«Thomas Brasch: Die nennen das Schrei»
Von Ingrid Isermann
Thomas Brasch (1945-2001) Dichter, Dramatiker, Filmschaffender und Übersetzer, ist eine der markantesten Figuren der jüngeren deutschen Literatur. Neue deutsche Dichtung, die von Goethe, Heine, Brecht, von Spruch und Lied herkommt, hat in ihm ihren Meister gefunden – und viel zu früh verloren. Jetzt sind seine Schriften und Gesammelte Gedichte bei Suhrkamp neu erschienen.
Vom Widmungs- und Gelegenheitsgedicht über Ballade und Lied bis hin zu Stückcollage und Fototext ermöglichen es die Gesammelten Gedichte zum ersten Mal, sich ein umfassendes Bild des im Verlauf von 40 Jahren entstandenen lyrischen Werks von Thomas Brasch zu machen.
Die Ausgabe enthält sämtliche zu Lebzeiten veröffentlichten Gedichte, darunter auch Raritäten wie die in der Reihe Poesiealbum veröffentlichte Sammlung von 1975, Braschs eimzige DDR-Publikation von Gedichten, sowie seit Jahren vergriffene Texte von 1977. Verstreut veröffentlichte Gedichte wurden ebenfalls für diesen Band zusammengetragen.
Thomas Brasch wurde am 19. Februar 1945 als Sohn jüdischer Emigranten im englischen Exil in Westow, North Yorkshire geboren. 1947 siedelte die Familie in die sowjetische Besatzungszone über, wo die politische Karriere des Vaters Horst Brasch (1922-1989) als stellvertretender Minister für Kultur der DDR begann. Braschs Mutter stammte aus Österreich, war Journalistin und veröffentlichte Mitte der 1950er Jahre erste Gedichte. Brasch hatte zwei Brüder sowie eine Schwester.
1956 bis 1960 besuchte er die Kadettenschule der Nationalen Volksarmee in Naumburg an der Saale. Nach dem Abitur arbeitete Brasch als Schlosser, Arbeiter und Schriftsetzer, studierte 1964-65 Journalistik an der Karl-Marx-Universität Leipzig. Wegen Verunglimpfung führender Persönlichkeiten der DDR wurde er exmatrikuliert und arbeitete als Kellner und Strassenbauarbeiter.
1966 wurde die Inszenierung seines Vietnamprogramms «Seht auf dieses Land» an der Berliner Volksbühne verboten. 1967 bis 1968 absolvierte Brasch ein Studium für Dramaturgie an der Hochschule für Film und Fernsehen Babelsberg. Wegen der Verteilung von Flugblättern gegen den Einmarsch der Warschauer-Pakt-Staaten in die ČSSR 1968 musste er sich gemeinsam mit Frank Havemann, Florian Havemann, Rosita Hunzinger, Sanda Weigl, Erika-Dorothea Berthold, Hans-Jürgen Uszkoreit und Bettina Wegner vor Gericht verantworten. Er wurde zu zwei Jahren und drei Monaten Haft verurteilt und nach 77 Tagen auf Bewährung entlassen. In der Haft wurde auch der gemeinsame Sohn Benjamin von Bettina Wegner geboren. Nach der Entlassung wurde Brasch als Erziehungsmassnahme als Fräser im Berliner Transformatorenwerk Oberschöneweide (TRO) beschäftigt.
Auf Vermittlung von Helene Weigel arbeitete er 1971–72 im Brecht-Archiv, wo er an einer Arbeit sass, die die Strukturelemente des Westerns mit denen des russischen Revolutionsfilms verglich. Seitdem lebte er als freier Schriftsteller. Mehrere Dramen, die zwischen 1970 und 1976 entstanden, wurden wegen ihrer Thematik und ihrer häufig experimentellen Form nicht aufgeführt oder nach kurzer Zeit abgesetzt, so z. B. die gemeinsam mit Lothar Trolle verfassten Lehrstücke «Das beispielhafte Leben und der Tod des Peter Göring» und «Galileo Galilei – Papst Urban VIII.».
