FRONTPAGE

«Anne Carson: Anthropologie des Wassers»

Von Ingrid Isermann

 

Ein Mann und eine Frau pilgern auf dem Jakobsweg nach Santiago de Compostela und reisen durch die Rocky Mountains nach Los Angeles. Subtile Erkundungsreisen, in denen sich poetische, surreale Stimmungs- und Landschaftsbilder spiegeln und auch die Verschiedenheiten der Geschlechter offenbaren.

«Seit uralten Zeiten pilgern die Menschen von Ort zu Ort in dem festen Glauben, dass eine Frage aufbrechen kann in eine Antwort wie Wasser und Durst».

 

Anne Carsons Worte und Gedanken fliessen assoziativ wie ein Flusslauf durchs Gebirge der Emotionen und schaffen so en passant eine Anthropologie der Geschlechter. Die Klangfarbe ihrer poetischen Prosa, ihr subtiler Humor und die Atemräume, die sich dazwischen auftun, sind unmittelbare Momentaufnahmen des Staunens über das Leben. Die Anthropologie des Wassers ist eine kleine Kostbarkeit, mit einer Sprache, die schlichtweg verzaubert.

 

 

Nach Pamplona, 23. Juni
Einige Wasserarten ertränken uns. Andere nicht. Der Wassersack auf meinem Rücken begleitet jeden Schritt mit einem Spritzer. Das Gedankenbassin in mir kippt mal hierhin, mal dorthin. Sokrates kam nach dem Bad ohne Eile in seine Zelle zurück und trank den Schierling. Die Übrigen weinten. Schwäne schwammen herein und um ihn herum. Und so sprach er von seiner bevorstehenden Reise an einen unbekannten Ort, fern ihrer Tränen, die er nicht verstand. Menschen verstehen wirklich sehr wenig voneinander. Manchmal, wenn ich mit ihm spreche, guckt Mein Cid mir scharf und geradewegs ins Gesicht, als ob er darin etwas suchen würde (eine Stadt auf einer Landkarte?), wie jemand, der von einem Stern herabgetrudelt ist. Aber er ist keiner, der sich je fremd fühlt, glaube ich. Er lebt in einem kleinen Reich der Hoffnung, seinem Herzen. Wie Sokrates versteht er nicht, wie es kommt, dass Reisen die Herzmuskeln anderer so strapaziert. Schliesslich liegt hinter jeder Biegung des Wegs eine Stadt aus Gold, oder etwa nicht?
Ich gehöre zu jener Art, die sagen würde, nein, wahrscheinlich nicht. Und so laufen wir Schulter an Schulter, jeder in seinem Reich.
Pilger waren Leute in einem ausgeklügelten Exil.

 
Nach Santiago de Compostela, 23. Juli

Bei einer ruhenden Seegurke ist es nicht leicht zu sagen,

welches Ende welches ist.

  Mukai Kyorai

Deine Stimme kenne ich. Das machte mich panisch. Wenn ich sie in meinen Träumen höre, manchmal in meinem Leben, klingt sie wie Hohn, aber Träume verfälschen den Ton, denn sie schicken ihn über viele Wasser. Auf derlei Betrachtungen verschwende ich, Pilgerin, meine Gedanken in diesen harten Tagen. (…) Woraus bestehen wir, ausser aus Hunger und Wut? Seine Fersen gehen vor mir auf und nieder. Wie verwundert ich bin, dass ich mich vom Wissen eines anderen Tieres verstricken lasse. Ich kenne das Tier. Heisst das, dass ich mich ihm ausliefere? Was meint kennen? Diese Frage hat niemand aufgeworfen, dabei bin ich von Ort zu Ort gegangen und habe alles, was gesagt wurde, beobachtet und notiert. Irgendwann hatte ich den Verdacht, es gäbe einen geheimen Code. Das machte mich panisch. Warum? Es trieb mich in die Nische, doch warum? Weil es einem umtreibt.

Was dich umtreibt, überlasse ich dir. Was ich erkenne, ist gelebte Liebe, die ich kaum anzuschauen wage, ausser in Träumen.  (…)
Inwiefern ist ein Pilger wie ein Schmied? Er vermag das Eisen zu biegen. Liebe biegt ihn.

