FRONTPAGE

Jonas Lüschers Roman «Kraft»: Leben lassen

Von Philipp Theisohn

 

Jonas Lüscher verhandelt in seinem neuen Roman die Frage, was das Private mit dem Politischen zu tun hat. Er kommt zu einem erstaunlichen Ergebnis mit allerdings literarisch etwas flach geratenen Figuren.

Auf einmal, auf den letzten Seiten, drängt sich unversehens die Gegenwart in den Text. Bertrand Ducavalier, ein Veteran der alten französischen Linken, beschwört den «Zerfall der Europäischen Union, die Rückkehr des Nationalismus, die neue Salonfähigkeit des Rassismus und der Bigotterie, die demokratisch gewählten Despoten, die ihre Länder, mit Einverständnis der Bevölkerung, in Diktaturen transformieren». Es ist ein apokalyptisches Szenario, ausgefaltet in einem nicht enden wollenden Aufzählungsfuror.

Ducavalier ist zweifellos eine der interessanteren Figuren in Jonas Lüschers neuem Roman «Kraft». Recht unmittelbar scheint sie dem Fragehorizont entstiegen zu sein, vor dessen Hintergrund Lüscher im vergangenen Oktober mit Peter Stamm aneinandergeraten war. Lüschers Vorwürfe, man erinnert sich, richteten sich damals gegen Stamms vorgebliche Degradierung politisch engagierter Literaten zu Poseuren. Im Gegenzug stellte Lüscher der sich ausbreitenden gesellschaftlichen Sehnsucht nach Reinheit den Intellektuellen gegenüber, der sich die «Finger schmutzig macht»: den Polemiker. Einen wie Bertrand Ducavalier.

Bei Licht besehen jedoch erweist sich dieser Mensch als ein Rollenspieler. Natürlich wird jemand, der sich über den Weltzustand so uferlos empört, niemals das Preisgeld von einer Million Dollar erhalten, das ein Investor für eine zeitgemässe Beantwortung der Theodizeefrage ausgesetzt hat. Gegenüber seinen dienstwilligen geisteswissenschaftlichen Kollegen erscheint Ducavalier nun als Renegat.
Was ihn von diesen trennt, ist aber keinesfalls echte Empörung, sondern allein der Umstand, dass er sich die profilbildende Attitüde des kritischen Geistes leisten kann. Finanziell bestens abgesichert, hat Ducavalier das Geld nicht nötig. Der aus Tübingen nach Stanford gereiste Rhetorikprofessor Richard Kraft hingegen schon.

 

 

Das Private ist politisch
Krafts studentische und akademische Vita bildet somit die Kulisse für eine bedenkenswerte wie bedenkliche These: Die Antwort auf die Frage, ob die Welt, so wie sie geschaffen wurde, auch gerechtfertigt sei, hängt in erster Linie von der Zufriedenheit des Einzelnen ab. Und zwar unter umgekehrten Vorzeichen: Wem es zu gut geht, der muss das Elend um sich herum nicht wegargumentieren.
Wer umgekehrt nach irgendeinem Weg sucht, sich von den ermüdenden Familienverhältnissen freizukaufen, der sieht noch in jedem Atombombenabwurf höhere Mächte am harmonischen Walten und heult zur Not auch mit den Wölfen des Silicon Valley. Auf eine sehr verquere Weise ist das Private in der Tat politisch – und Lüschers Roman wird nicht zuletzt davon getrieben, die Verbindungen zwischen den historischen Zuckungen der Macht und dem halbgaren Lebensentwurf seines Protagonisten herzustellen.

