FRONTPAGE

«Strohhüttenklischees und historische Realität»

Von Sacha Verna

 

Dinaw Mengestu gehört zur neuen Generation von Autoren mit afrikanischen Wurzeln, die zurzeit die englischsprachige Literatur aufwirbeln. Eine Begegnung mit dem 36-Jährigen und ein Gespräch über seinen dritten Roman «Unsere Namen».

 

Ein junger Amerikaner findet in Paris die Liebe seines Lebens, wird Hausmann und besorgt zunächst ohne, dann mit zwei schnuckeligen Kindern in der Bäckerei um die Ecke jeden Tag die Croissants fürs Frühstück. Das ist kein besonders origineller Plot, zugegeben. Aber gewisse Geschichten schaffen es immer wieder auf die Bestsellerlisten, je autobiografischer, desto eher. Dinaw Mengestu hat auf diesen Stoff verzichtet. Dabei entsprach das Pariser Idyll sieben Jahre lang tatsächlich seinem Leben. Stattdessen erzählt der 36-jährige Autor in seinem neuen Roman von einem Äthiopier im Uganda der 1970er Jahre, der dem Blutvergiessen in die Vereinigten Staaten entkommt, wo er eine weisse Frau und die erst offiziell abgeschaffte Rassentrennung kennenlernt.

 

«Unsere Namen» ist Dinaw Mengestus drittes Buch. Die Romane «Zum Wiedersehen der Sterne» (2007) und «Die Melodie der Luft» (2010) haben Mengestu neben zahlreichen Auszeichnungen einen Platz auf der prestigeträchtigen Liste der zwanzig besten amerikanischen Schriftsteller unter vierzig eingebracht, die das Magazin «The New Yorker» alle zehn Jahre veröffentlicht. Mengestu gilt als eine der führenden Stimme der sogenannten «afrikanischen Diaspora», die Kritikern und Lesern zufolge zurzeit die englischsprachige Literatur aufwirbelt.

 

«Dass wegen einer Handvoll jüngerer Autoren mit afrikanischen Wurzeln so viel Aufhebens gemacht wird, zeigt nur, wie gleichförmig unsere Literaturszene in Wirklichkeit ist», sagt Dinaw Mengestu. Er sitzt, umgeben von Kinderkunst und -chaos im Zimmer für alles der Wohnung, in der er mit seiner Familie in New York gegenwärtig zur Untermiete wohnt. Vor zwei Jahren ist er mit seiner Frau und seinen beiden kleinen Jungen zurück in die USA gezogen, um eine befristete Dozentenstelle an der Georgetown University in Washington DC anzunehmen. Ab Herbst wird er unbefristet und krankenversichert als Professor am Brooklyn College Literatur unterrichten.

 

«Es mag manche überraschen», fährt Dinaw Mengestu fort, «aber die Literatur aus und über Afrika beginnt und endet nicht einfach mit Chinua Achebe». Schriftsteller wie die Nigerianer Chinua Achebe und Wole Soyinka und der Somalier Nuruddin Farah erlangten in den 1960er und 1970er Jahren mit Werken internationales Ansehen, in denen sie sich mit der Auflösung des Kolonialsystems und seiner Folgen auseinandersetzten. «Wir sind die Erben dieser Generation, aber unser Thema ist nicht mehr der Postkolonialismus. Wir befassen uns mit den Auswirkungen der Migration».

 

Dinaw Mengestu wurde in der äthiopischen Hauptstadt Addis Abeba geboren und wuchs in den Vereinigten Staaten auf. Teju Cole («Open City», 2011), wurde in den USA geboren und wuchs in Nigeria auf. Chimananda Ngozi Adichie («Americanah», 2013) pendelt zwischen Lagos und Baltimore, Tayie Selasie («Diese Dinge geschehen nicht einfach so», 2013) hat in Yale studiert und jettet zwischen Ghana, London und dem Rest des Globus umher. «Ausser unserer Hautfarbe haben wir kaum etwas gemeinsam», sagt Dinaw Mengestu über diese etwa gleichaltrigen Autoren, die wie er unter dem «New Africa»-Label firmieren. «Aber es stimmt, dass wir alle mit gespaltenen Identitäten gross geworden sind».

 

Die Erfahrung, mehreren Kulturen zuzugehören, ist keine Eigenart afrikanischer Weltbürger. Besonders Einwanderern aus Afrika scheint man aber in der Erwartung gegenüberzustehen, sie kämen direkt aus einer Strohhütte in der Savanne. «Als ich Isaac erblickte, war mein erster Gedanke, dass er grösser war und gesünder aussah als erwartet. Meine Überraschung erlaubt Rückschlüsse auf zwei Vorurteile, derer ich mir überhaupt nicht bewusst gewesen war: dass Afrikaner erstens klein seien und dass zweitens selbst diejenigen, die die ganze weite Reise in die Collegestadt im Herzen Amerikas angetreten hatten, Anzeichen für Krankheiten oder Unterernährung aufweisen müssten». So beschreibt Helen ihren ersten Eindruck des jungen Mannes, für dessen Betreuung sie als Sozialarbeiterin in den USA zuständig ist.

