger Jones in der Auftakt-Story «Liebe», dessen Frau lebensbedrohlich erkrankt ist, wird aus der Routine des Alltags gerissen. Er hat sein Leben lang geliebt, nur hat es anscheinend niemandem genützt: «Jones’ Liebe ist viel zu offensichtlich und weckt Gleichgültigkeit. Er ähnelt einem Tier in einem Wanderzirkus, das aufgrund einer Missbildung ein lebenswichtiges Organ aussen auf der Haut trägt, peinlich und bedauernswert, etwas, das verborgen bleiben und schon gar nicht beim Arbeiten gesehen werden sollte». Weil er an die Macht des Göttlichen glaubt, wendet er sich an seinen Herrn, bis er schliesslich erkennen muss, dass er wohl «stets richtig gehandelt hat, aber es nie zu etwas geführt hat».
Die Short Story «Letzte Generation» wurde ursprünglich in «Escapes», New York, 1990 veröffentlicht und ist aktuell wie die Klima-Aktivisten heutzutage, die sich als Anwälte des Klimawandels verstehen und sich auf Strassen, Plätzen und Bildern in Museen festkleben.
In der Geschichte geht es um den neunjährigen Tommy, der seine Mutter bei einem Autounfall verloren hat und von seinem Vater Walter und dessen Bruder Walter jr. aufgezogen wird. Sie leben in einem zweistöckigen Haus am Fluss mit einer grossen Veranda und Bäumen ringsum. Er lernt Audrey, die vergangene Freundin seines Bruders kennen, die er anbetet. Sie schenkt ihm ein Buch von Eisbergen und erzählt von Seekühen, die es nicht mehr gibt und die schon 1768 ausgestorben sind.
«Jetzt leben wir im einundzwanzigsten Jahrhundert. Dem Jahrhundert der Zerstörung. Die Erde gibt es seit vier Komma sechs Milliarden Jahren, und es dauert vielleicht nur noch fünfzig Jahre, um sie auszulöschen». «Dann bin ich neunundfünfzig», sagte Tommy «und du fünfundsechzig». «Wir wollen nicht dabei sein, wenn die Erde ausgelöscht wird», sagte Audrey, (…) «ich lese gerade ein Buch für Englisch, Sturmhöhe. Da steht alles drin, aber vor allem handelt es von der Rücksichtslosigkeit der Liebe. Emily Brontë hat Sturmhöhe geschrieben. Ich erzähl dir eine Geschichte über sie». «Audrey und ich sind die letzte Generation, und du nicht», sagte Tommy zu seinem Bruder.
Eine Nacht lang erkunden zwei zehnjährige Mädchen einen Zug mit Restaurant, Bar und Zauberbühne und lernen dabei sich selbst und ihr künftiges Leben kennen. Eine junge Frau, ratlos, plötzlich schlaflos, wird von der Faszination für eine nächtliche Radiosendung erfasst, in der, so glaubt sie, alle Fragen ihres Lebens gelöst werden könnten. Von der Gesellschaft geächtet, schliessen sich die Mütter mehrerer verurteilter Mörder zu einem Aussenseiterclub zusammen.
«Eine einzige Story zu schreiben, kostet mich manchmal Monate», sagte Joy Williams in einem Interview, «weil es mir darauf ankommt, dass am Ende jedes einzelne Wort Gewicht hat! Schliesslich geht es darin um so etwas Kompliziertes wie Einsamkeit, Schuld und die manchmal verzweifelte Suche meiner Figuren nach Auswegen daraus».
Eine tiefgründige Lektüre, die lange nachhallt.
Joy Williams
Short Stories
Aus dem Englischen von Brigitte Jakobeit
und Melanie Walz
dtv München, 2. Auflage 2023
Geb., 303 S., CHF 34.90. € 25
ISBN 978-3-423-28321-2
«Käthe Kollwitz: Stellung beziehen» – Publikation und Ausstellung im Kunsthaus Zürich
Die Zeichnungen, Drucke und Skulpturen der Künstlerin Käthe Kollwitz (1867-1945) berühren in einer Unmittelbarkeit, der man sich nicht entziehen kann und die sich tief ins kulturelle Gedächtnis eingeprägt haben. Ihr flammender Aufruf «Nie wieder Krieg» könnte auch heute nicht dringlicher sein.
Käthe Kollwitz, geboren 1867 im ostpreussischen Königsberg, ist eine der bedeutendsten Künstlerinnen des 20. Jahrhunderts. Als erste Frau wird sie zur Professorin der Preussischen Akademie der Künste in Berlin ernannt und erreicht durch internationale Resonanz von Amerika bis China grosse Bekanntheit weit über Deutschland hinaus.
Leben und Wirken der Künstlerin sind eng mit der wechselvollen politischen und historischen Geschichte Deutschlands verknüpft. Vier Jahre ist Käthe alt, als das Deutsche Kaiserreich in Versailles ausgerufen wird. 47-jährig wohnt sie bereits 23 Jahre in Berlin, als sie miterleben muss, wie der Erste Weltkrieg 1914 ausbricht und ihr Sohn Peter auf dem Schlachtfeld sein Leben lässt.