Und «Lebensentwurf» ist vermutlich der einzig richtige Ausdruck für diese Existenz, hegt Kraft doch nur Überzeugungen, um sie vor sich herzutragen. Seine politische Identität als Ordoliberaler und Thatcherist gewinnt er nur aus einem Distinktionswunsch heraus, seine private Identität als Familienvater aus Prestigebewusstsein. Seine intellektuelle Identität schliesslich entpuppt sich als ein (bisweilen recht enervierend vor dem Leser ausgekippter) Zettelkasten aus Zitaten und Versatzstücken, als ein einziger Sophismus.
So erfolgreich sich diese Hülle von Mensch auch durch die Welt bewegt, so widerstandslos muss sie sich letzten Endes dem Gründer des «Amazing Future Fund» ergeben. Dieser verfügt zwar weder über rhetorische Mittel noch über tragfähige Argumente, ist dafür aber von sich und seinem gesellschaftspolitischen Anliegen zutiefst überzeugt.
Man könnte «Kraft» somit als Chronik einer Kapitulation lesen. Als Allegorie ist sie im Roman deutlich erkennbar: Der stolze Kajakfahrer, der eben noch im Stanford-Shirt die Corkscrew Slough zu bezwingen sich anschickte, erleidet Schiffbruch, verliert erst das Handy, dann die Hose, dann seine Kräfte – und aus Stolz wird Scham. Die aufgesetzte Persönlichkeit des europäischen Bildungsbürgers zerfällt Stück für Stück im Angesicht einer sich selbst evidenten amerikanischen Autorität (als deren Ikone der Roman gleich im ersten Absatz ein Porträt Donald Rumsfelds auffährt).

 

 

Eine Welt im Mittelmass
Allegorisch funktioniert das. Aber lässt sich diese Allegorie auch schlüssig erzählen? Eines der Grundprobleme dieses Textes, so stellt sich bei näherer Betrachtung heraus, liegt im Missverhältnis von Charakter und Geschichtlichkeit. Die Figur Kraft hat durchaus etwas zu bieten: einen ihm unbekannten Sohn, zwei gescheiterte Ehen, die Freundschaft zum ungarischen Dissidentendarsteller István Pánczél, Begeisterung für Lambsdorff und Hamm-Brücher.
Man kann ein solches Leben durchaus mit Witz und Tragik füllen. Wo sich Lüscher darauf einlässt, spürt man auch das Potenzial der von ihm entworfenen Welt. Dessen ungeachtet bleibt es eine Welt im Mittelmass, eine Welt der kleinen Geschichten, die sich grosse Taten gerne einbildet, aber niemals begeht. Gerade deswegen aber kippt der Roman zuverlässig genau dort, wo er die kulturhistorische These sucht, nicht nur immer wieder ins Pathos: Er ergeht sich auch in Posen, in Erzählgesten, die man ihm nicht abnimmt, und folgt hierin dem Vorbild seines Protagonisten.
Das gilt allemal für die überzogenste Szene des Textes, das Zusammentreffen Krafts mit seinem ihm noch unbekannten Sohn auf der Berliner Mauer am 9. November 1989. Das gilt aber auch für die Anbahnung der grossen Konfliktlinien zwischen Kontinentalphilosophie und Digitalität, über die Kraft so klischiert wie unterkomplex räsoniert.
Und es gilt vor allem anderen für den Schluss, für Krafts Suizid, über dessen seltsame Motivationslosigkeit man lange nachsinnen darf, um immer wieder zum gleichen Ergebnis zu gelangen: Die Tat widerruft den Charakter. Natürlich kann sich eine Figur ohne jedweden Anlass mit völliger Gefasstheit vor laufender Webcam umbringen. Aber so jemanden schickt man dann doch nicht erst jahrzehntelang durch eine Schule lauwarmer Persönlichkeitsbildung.

 

Aus der Geschichte geworfen
Am Ende des Romans regt sich somit der Verdacht, dass der Erzählfaden, der das Professorenschicksal mit der Theodizee verknüpfen sollte, längst gerissen war, bevor Richard Kraft sich an ihm erhängen konnte. Die grosse und die kleine Welt, sie fallen auseinander. Das liegt nicht nur in der Logik dieses Textes; schon der Plot von Lüschers novellistischem Debüt «Frühling der Barbaren» wurde vom Verschwinden der grossen Erzählung (dort war es die der Finanzindustrie) aus dem Leben ihrer Figuren befeuert.
Ruft man sich dies ins Bewusstsein, so erkennt man die Fortführung dieses Gedankens in «Kraft»: Die Menschen reichen nicht an die Geschichte heran, in deren Auftrag sie zu handeln vorgeben. Es bleibt ihnen, so zu tun, als hätten sie dort noch ihren Platz. Und damit kommen sie davon. Auch einer wie Richard Kraft.