 

Helens Kapitel spielen im Jetzt von «Unsere Namen», in den 1970er Jahren in einer Kleinstadt im Mittleren Westen. Isaac schildert im Wechsel dazu seine Vergangenheit, die er mit einem Teil seiner selbst in Afrika zurückgelassen zu haben hofft. Dinaw Mengestu erklärt diese Erzählstruktur mit den Parallelen, die er zwischen dem Afrika und dem Amerika jener Epoche sah: «Dort die Ernüchterung, die auf den pan-afrikanischen Idealismus nach dem Abzug der Kolonialmächte folgte, hier die enttäuschten Hoffnungen der Bürgerrechtsbewegung nach der Ermordung von Martin Luther King Jr. und angesichts der Tatsache, dass das Wahlrecht die Armut der Schwarzen und ihre gesellschaftliche Diskriminierung nicht einfach eliminiert hatte».

 

Isaac, der diesen Namen von seinem einzigen, besten und verlorenen Freund übernommen hat, bleibt ein Schatten. Er beobachtet die zunehmende Gewalt, in die er als Möchtegern-Student in Kampala verwickelt wird, hält sich aber immer bedeckt. Helen versucht dem Fremden, in den sie sich verliebt, Konturen zu verleihen und realisiert nur allzu bald, wie schmerzhaft Wissen sein kann. «Ich bevorzuge Figuren, die sich emotional zurückhalten», so Dinaw Mengestu. «Als Schriftsteller fühlt man sich als Teil der Welt und versucht zugleich, sich selber aus der Welt herauszuhalten, die man beschreibt». Auch Isaac möchte Schriftsteller werden.

«Unsere Namen» handelt vom prekären Zustand der Heimat- und Ichlosigkeit und davon, wie die historische Realität Beziehungen zwischen Menschen bestimmt. Es geht darin auch ums Erfinden von Geschichten. «Wir können alles über einen Menschen wissen und ihn doch nicht kennen», sagt Dinaw Mengestu. «Erst indem wir einander erlauben, neue Geschichten für uns zu erfinden, gelangen wir zu dem, was uns wirklich ausmacht und was uns hilft, andere zu verstehen».

Schwierig erweist die Selbst- und Neuerfindung allerdings, wenn einem bereits eine Rolle zugedacht ist. Isaac war in Afrika wie jeder andre. In Amerika wird er zum Schwarzen unter Weissen. Seine Affäre mit Helen findet heimlich statt, spätnachts und in Motelzimmern. Der Versuch, im örtlichen Diner gemeinsam zu Mittag zu essen, verdirbt beiden den Appetit auf ähnliche Unternehmungen. Dinaw Mengestu ist ein zu subtiler Autor, um derartige Szenen unnötig auszuwalzen. Auf den Rassisten in sich stösst man ohne seinen Zeigefinger. In Uganda wird Isaac Zeuge davon, wie ein Häufchen verängstigter Dorfbewohner ein Häufchen verängstigter Flüchtlinge abschlachtet, um nicht selber von Rebellen oder Regierungstruppen umgebracht zu werden. Auch da vermeidet Mengestu das effekthascherische Ausrufezeichen des «Seht her, wozu der Mensch fähig ist!». Was er zeigt, ist die Gnadenlosigkeit menschlicher Verzweiflung.

Dinaw Mengestu hat Taschentücher zur Hand. Das liegt allerdings an den Allergien, die ihn gerade quälen und nicht an den Themen, mit denen er sich bisher befasst hat – Nationalismus und Vertreibung, Assimilation und Desillusion, Träume und Traumata. «Heavy stuff», räumt er ein, ernstes Zeug. Dabei rührt er ungefähr fünf Löffel Zucker in einen Fingerhut Kaffee. Wo er sich das Leben versüssen kann, tut er es. Mengestu hat keineswegs die Absicht, sich literarisch bis ans Ende seiner Tage mit migrationsbedingten Identitätskrämpfen herumzuschlagen. «Ich habe gerade erst etwas Neues begonnen, und bisher kommen darin keine Einwanderer vor», sagt er. Auch kein Daddy in Paris. «Aber was nicht ist, kann noch werden». Ein potentieller Bestseller, garantiert.

 

(Erstveröffentlichung Tages-Tages, mit freundlicher Genehmigung der Autorin)

 

 

 

Dinaw Mengestu
Unsere Namen
Roman.

Aus dem Amerikanischen von Verena Kilchling.
Kein & Aber Verlag, Zürich 2014.
336 S., CHF 29.90. 22.90 €.

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