1976 war Brasch Mitunterzeichner der Resolution gegen die Ausbürgerung von Wolf Biermann. Nachdem die Publikation von Prosatexten durch staatliche Stellen verweigert worden war, stellte er einen Ausreiseantrag und übersiedelte gemeinsam mit seiner damaligen Freundin Katharina Thalbach und deren Tochter Anna Thalbach nach West-Berlin. Sein noch in der DDR entstandener und kurze Zeit später beim Rotbuch erschienener Prosaband Vor den Vätern sterben die Söhne wurde ein großer Erfolg und brachte ihm nachhaltige Anerkennung bei den Kritikern.
1978 erhielt er den Ernst-Reuter-Preis und 1979 ein Villa-Massimo-Stipendium. Er wurde 1982 Mitglied des P.E.N.-Zentrums der Bundesrepublik Deutschland und wurde für den Film «Engel aus Eisen» mit dem Bayerischen Filmpreis ausgezeichnet. 1983 lebte er für ein Jahr in Zürich, wo er für den Film «Domino» den Occhio del Pardo d’argento erhielt. Sein Hörspiel «Robert, ich, Fastnacht und die anderen» wurde mit dem Kleist-Preis ausgezeichnet. Ab 1986 übersetzte er mehrere Theaterstücke William Shakespeares ins Deutsche. 1992 erhielt er den Kritikerpreis der Berliner Zeitung. 1987 führte er in «Der Passagier» zum letzten Mal Regie in einem Kinofilm; Brasch konnte US-Weltstar Tony Curtis für die Hauptrolle gewinnen.
Nachdem Brasch seit dem Fall der Berliner Mauer für viele Jahre verstummt war und sich Gerüchte über Alkohol- und Drogenmissbrauch gemehrt hatten, überraschte er im Jahr 1999 mit seinem neuen Prosaband Mädchenmörder Brunke, der aus einem Manuskript von ursprünglich mehr als 10.000 Seiten entstand. Im selben Jahr kam es zur Uraufführung der Dramen «Stiefel muß sterben» und «Die Trachinierinnen des Sophokles oder Macht Liebe Tod», im Jahr 2000 folgte «Frauenkrieg. Drei Übermalungen». Sein letztes Stück, «Eine Märchenkomödie aus Berlin», blieb unvollendet.
Thomas Brasch starb am 3. November 2001 in der Berliner Charité an Herzversagen. Das Grab des Schriftstellers befindet sich auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof in Berlin-Mitte.
Umziehn
hab ich geschlafen oder war ich wach
ach alles weiss ich doch weiss nicht warum
fällt mir der keller auf den kopf oder das dach
soll ich mich aus- soll ich mich anziehn. ach ich ziehe
oder mich
ganz einfach um
spiegel spieglein an der wand
mir ein bild das mich aufweckt
mir zu ähnlich unbekannt
das mich aus dem tagschlaf schreckt.
Spiegel spieglein mich ganz fremd
dass ich mich erkenne
mal im hautkleid mal im hemd
mal was ich die rüstung nenne
das da bin ich nicht, ist ein andres weib
hoffentlich ganz offen ich
nur wenn ich vertreib
mich und meine zeit doch die macht betroffen mich
VORSPIEL II
Nicht Narr, nicht Clown, nicht Trottel, nicht Idiot.
Ihr Zuschaukünstler habt für mich kein Wort.
Ich komm aus England. Daher kommt der Tod.
Ich bin der Sterbewitz. Ich bin der Mord-
versuch, jaja, ich weiss. Auch der macht Spass,
weil er sich reimt und ist nicht so gemeint,
denkt ihr. Ihr denkt? Sieh an, seit wann denkt Aas.