 

(Erstveröffentlichung NZZ v. 26.01.2017 mit freundlicher Genehmigung des Autors).

 

Jonas Lüscher
Kraft
Roman
Verlag C. H. Beck, München 2017
237 S., Fr. 28.90

 

 

Leseprobe


I.
Wir haben alle schon mit Liebe zu tun gehabt, von der wir dann einsehen mussten, dass wir sie uns nicht leisten können.
Paul Ford
Das Rumsfeldporträt hängt direkt in Krafts Blickachse. Wenn er wieder nicht weiterweiß und sein Blick über den Rand seines Notebooks hinweg in der Leere schwimmt, er­ scheint es als verwaschener Fleck in Rot, Blau und Grau vor der eichengetäfelten Wand. Es dauert immer nur wenige Atemzüge, bis sich die kalten Augen des Verteidigungsminis­ters hinter der randlosen Brille ihr Recht verschaffen und eine Art Leitstrahl aussendend, sich Krafts Bewusstsein bemäch­tigen, ihn unwillkürlich zum Fokussieren zwingen, sodass sich die Farbflecken in einer einzigen schnellen, fließenden Bewegung zu einem konkreten Bild verdichten, die tiefen Nasolabialfalten hervortreten, der lippenlose Mundstrich, die etwas kurz geratene Nase – die so gar nicht zu der scharfen Ausdrucksweise, für die der alt­ und ausgediente Falke be­rüchtigt war, zu passen scheint –, das akkurat gekämmte sil­berne Haar, der straffe Krawattenknoten, der den Hühnerhals fest umklammert hält und unter Zuhilfenahme des gestärk­ ten Hemdkragens die selbstsichere, spöttische Visage daran hindert, dem nadelgestreiften Tuch zu entkommen, um auf den Adlerschwingen, die sich aus den Falten einer himmel­ blauen Fahne hinter dem rechten Ohr des berüchtigten Aphoristikers ausbreiten, in höhere Gefilde zu entschwinden.