 
Kansas, Route 6
Licht hüpft die Mauer entlang. Wir fuhren westwärts, vor uns die grenzenlos grüne Horizotgrenze. Überwolkengrosse Wolken. Ich staune über das Grün. Warum es so schmerzt wie der Klang in einem Glas. Ich kann erkennen, wie das Grün noch zweihundert Meilen entfernt jeden Halm in die Höhe treibt. Aber der Kaiser ist heute in historischer Stimmung. Er erzählt mir alles über die Amerikanische Erfahrung.
Als um 1880 die ersten Siedler den 80. Breitengrad in Kansas erreichten, wussten sie, dass es hier trocken sein würde, doch da sie glaubten, dass man durch Beten das Klima beeinflussen kann, was ja auch zehn Jahre oder so tatsächlich funktionierte, gaben sie ihren Städten Namen wie Burma und Memphis und belachten das Licht. Dann drehte der Wind. Eine Vorahnung des unsterblichen Diamanten streifte sie, entflammte sie wie Schwefelhölzer! Das sagt er nicht so, aber ich weiss es. Denn ich beobachte, wie die Pflanzen um die Mittagszeit schwitzen, mich anfallen und meine Gedanken durch den Raum klatschen. So eine bin ich, jene drei Dinge.

 

 

Marthasville, Missouri
Was eigentlich wollen Männer? Sie reden von Lust. Erst werden sie wild, dann schlaff, dann schlafen sie ein. Habe ich da etwas nicht verstanden?
Chinesische Weisheit unterscheidet fünf Zustände des Begreifens. Etwas ist anders. Etwas ist genau gleich. Etwas ist fast genau gleich. Etwas ist ganz genau nur das, was es ist, und nichts anderes. Etwas ist.
Zustände zum Beispiel sind im Grunde wie Wasser. Wasser ist im Grunde wie männliche Lust. Und männliche Lust ist im Grunde anders als weibliche. Ein Missouri-Gewitter, das über die Hirsefelder rast und mit seinen Riesendrachenklauen den schweren Himmel aufreisst, ist nichts anderes, sondern ganz einfach genau das, was es ist – vielleicht bleibst du stehen und beobachtest einen halben Tag lang, wie es näherkommt, und weißt am Ende doch nicht, ob es ganz nah ist oder ganz weit weg, und vielleicht siehst du, wie es plötzlich in sich zusammenfällt und sich umstandslos, wie Wasser in Luft auflöst. Die Luft ist dunkel. Das Radio knistert. Standin’ in the rain, singt Robert Johnson; Ain’t a drop fell on me. Stimmt es, dass Männer Frauen darum beneiden, wie sie lieben? Langsam und beseelt, so beschreibt es der Kaiser. My clothes is all wet. Manchmal schliesst er die Augen und sagt: «Mach mich zu deiner Schlampe». But my flesh is dry as can be.

 

 

Anne Carson
Anthropologie des Wassers
Aus dem amerikanischen English und
mit einem Nachwort von Marie Luise Knott
und einer Umschlagzeichnung «Windstirche»
von Nanne Meyer
Matthes & Seitz, Berlin 2014
130 S., gebunden mit Schutzumschlag
CHF 27.90. € 19.90.
ISBN: 978-3-95757-007-9

 

 

Anne Carson, geboren 1950 in Toronto, zählt im englischsprachigen Raum zu den bedeutendsten Dichterinnen der Gegenwart. Sie ist Homer-Spezialistin, Sappho-Übersetzerin und Sophokles-Kennerin. Ihr von Formwillen und Durchlässigkeit geprägtes, umfangreiches poetisches Werk wurde u.a. mit dem T.S. Eliot-Preis für Poesie (2001) ausgezeichnet.


 

«Friedrich Dönhoff: Die Geschichte des Jerry Rosenstein»

 

Friedrich Dönhoff war auf Literatur & Kunst schon zu Gast (siehe Archiv). Nun hat er die wechselvolle Lebensgeschichte von Jerry Rosenstein (86) nachgezeichnet, der Auschwitz überlebte und in San Francisco ein neues Leben begann. Mit dem 40 Jahre jüngeren Friedrich Dönhoff macht Rosenstein eine Reise auf den Spuren der Vergangenheit.