Beim Zusammenbruch der Weimarer Republik, der ersten deutschen Demokratie, ist sie 65 Jahre alt. Die Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler führt in die nationalsozialistische Diktatur. Den Ausbruch des Zweiten Weltkrieges erlebt die 72-jährige Künstlerin 1939, in dem 1942 auch ihr ältester Enkel Peter fällt. Die Kapitulation Deutschlands erlebt sie nicht mehr. Sie stirbt nur drei Wochen vor Ende des Krieges in Moritzburg bei Dresden.
Die umfassende Publikation in Zusammenarbeit des Kunsthauses Zürich mit der Kunsthalle Bielefeld fächert das Leben, den Alltag und Begegnungen von Käthe Kollwitz auf, wie u.a. mit dem Schweizer Maler, Grafiker und Bildhauer Karl Stauffer-Bern, der sie an der Berliner Künstlerinnenschule unterrichtet. «Nur einen Winter habe ich in Berlin bei ihm gelernt», schreibt sie in einem unveröffentlichten Brief von 1927, «aber diese Monate haben den Grund gelegt. Ich danke es ihm (heute) noch, dass wenn ich malen wollte, er immer wieder auf die Zeichnung zurückführte».
Der Band gibt einen aufschlussreichen Einblick in das Schaffen der Künstlerin, die engagiert und mit Zivilcourage ihre Kunst für die Würde des Menschen einsetzt. Geprägt von zwei Weltkriegen, öffnete Kollwitz mit ihren Werken den Blick für das Elend und die soziale Not ihrer Mitmenschen. Mit Emphatie nahm sie sich ihrer Zeitgenossen an und schuf Werke, «die Wirkung in sich schliessen», wobei diese Wirkung bis heute nicht an Intensität verloren hat, den Menschen in seiner Bedrängnis und Ausgesetztheit zu Papier zu bringen.
Das puristische Element der Grafik und die Arbeit in den Kontrasten von Schwarz und Weiss korrespondierten augenscheinlich am besten mit der Strenge und dem Ernst ihrer Motive, wie sie 1922 selbst notierte: «Schmerz ist ganz dunkel». Kollwitz hat auch die Schicksale ihres eigenen Lebens, wie den Verlust ihres Sohnes Peter während des Ersten Weltkrieges in ihr Werk einfliessen lassen.
Interventionen von Mona Hatoum
Das Kunsthaus Zürich zeigt die Werke von Käthe Kollwitz zusammen mit Interventionen von Mona Hatoum (*1952). Die Arbeiten der in Beirut in einer palästinensisch-christlichen Familie geborenen Künstlerin, Trägerin des Roswitha Haftmann-Preises von (Zürich 2004) und des Kollwitz-Preises (Berlin 2010), die der Ausbruch des Bürgerkriegs im Libanon 1975 daran hinderte, nach einem Kurzbesuch in London in ihre Heimat zurückzukehren, zeigen in Plastiken und Installationen eine globale Perspektive.
120 Arbeiten von Kollwitz stehen im Dialog mit den Werken Hatoums im Chipperfield-Bau des Kunsthauses. Hatoums Werk «Remains oft he Day» entwickelte die Künstlerin als Teil einer Serie im Kontext ihrer Hiroshima Art-Prize-Ausstellung von 2017.
Ihre Arbeit «Cellules» besteht aus mehreren stählernen mannshohen Stahlkäfigen, die senkrecht aufgestellt und sich zur Seite neigend, einen diffusen Eindruck von Unsicherheit und Instabilität erzeugen. Innen befinden sich zwei rote Glasobjekte, als wären unspezifische Objekte in einem anthropomorphen Käfig gefangen.
Der «Cube» von 2008 erinnert an Sol LeWitts Ninepart Modular Cube von 1977. Beide Skulpturen bestehen aus einem streng geometrischen Gitterwerk von 9x9x9 aufeinander gestapelten Würfeln, wogegen Hatoums Cube dünn, schwarz und mit Stacheln ausgerüstet ist.
Die Installation «Bourj, Bourj II, Bourj III» erscheint wie das verkohlte Modell eines modernistischen Quartiers. Bourj ist das arabische Wort für Turm.
Die am Boden ausgelegten «Worry Beads» sind eine Art riesiger Rosenkranz, bestehend aus schweren, in Bronze gegossene Kugeln, die Assoziationen an Kanonenkugeln hervorrufen.
Ausstellung 17. August bis 12. November 2023
www.kunsthaus.ch
Publikation
Hg. Kunsthalle Bielefeld, Zürcher Kunstgesellschaft / Kunsthaus Zürich
Käthe Kollwitz – Stellung beziehen
Mit Interventionen von Mona Hatoum
Beiträge von
Jonas Beyer Bild Rhythmus und Geste. Kollwitz und der zeitgenössische Ausdruckstanz.
Jaqueline Burckhardt Mona Hatoum: Apokalypse und Silberstreifen.
Hannelore Fischer «Der Krieg begleitet mich bis zum Ende». Einführung in Leben und Werk von Käthe Kollwitz.
Françoise Forster-Hahn «Germany’s greatest woman artist». Kollwitz «Terrain» in Amerika.
Henrike Mund Aus dem Dunklen. Licht und Schatten im Werk von Kollwitz.
Natascha Kirchner Der klaren Aussage verpflichtet. Zum Verhältnis von Inhalt, Form und Technik in Kollwitz’ Druckgrafik.
Hirmer Verlag
Geb., 240 S., 192 Abbildungen in Farbe
Deutsch und Englisch
24 x 28 cm, Kunsthaus-Shop CHF 54.
ISBN: 978-3-7774-4229-7