FRONTPAGE

«Erika Burkart: Selbst- und Weltfindung im Schreiben»

Von Beatrice Eichmann-Leutenegger

Den Satz «Ich schreibe, also bin ich» konnte sie wie kaum eine andere für sich beanspruchen. Er mündete jedoch oft auch ins Bekenntnis: «Ich leide, also bin ich». Kaum ein Tag ihres Erwachsenen-lebens mochte vergangen sein, ohne dass sie schrieb – bis hin zu jener Schwelle, an der die Kräfte versagten. Auch wenn sie nur einen Satz notierte, so bestätigte er, dass ihr die Sprache (noch) nicht abhanden gekommen war. Gerade diese Angst aber trieb sie in den letzten Wochen und Monaten ihres Lebens um. Die posthum veröffentlichten Aufzeichnungen der Schweizer Dichterin Erika Burkart.

 

Nun kehrt Erika Burkart mit ihren Sätzen und Bildern nochmals zurück. Ihr posthum erschienenes Buch enthält Aufzeichnungen aus dem Zeitraum zwischen Herbst 1996 und Jahresanfang 2010. Es handelt sich nicht um Tagebücher – Erika Burkart hat nie Diarien verfasst. Sechzehn Hefte lagen Ernst Halter, dem Editor und Gatten der Autorin, zu Beginn vor; weitere Hefte tauchten später auf, nachdem er die Arbeit bereits abgeschlossen hatte. Etwas mehr als die Hälfte des Textes hat er für die Veröffentlichung berücksichtigt und in Kapitel eingeteilt, deren Inhalte Leitthemen aus dem epischen und lyrischen Werk Erika Burkarts aufgreifen. Für die Lesenden heisst dies, dass sie die Aufzeichnungen nicht in chronologischer Reihenfolge kennen lernen, sondern thematischen Orientierungen folgen; allerdings hat Ernst Halter die zeitliche Verankerung, einem einfachen Ordnungssystem folgend, jeweils festgehalten.

 

Selbst- und Weltfindung: Vieles in diesen Aufzeichnungen mag für die Kennerinnen und Kenner ihres Oeuvres vertraut klingen, und sie hören wieder den unverkennbaren «Grundwasserstrom» (so der Titel der im Jahr 2000 erschienenen Prosastücke) rauschen. «Als Mensch muss man loslassen, als Autor festhalten», schreibt Erika Burkart und weist auf die Erinnerung als Grundlage ihres Schreibens. In den Innenraum der Seele sind Bilder und Menschen der Vergangenheit eingegangen, leben dort weiter und wandeln sich zugleich. Die Dichterin holt diese Erinnerungen wiederum ans Licht – im Bewusstsein, dass sie den Schatz nie vollends heben kann. Ans Schreiben hingegeben, erschafft sie sich jenen Ort, wo sie wahrhaft zu Hause ist, denn ohne das Schreiben würde sie sich im Labyrinth der Existenz verlieren. Aber für sie gilt: «Schreibend sich äussern ist nicht Preisgabe, sondern Selbst- und Weltfindung».

 

Die ausgewählten Texte halten die Balance zwischen narrativen Passagen, Reflexionen und akribischen Befunden der Aussenwelt ein. Indessen verlangt die Lektüre mit ihren dichten Aussagen eine konzentrierte Leserschaft, geübt in der Kunst der Langsamkeit. Hier aber erleichtert Ernst Halters Komposition den Lesevorgang, weil man sich einem Thema jeweils in seiner Geschlossenheit annähern kann. Wieder und erneut fällt auf, welch eine genaue Beobachterin Erika Burkart gewesen ist, wie hypersensibel Empathie und Wahrnehmungsvermögen sich offenbarten, wobei das äussere Sehen mit einem inneren korrespondierte. Textstellen, die Träume und Vorstellungen aufgreifen und eine «Traumprovinz» erschaffen, rücken oft in den Bereich des Visionären. Aber auch die Aufzeichnungen zu den Wolken mit ihren wechselhaften Gesichtern, die Evokationen des Lichtes, die Notizen über Blätter, Bäume und Vögel, die Reminiszenzen an Menschen und Bücher schenken wunderbare Momente des Lesens. Immer wieder steht die Dichterin schauend und staunend am Fenster, jenem Ort, an dem Innen- und Aussenräume ineinander übergehen, wo jedoch auch dies geschieht: «In die Faust beissen und, unhörbar, die Namen rufen von Verschollenen und Toten».

