FRONTPAGE

Bertolt Brecht – «Liebesgedichte»

Von Ingrid Isermann

 

Brechts sozialkritische Stücke wie «Mutter Courage», «Der gute Mensch von Sezuan», «Die Dreigroschenoper», «Mann ist Mann» oder «Der kaukasische Kreidekreis» sind als Klassiker des epischen Theaters präsent und haben nichts von ihrem Biss und ihrer Bedeutung in der atemlosen Zeit heutiger globaler Wirtschaftswirren verloren. Es könnte aber sein, dass seine Gedichte zwischenzeitlich den längeren Atem haben. Der Suhrkamp-Verlag bringt die «Liebesgedichte» zum 100. Geburtstag der Insel-Bücherei wieder auf den Buchmarkt. Brechts Gedichte wurden in fast alle Sprachen der Welt übersetzt.

Die Auswahl von Elisabeth Hauptmann zeigt die vielfältigen Aspekte der Liebe in der Lyrik Brechts. Brecht und die Frauen wäre ein abendfüllendes Theaterstück. Denn auf die treue Gefolgschaft von Frauen konnte Brecht zählen. Es ging um ihn, seine Person und den Dramatiker Brecht, um eine bessere und gerechtere Welt. Dafür gingen die Freundinnen mit ihm durchs Feuer, durch dick und dünn, wechselten die Länder so oft wie die Schuhe, nach einem Brecht-Zitat, liessen sich bewerben, lieben und ablieben. Helene Weigel, seine Partnerin auch in den Bühnenstücken und Ehefrau, und die Fotografin Ruth Berlau waren u.a. seine Weggefährtinnen über lange Jahre hinweg. Im Bertolt-Brecht-Archiv der Akademie im Brecht-Haus Chausseestraße 125, Berlin, sind die Reminiszenzen und Dokumente aufbewahrt.
Dabei war es dem 1898 geborenen Augsburger, aus den dunklen Wäldern stammend, wie er es in einem Gedicht schrieb, als Fabrikantensohn nicht in die Wiege gelegt worden, dass er einmal einer der bekanntesten deutschen Dramatiker und Dichter werden sollte. Doch bereits 1913 schrieb er in sein Tagebuch „Ich muß immer dichten“. Nach einem abgebrochenen Studium, der Philosophie, Medizin und Literatur an der Ludwig-Maximilians-Universität München, erhielt er 1922 den Kleist-Preis.

Ab 1930 begannen die Nationalsozialisten, Brechts Aufführungen vehement zu stören. Zu Beginn des Jahres 1933 wurde eine Aufführung durch die Polizei unterbrochen. Die Veranstalter wurden wegen Hochverrats angeklagt. Am 28. Februar 1933, einen Tag nach dem Reichstagsbrand, verliess Brecht mit seiner Familie und Freunden Berlin und flüchtete ins Ausland. Seine ersten Exilstationen waren Prag, Wien, Zürich, im Frühsommer 1933 Carona und Lisa Tetzner in Paris. Auf Einladung der Schriftstellerin Karin Michaelis reiste Helene Weigel mit den Kindern nach Skovsbostrand auf Thurö in Dänemark voraus. Brecht stand im April 1933 auf der von Wolfgang Herrmann verfassten „Schwarzen Liste“; deshalb wurden seine Bücher am 10. Mai 1933 von den Nationalsozialisten verbrannt und am Tag darauf seine gesamten Werke verboten. Brecht wurde 1935 die deutsche Staatsbürgerschaft aberkannt.

Brecht flüchtete vor den Nazi-Schergen nach Dänemark, Schweden, Finnland und später in die USA. Das Stück «Mutter Courage und ihre Kinder» entstand im dänischen Exil. 1949 kam Brecht aus dem amerikanischen Exil zuerst in die Schweiz, unmittelbar nach seinem Verhör vor dem Kongress-Ausschuss für unamerikanische Betätigung unter Senator McCarthy.

 

Der Radwechsel

Ich sitze am Strassenhang.
Der Fahrer wechselt das Rad.
Ich bin nicht gern, wo ich herkomme.
Ich bin nicht gern, wo ich hinfahre.
Warum sehe ich den Radwechsel
Mit Ungeduld?

Später siedelte Brecht in die von der Springer-Presse stets mit Anführungszeichen betitelte „DDR“ über, in die Ostzone, wie sie zu Zeiten des getrennten Deutschland genannt wurde. 1949 gründete er das «Berliner Ensemble» mit Schülern wie Benno Besson, Peter Palitzsch und Egon Monk, und entwickelte in Abgrenzung zum traditionellen Theater das epische Theater. Der Machiavellismus, der vielen seiner Stücke zugrunde liegt, den Brecht mit aller Schärfe prägend und ironisch zu zeichnen wusste, zieht auch heute in den Bann.

 

An die Nachgeborenen

Wirklich, ich lebe in finsteren Zeiten!

Das arglose Wort ist töricht. Eine glatte Stirn

Deutet auf Unempfindlichkeit hin. Der Lachende

Hat die furchtbare Nachricht

Nur noch nicht empfangen.

Was sind das für Zeiten, wo

Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist

Weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschliesst!

Der dort ruhig über die Strasse geht

Ist wohl nicht mehr erreichbar für seine Freunde.

Die in Not sind?

Gingen wir doch, öfter als die Schuhe die Länder

       wechselnd.

Durch die Kriege der Klassen, verzweifelt

Wenn da nur Unrecht war und keine Empörung.

Dabei wissen wir doch:

Auch der Hass gegen die Niedrigkeit

Verzerrt die Züge.