Ich bin mein eignes Volk. Ihr seid vereint
in dem Verein, der richtet und der henkt.
Ich will, dass ihr euch hier zu Tode lacht,
voll faulem Mitgefühl das Herz verrenkt,
ersauft in Tränen mitten in der Nacht.
Ihr seid das Volk. Ich bins, der euch verhetzt.
Ich heiss: The Fool. Das wird nicht übersetzt.
DA LIEGT SIE ZWISCHEN DEN BÜCHERN
UND SCHREIT
Ihre Hand krallt sich in Tischtuch aus Seide.
Die Tür ist zugeschlagen hinter dem Mann, und
die Ehe ist aus. Jetzt ist sie allein
zwischen den antiquarischen Möbeln,
unter dem seilbernen Leuchter,
neben den aufgestapelten Manuskripten zum Thema
Klassenkampf und Soziologie.
Jetzt stottert die Studentin der Filosofie
(zwei Jahre vor ihrer Doktorprüfung
zwei Jahre nach ihrer Hochzeit)
wie Galilei auf der Folter:
‚Was nützen mir die Grundzüge der Dialektik,
wenn es kalt wird in meinem Körper.
Was hilft mir, dass ich weiss, was ich weiss,
wenn ich nicht weiss, was ich machen soll‘.
Da liegt sie und hasst ihren Kopf,
aus dem die Tränen auf den teuren Teppich fallen,
in dem durcheinanderfallen
die Quellen und Bestandteile
der marxistischen Weltanschauung.
Aber die Tür öffnet sich, und
die Ehe ist nicht aus. Es beginnt ein Gespräch
über die objektive Notwendigkeit
der Auseinandersetzung.
(Hoch lebe die tote Studentin der Filosofie)
DER KANN FÜNF STUNDEN IM SESSEL SITZEN.
Auch wenn keiner ein Radio vor ihn hinstellt.
Der kann seine Haut mit einem Messer aufritzen
und zusehn, wie sein Blut auf den Fussboden fällt.
Der kann lachen, wenn eine Frau vor ihm weint.
Der kann eine Axt in den Fernsehapparat schmeissen.
Der kann sagen, was er meint.
Der kann sich auch seine Meinung verheissen.
Wenn der zwei Stunden vor dem Spiegel steht,
sieht er zwei Stunden in das Gesicht eines Mannes,
dem er sein Ende auf den 1. Blick ansieht,
aber: Der kann es.
INTERMEZZO UNTER PAPPELN
Wenn du die Pappeln siehst,
dann sag es mir.
Wenn du dem Wind dann hörst,
bin ich bei dir.
Wenn Flüsse rauschen,
leise, schwer,
dann weiss ich, dass es dunkel hier,
wenn ich nicht bei dir wär‘.
Wenn Hände spüren ein Gesicht,
das deine Züge trägt,
dann weiss ich, dass der Wind sich nun
auf alle Flüsse legt.
Die Tränen, die ich fallen sah,
benetzten meine Hand.
Und wäre meine Hand nicht hier,
dann lägen sie im Sand.
FÜR BRECHT
Der sitzt im Strassengraben.
Ich wechsle das Rad.
Der ist nicht gern, wo er herkommt.
Der ist nicht gern, wo ich hinfahre.
Warum sehe ich den mit Ungeduld.
SELBSTKRITIK
Zürich Zwischen den Denkmälern am Morgen
Lenin Büchner Joyce Gehen So langsam der Schritt
Die Sonne flach über der Limmat Flach
die Brücken über der Limmat Jetzt
hast du die Hälfte herum von deinem Leben Geschafft
wenig mehr als zehn Jahre zuvor
ein Kind gemacht Worte gemacht Dem Alten hinzugefügt
nichts Neues
Thomas Brasch
Die nennen das Schrei
Gesammelte Gedichte
Suhrkamp 2013
1029 S., geb., CHF 66.90
ISBN 978-3-518-42345-5