FRONTPAGE

«Ich sehe meine Romane als Häuser»

Von Sacha Verna

 

Der Tisch, an dem Nicole Krauss «Das grosse Haus» geschrieben hat, ist ein Monstermöbel: riesig, aus dunklem Holz und mit einem bedrohlichen Überbau aus zahllosen Schubladen, die zu verschlingen scheinen, was man hineinlegt.

 

«Ich mag das Ding nicht», sagt die 37- jährige Autorin, «aber ich habe es vom früheren Besitzer meines Hauses geerbt, und es ist so in die Wand hineingebaut, dass man es in Einzelteile zerhacken müsste, um es abzutransportieren. Das wäre viel zu aufwendig und überdies eine Verschwendung».
Das Backsteinhaus, in dessen oberstem Zimmer der Schreibtisch steht, befindet sich in Park Slope, jenem schickem Viertel in Brooklyn, das sich in den vergangenen zehn Jahren zur Lieblingsgegend der New Yorker Intelligentsia mit Familienanhang entwickelt hat. Nicole Krauss hingegen befindet sich an diesem verschneiten Tag in Manhattan. Sie sucht nach einem ruhigen Café für das Interview, das sie wie alle Interviews nur fern von daheim zu geben bereit war: «Ich lade Journalisten nie zu mir nach Hause ein», erklärt sie, während sie in ihren kniehohen schwarzen Gummistiefeln durch einen Matschtümpel watet. «Es verleitet sie dazu, über meine Familie und mein Privatleben zu schreiben, über Dinge, die ich von meiner Arbeit getrennt halten möchte».
Der Hauptgrund für diese Zurückhaltung ist ihr Mann. Nicole Krauss ist mit Jonathan Safran Foer verheiratet, dem Autor u.a. des von Liev Schreiber verfilmten Weltbestsellers «Alles ist erleuchtet». Zusammen bilden sie die Entsprechung von Brangelina in Literaturzirkeln, das von Klatsch, Küsschen und Klischees verfolgte Starpaar der Szene – wenn auch erst mit zwei kleinen Kindern, und wenn auch Nicole Krauss bislang immer ein bisschen weniger Rampenlicht abbekam als ihr illustrer Gemahl. Dabei war schon ihr letzter Roman «Die Geschichte der Liebe» (2005) ein internationaler Erfolg. Mit «Das grosse Haus»,nominiert für den National Book Award, dürfte sich Nicole Krauss nun von der «Frau von» endgültig zu Nicole Krauss, Punkt, emanzipiert haben.
«Das grosse Haus» ist Nicole Krauss’ dritter Roman. Der Schreibtisch, an dem sie ihn verfasst hat, spielt darin eine zentrale Rolle. Oder genauer: Das ungeliebte Möbelstück hat sich seine Rolle darin erschlichen: «Vor einigen Jahren schrieb ich eine Kurzgeschichte für ‘Harper’s’ über einen chilenischen Dichter, der einer New Yorker Schriftstellerin seinen Schreibtisch zur Aufbewahrung hinterlässt», sagt Nicole Krauss, inzwischen im Trockenen und Warmen. «Die Geschichte wurde später in eine Anthologie aufgenommen, und während ich die kurze Einleitung dazu schrieb, um die man mich gebeten hatte, merkte ich plötzlich, dass ich ja an dem Tisch sass, von dem die Geschichte handelte». Es passiere häufig, dass Gegenstände und Ereignisse aus ihrem Leben einen Weg in ihr Schreiben fänden, ohne dass sie sich dessen bewusst sei: «Natürlich ist die Entsprechung nie eins zu eins. Aber ich erkenne die Dinge wieder und erschrecke ein wenig, denn ich würde die Motive und Themen in meiner Arbeit nie absichtlich aus meinem Leben beziehen».
Der chilenische Dichter und die New Yorker Schriftstellerin aus der Kurzgeschichte stellen nun einen der vier Erzählstränge in «Das grosse Haus» dar. Der Schreibtisch verbindet sie mit den übrigen Protagonisten des Romans, die alle direkt oder indirekt mit dem Koloss in Berührung kommen. Arthur zum Beispiel, der nach dem Tod seiner Frau herausfindet, dass es sich bei dem Möbel nicht um die einzige Spur aus Lottes stets totgeschwiegener Vergangenheit handelt. Oder Isabel, die mehr und mehr in den seltsamen Alltag ihres Freundes Yoav eintaucht, der seinerseits ein Dasein ganz im Bann seines Vaters, des mysteriösen Antiquitätenhändlers Georg Weisz führt.
«Ich sehe meine Romane als Häuser», sagt Nicole Krauss. Nicht, dass sie über einen festen Bauplan verfüge: «Vielmehr gestalte ich Zimmer um Zimmer, öffne Tür um Tür und gerate so von einer Geschichte zur nächsten».