 

Zwei Generationen liegen zwischen ihnen, eine Freundschaft verbindet sie: Friedrich Dönhoff (45) und Gerald B. Rosenstein, genannt Jerry (86). Im Sommer 2013 reisen sie im Auto von Amsterdam nach Bensheim in Hessen, auf den Spuren von Jerrys Kindheit und Jugend. Wenige Wochen später treffen sich beide in San Francisco, wo Jerry seit 1949 wohnt. Denn Jerry will erzählen. Nachdem er sein Leben lang allen Fragen ausgewichen ist, die seine Vergangenheit betrafen, möchte er nun berichten, was er als Jude in Deutschland, Holland und Auschwitz durchgestanden hat – und wie er später in den USA zurechtgekommen ist und seine innere Freiheit fand. In Friedrich Dönhoff hat er einen aufmerksamen Zuhörer, der seine Geschichte ohne Pathos, aber mit viel Feingefühl nachzeichnet.
Dönhoff verwebt die Passagen der Kindheit und Jugend in Hessen mit dem Besuch in der alten Heimat, sucht mit Jerry Rosenstein die Stätten seiner frühen Kindheit auf, wo er 1927 zur Welt kam. 1936 flüchtet die Familie mit den drei Kindern nach Holland, ohne zu ahnen, dass die Nazischergen sie 1940 dort einholen würden. Die Familie wird deportiert, die Jahre in Theresienstadt und Auschwitz zu beschreiben, muss für den heute 86-jährigen eine Tortur gewesen sein, doch Rosenstein ist mit Contenance und Souveränität über diese schwere Zeit hinweggekommen, weil er statt Hass in sich zu schüren, die Vergebung gelebt hat.

 

Der Hass zerstört den Menschen selbst, meinte er, und dennoch ist dieser Weg wohl mit der schwerste. Dönhoff versteht es, einfühlsam und mit grosser Empathie diesen Lebensweg zu begleiten, einen der letzten Augenzeugen, der gerade deshalb darüber sprechen möchte. Das Buch liest sich flüssig und ist in tiefgründiger Weise eine Dokumentation des Überlebens des Grauens. Jerry Rosenstein liess sich nicht unterkriegen, weder als Jude in Europa noch als Homosexueller in Amerika. Er überlebte Auschwitz und erkämpfte sich später finanzielle, sexuelle und geistige Freiheit.

 

 

«Sommer 2013. Jerry ist von San Francisco zu Besuch nach Europa gekommen. Kennengelernt haben wir uns im vergangenen Jahr über gemeinsame Freunde. Wir sind miteinander im Gespräch geblieben. Jetzt wollen wir zusammen auf den Spuren seiner Vergangenheit reisen. Auf den Spuren jener Zeit, als er und seine Familie verfolgt wurden. Wir treffen uns in Hamburg, wo ich wohne und genau vierzig Jahre nach Jerry geboren bin, im Jahr 1967, in einer Zeit des Friedens. In meiner Familie gab es Anhänger wie Gegner der Nationalsozialisten, und solche, die sich irgendwie dazwischen bewegten. Mich interessiert diese Zeit und der Umgang mit den Folgen. Bei Jerry kommt noch etwas hinzu. Ich frage mich: Wie schafft er es, ein Leben ohne Hass und Bitterkeit zu führen, wo er doch in jungen Jahren so viel Unmenschliches und Grausames gesehen und erlebt hat? Wie schafft er es, nach dem Holocaust den Menschen noch so zugewandt zu begegnen? «To survive the survival», hat Jerry neulich auf Englisch gesagt – darauf komme es an: auf das Leben nach dem Überleben».

 

 
Friedrich Dönhoff
Ein gutes Leben ist die beste Antwort
Die Geschichte des Jerry Rosenstein
Diogenes Zürich, 2014
Hardcover Leinen, 192 S.,
CHF 28.90. € 19.90
ISBN 978-3-257-06902-0

NACH OBEN

Literatur