Warte nur, denkt sich Kraft am siebten Tag, an dem er, tatenlos unter solcher Beobachtung stehend, sich wieder ein­ mal durch diese Aufmerksamkeit verlangenden Augen aus sei­nen leeren Gedanken gerissen sieht, dir zum Trotz werde ich nach einem europäischen Ton suchen. Dies ist es, was ich zu tun gedenke. Einen europäischen Ton, in dem sich Leibniz’ Optimismus und Kants Strenge mit Voltaires verächtlichem Schnauben und Rabelais’ unbändigem Lachen verbinden und sich in Hölderlin’schen Höhen mit Zolas Gespür für das menschliche Leiden vereinigen wird und Manns Ironie … nein, Mann würde er außen vor lassen, diesen halben Kalifornier.
Erst hatte er an einen Scherz geglaubt, als er vor sechs Mona­ten Ivans Mail aus Stanford mit dem Betreff Theodizee geöff­net hatte, aber Ivan beliebte nicht zu scherzen, noch nie, auch damals schon nicht, als sie sich einundachtzig in Berlin kennengelernt hatten, und die regelmäßige Korrespondenz, die sie in den letzten Jahrzehnten ausgetauscht hatten, zeigte in ihrer schnörkellosen Sachlichkeit, dass weder die ver­strichene Zeit noch die kalifornische Sonne daran etwas zu ändern vermocht hatten. Dear Dick, lautete die englische Anrede, an die sich Richard Kraft längst gewöhnt hatte, so, wie er sich an das Ivan gewöhnt hatte, mit dem István Pánc­zél irgendwann – etwa zur gleichen Zeit, als kurze E­Mails die mit der Maschine getippten Briefe auf dünnem blauen Luftpostpapier abgelöst hatten – seine Nachrichten zu unter­zeichnen begann. Und dann fuhr er fort, deine Teilnahme ist sehr erwünscht. Sämtliche Kosten übernehmen wir. Give my regards to Heike and the twins. Best, Ivan.
Im Anhang fand Kraft die aufwendig gestaltete Ausschrei­bung einer Preisfrage, die man zum Anlass des dreihundert­ siebten Jahrestages des Leibniz’schen Essays zur Theodizee über die Güte Gottes, die Freiheit der Menschen und den Ursprung des Übels zu stellen gedachte und in Anlehnung an die Preisfrage der Berliner Akademie von 1853. Gefordert wird die Untersuchung des Pope’schen Systems, wie es in dem Lehrsatz «Alles ist gut» ent­ halten ist, allerdings um einiges schlanker, aber auch optimis­ tischer, folgendermaßen formuliert hatte:
Theodicy and Technodicy: Optimism for a Young Millenium
Why whatever is, is right and why we still can improve it?
Der Modus Operandi war klar geregelt. Die Beiträge sollten an einem einzigen Nachmittag im Cemex Auditorium der Stanford University präsentiert werden. Eine schnelle Ab­folge von Vorträgen, das Zeitlimit von 18 Minuten durfte nicht überschritten werden, der Einsatz von Präsentations­ software war ausdrücklich erwünscht, das Publikum ausge­wählt und illuster, die Welt – die Organisatoren schienen sich sicher, dass die Welt interessiert sei – per Livestream zu­geschaltet. Dem Verfasser der preiswürdigsten Antwort winkte eine Million Dollar.
Ja, dachte Kraft, damit durfte man sich natürlich der Auf­merksamkeit der Welt gewiss sein.
Er blieb für einen Moment, bevor er weiterlas, an einem verrutschten Bubengesicht im besten Mannesalter hängen. Tobias Erkner, Entrepreneur, Investor and Founder of The Amazing Future Fund, benannte die Bildlegende den Mann mit der platten Nase und der Reflexion einer ringförmigen Blitz­lampe in der Iris, die ein jugendlich­enthusiastisches Fun­keln in die eigentlich ausdruckslosen Augen zauberte. Kraft konnte sich nicht erinnern, jemals einen Text gelesen zu haben, der ihm in ähnlicher Weise seinen Verstand zu spren-­ gen drohte, wie jener, in dem ebendieser Tobias Erkner unter seinem eigenen Porträt seine Vision darlegte und begrün­dete, weshalb es so dringlich sei, dass sich die Besten und Klügsten, weltweit, mit dieser Frage befassten und er des­ wegen bereit sei, eine Million Dollar aus seinem Privatvermö­gen als Preisgeld auszuschreiben.

Nicht, dass Kraft keine Erfahrung mit Texten gehabt hätte, in denen die seltsamsten Ideen aus der Geistesgeschichte mit den krudesten weltanschaulichen Überzeugungen legi­timiert wurden. Das kannte er von einer bestimmten Sorte intelligenter Erstsemester, die in zu jungen Jahren zu viel vom Falschen gelesen hatten, was im Zusammenspiel mit einer bestimmten hormonellen Disposition zu einer schwie­rigen Gemengelage führen konnte; so etwas bügelte er in der Regel in ein, zwei Semestern glatt.
Aber das hier war etwas anderes. Scheinbar mühelos und mit bestechender Selbstverständlichkeit gelang es dem Grün­ der des Amazing Future Fund augenscheinlich, Widersprüch­liches, offensichtlich Falsches und klar erkennbar nicht Zu­sammengehörendes in einen gänzlich logisch wirkenden Zu­sammenhang zu bringen. Was Kraft am meisten verstörte, war das völlige Fehlen jeglicher emphatischer Rhetorik. Die Sprache war glasklar, schnörkellos, frei von allen Versuchen, den Leser in emotionale Geiselhaft zu nehmen. Es wäre mühelos möglich gewesen, den ganzen Text logisch zu for­malisieren, in eine Kolonne von Prädikatoren und Junktoren zu verwandeln, an deren Ende mit zwingender Notwendig­keit Erkners Konklusion zu stehen hätte, auch wenn, das lag für Kraft auf der Hand, jede seiner Prämissen falsch war. Aber es war, als ob das den Verfasser nicht zu interessieren brauchte, nicht, solange den Gesetzen der formalen Sprache Genüge getan war. Kraft war erschüttert.

 

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