Als Schriftstellerin bewohne sie diese Häuser: «Im Grunde sind sie die einzigen Orte an denen ich mich wirklich zuhause fühle. Meine Familie kommt aus so vielen Ländern, dass so etwas wie ‘Heimat’ für mich eigentlich nicht existiert». Krauss’ Grosseltern stammen aus Deutschland, der Ukraine, Ungarn und Weissrussland. Ihre Mutter wurde in England geboren, und ihr Vater wuchs in Israel auf. «Dass ich einen Grossteil meiner Kindheit auf Long Island verbracht habe und nun in Brooklyn lebe, erscheint mir manchmal eher wie ein Zufall.
Umzüge machen mir keine Angst – im Gegenteil: Ich finde die Vorstellung, morgen irgendwo anders aufzuwachen, sogar sehr reizvoll».
Als Nicole Krauss noch ehemann- und kinderlos war, zog sie tatsächlich quer durch die Welt, von Genf bis nach Jerusalem. In Oxford studierte sie Kunstgeschichte, nachdem sie in Stanford bereits ein Literaturstudium abgeschlossen hatte und sich einen Namen als junge Dichterin zu machen begann. Kein geringerer als der früh verstorbene Joseph Brodsky war dabei ihr Mentor. Dass sie die Lyrik zugunsten der Epik aufgab, hat Krauss jedoch nie bereut: «Das war eine ganz natürliche Entwicklung. Mit dem Roman hatte ich endlich die Literaturform gefunden, in der ich den Dingen einen Sinn abgewinnen konnte, eine Form, in der ich verbinden konnte, was mir zuvor disparat erschienen war». 2002 wurde Krauss’ vielbeachtetes Debüt «Kommt ein Mann ins Zimmer» veröffentlicht – ihr erstes Haus, ihr erstes richtiges Daheim.
Zuvor hatte Nicole Krauss allerdings bereits draussen in der Welt ein Zimmer entdeckt, in dem sie sich zuhause fühlte: «Ich lebte einige Jahre in London. Es war eine merkwürdige Zeit, ich war wohl ein wenig melancholisch. Aus irgendeinem Grund zog es mich immer wieder in Sigmund Freuds Arbeitszimmer in dessen Haus in Hampstead». Dieses Zimmer im heutigen Freud Museum wurde in genau dem Zustand belassen, in dem es war, nachdem Freud es zum letzten Mal betreten hatte: «Und es ist die exakte Kopie des Arbeitszimmers, das Freud in Wien auf der Flucht vor den Nazis verlassen musste». Besucher würden dazu angehalten, den Gang durch das Haus als Tour durch Freuds Denken zu betrachten: «Mir leuchtete das ein. Freud war schliesslich der grosse Erforscher des Denkens, so dass die Vorstellung von seinem Haus als Gedankengebäude und von Zimmern, in denen man neue Gedankengebäude erschaffen kann, naheliegt».
Metaphern durchziehen Nicole Krauss’ Art zu sprechen und ihr Schreiben. Selbst der Titel ihres neuen Romans ist eine Metapher. «Das grosse Haus» hiess die Schule von Rabbi Jochanan ben Zakkai, der auf die Frage, wie die Juden nach der Zerstörung des Tempels weitererexistieren könnten, antwortete: «Verwandle Jerusalem in eine Idee. Verwandle den Tempel in ein Buch, das so gross, so heilig und so komplex ist wie die Stadt selbst». Diese Idee brachte den Talmud und die Talmudschulen hervor. Die Vorstellung davon, wie man sich aus dem Nichts neu erfinde, habe sie immer schon fasziniert, sagt Nicole Krauss: «Woraus konstruieren wir uns eine kohärente Identität? Wie gehen wir vor, wenn wir uns radikal neu erschaffen, wenn wir eine neue Geschichte für uns erfinden müssen?» Nicole Krauss baut fiktive Häuser. Für sich selber und für die Leser, die sich, so hofft sie, dereinst darin einrichten werden.

 

Nicole Krauss, * 1974 in New York, studierte Literatur in Stanford und Oxford sowie Kunstgeschichte in London. Sie debütierte 2002 mit «Kommt ein Mann ins Zimmer» als Romanautorin. Mit ihrem zweiten Roman «Die Geschichte der Liebe» gelang ihr ein beachteter internationaler Erfolg. Sie lebt mit ihrem Mann, dem Schriftsteller Jonathan Safran Foer, und zwei Kindern in New York. 2007 war Nicole Krauss Fellow der American Academy in Berlin, wo sie an ihrem dritten Roman «Das grosse Haus» schrieb.

 

 

«Das grosse Haus»
Nicole Krauss. Roman. Aus dem Amerikanischen von Grete Osterwald. Rowohlt Verlag, Reinbek 2011. 384 S., CHF 30.50.

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