Auch der Zorn über das Unrecht

Macht die Stimme heiser. Ach, wir

Die wir den Boden bereiten wollten für Freundlichkeit

Konnten selber nicht freundlich sein.

Ihr aber, wenn es so weit sein wird

Dass der Mensch dem Menschen ein Helfer ist

Gedenkt unsrer

Mit Nachsicht.

 

(1938)  Auszug

 

 

Mit seinen Liebesgedichten gelingen dem illusionslosen Dichter zarte, poetische Töne. Da wird angerührt, was „die Liebe“ anrichten kann, da erlebt man den Meister der Ironie und Distanz auch privat, als zarten Jüngling, der mit seinen existentiellen Themen Menschen packen konnte. Der Schriftsteller Lion Feuchtwanger schrieb über Brecht: „Er nahm das Leben heiter, auch wenn es ihm grimmig kam. Ernst war ihm seine Arbeit. Brecht brauchte einen grossen Theater-Apparat, um seine Visionen schaubar zu machen. Die grelle Neuheit und unerbittliche Wahrhaftigkeit seiner Kunst forderte den Widerstand der Ewig-Gestrigen heraus. Es war recht schwer, ihn durchzusetzen. Er hatte mit Swift gemein das Genie und die Saeva Indignatio, das wild empörte Gemüt, und er teilte Swifts Erfahrung: ‚Erscheint ein genialer Mensch in der Welt, so erkennt man es sogleich daran, dass sich alle Dummköpfe gegen ihn verbünden‘. Lavater definiert das Wesen des Genies folgendermassen: ‚Das Ungelernte, Unentlehnte, Unlernbare, Unentlehnbare, Innig-Eigentümliche, Unnachahmliche ist Genie, heisst so bei allen Nationen und wird so heissen, solange Menschen denken, empfinden und reden‘. Brecht hatte es, dies Ungelernte, Unlernbare, Unnachahmliche.“

 

 

Ach, wie sollen wir die kleine Rose buchen?

Ach, wie sollen wir die kleine Rose buchen?
Plötzlich dunkelrot und jung und nah?
Ach, wir kamen nicht, sie zu besuchen
Aber als wir kamen, war sie da.

Eh sie da war, ward sie nicht erwartet.
Als sie da war, ward sie kaum geglaubt.
Ach, zum Ziele kam, was nie gestartet.
Aber war es so nicht überhaupt?

 

 

Liebeslied aus einer schlechten Zeit

Wir waren miteinander nicht befreundet
Doch haben wir einander beigewohnt.
Als wir einander in den Armen lagen
War’n wir einander fremder als der Mond.

Und träfen wir uns heute auf dem Markte
Wir könnten uns um ein paar Fische schlagen:
Wir waren miteinander nicht befreundet
Als wir einander in den Armen lagen.

Wie es war (I)

Erst liess Freude mich nicht schlafen
Dann hielt Kummer nachts die Wacht.
Als mich beide nicht mehr trafen
Schlief ich. Aber ach, es bracht
Jeder Maienmorgen mir Novembernacht.

Erinnerung an die Marie A.

 

An jenem Tag im blauen Mond September

Still unter einem jungen Pflaumenbaum

Da hielt ich sie, die stille bleiche Liebe

In meinem Arm wie einen holden Traum.

Und über uns im schönen Sommerhimmel

War eine Wolke, die ich lange sah

Sie war sehr weiss und ungeheuer oben

Und als ich aufsah, war sie nimmer da.

(Auszug)

 

Schwächen

Du hattest keine

Ich hatte eine:

Ich liebte.

 

 

Bertolt Brecht
Liebesgedichte
Insel-Bücherei Nr. 1356, Suhrkamp Berlin 2012
Ausgewählt von Elisabeth Hauptmann 1966
72 S., gebunden.
(Insel-Verlag Frankfurt am Main 1966)
Sonderausgabe 2012, 100 Jahre Insel-Bücherei
CHF 14.90. Euro 10.00 (D). 10.30 (A).
ISBN 978-3-458-19356-2

Bertolt Brecht, 1898 in Augsburg geboren, erhielt 1922 den Kleist-Preis. Neben seinen Theaterstücken wurde Brecht durch seine Gedichte berühmt. Im inzwischen umbenannten „Berliner Ensemble“ umgab sich Brecht mit Schülern wie Benno Besson, Peter Palitzsch und Egon Monk. Brecht förderte ein analytisches Theater und vertrat die Auffassung der Dialektik vom Menschen als Produkt der Verhältnisse. Er glaubte an die Fähigkeit zur Veränderung: „Ich wollte auf das Theater den Satz anwenden, dass es nicht nur darauf ankommt, die Welt zu interpretieren, sondern sie zu verändern“.
Als erste bedeutende Publikationen gelten Bertolt Brechts Hauspostille (1927 beim Propyläen-Verlag erschienen) und „Die Songs der Dreigroschenoper“ (1928). Im Exil wurden die Sammlungen „Lieder Gedichte Chöre“ (1934 in Paris mit Notenanhang nach Hans Eisler) und „Svendborger Gedichte“ (1939 in London als Vorabdruck, Herausgeberin Ruth Berlau) verlegt. Nach dem Krieg gab es neben anderen 1951 die Anthologie „Hundert Gedichte“ und 1955 wurde die „Kriegsfibel“ verlegt. Die „Buckower Elegien“ wurden dagegen nur einzeln, wie in „Versuche 12/54“, veröffentlicht. Brechts Gedichte wurden in fast alle Sprachen der Welt übersetzt. Die Brecht-Bestände werden im Bertolt-Brecht-Archiv der Akademie im Brecht-Haus Chausseestraße 125 (10115 Berlin) aufbewahrt. Bertolt Brecht starb 1956 in Ost-Berlin.

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