 

Erfahrung der Mehrdeutigkeit: Hier spricht keine «Naturlyrikerin» – ein in ihrem Fall häufig verwendetes Etikett, wogegen sich Erika Burkart vehement gewehrt hat – , sondern eine Dichterin, die ihre Phänomene mit einem Verweischarakter ausstattet. Der metaphorische Ansatz entpuppt sich als Schlüssel zum Werkverständnis. «…im menschlichen Wesen ist ein Keim auf das Metaphysische hin angelegt und wächst eine Art Nabelschnur zur Schöpfung. Zerreisst sie, ist der Mensch das heimatloseste aller Tiere».Und diese Frau, welche die Liebe mit ihrem Zauber und Schrecken erlebt hat, birgt ein tiefes Wissen über die Ambivalenz der grande passion. Man lernt Erika Burkart ebenso in ihrer Strenge kennen – etwa in der Abkehr von jeder Idylle – , in zornigen Anwandlungen und in der Verletzbarkeit, vor allem aber in ihrem Bemühen um eine wahrhaftige Sprache.

Dieser Impetus vermag einiges zu erhellen, was nunmehr während der Lektüre auffällt, nachdem sich bereits ein Abstand zu den vorangegangenen Werken eingestellt hat. Erika Burkarts filigrane Sprache betört noch immer, aber man bemerkt nun mehr als zuvor auch deren Üppigkeit. Eine einzige Bezeichnung genügt meist nicht; gleich mehrere Adjektive oder Substantive rücken nebeneinander. Dieses Stilmerkmal wurzelt in einer Erfahrung der Mehrdeutigkeit aller Erscheinungen, die Erika Burkarts Abneigung gegenüber definitiven Aussagen begründet hat. Daher vermag ein einziger Begriff den Nuancenreichtum, welcher sich ihr erschlossen hat, nicht zu umreissen. Die Reihungen versuchen, die Fülle sprachlich zu begreifen: «…eine sogenannt genaue Formulierung erscheint mir oft wie ein Käfig, ein Gitter um einen Sachverhalt, ein Geschehen oder Aussehen, das, uns uneinsehbar, in Wahrheit chaotisch ist».

 

 

Das Arcanum des Gedichts: Das Chaos hat einst ihren Kinderalltag umlauert. Es ballte sich in der Wirtsstube des Elternhauses – der einstigen Sommerresidenz der Äbte aus dem Kloster Muri (Aargau) – , wo die Betrunkenen lärmten und der kühne, schreckliche Vater seinen Urwald-Sehnsüchten nachhing. Dank der Sprache hat Erika Burkart diese wüste Welt wie eine Demiurgin geordnet. Dabei wird das Gedicht zum «eigentlichen Arcanum, ereignet es sich doch in einem Klima, wo die Aura des Wortes (…) erscheinen kann für Augen, denen der Erste Blick erhalten blieb im Geflimmer und den Finsternissen des Lebens». Der Begriff Arcanum taucht mehrmals in den Notizen auf. Er umschliesst aus einer Haltung der Ehrfurcht heraus alles, was sich dem Sagbaren entzieht und im Unsagbaren fortbestehen will. Daher bleibt auch der Bereich des Göttlichen fast immer ohne Namen und Bestimmung. «Gott allpräsent in seiner Absenz?», fragt die Dichterin gegen Ende ihres Lebens, da sie ein lang gewährtes Vertrauen angesichts der peinigenden Krankheit zusehends einbüsst. Einen törichten Glauben lehnt sie ab, hält sich dagegen ans Hölderlin-Wort: «Was hier wir sind, kann dort ein Gott ergänzen».

 

So treten uns die Aufzeichnungen aus den Jahren der Krankheit radikal schmucklos entgegen. Sie sind die Offenbarung eines Menschen, der auf seinem Passionsweg an der letzten Pforte angekommen ist und sich beharrlich einigen wenigen Fragen stellt. Trost darf man in diesem «ungeheuren dunklen Gewölk» nicht erwarten, auch Gnade nicht. Der Einsturz des Selbstgefühls, die Verlorenheit, das Grauen vor dem Tod, der Abschied von allen Hoffnungen, auch von jenen auf ein mögliches Jenseits: Dies ist Golgatha. Ob danach etwas folgen könnte, bescheidet Erika Burkart resolut: «Wir wissen gar nichts».

 

Glaubte ich an Reinkarnation, möchte ich Emily Brontë gewesen sein.

 

Wovon man lebt.
Die kurzen Glücksmomente, da man etwas begegnet, auf einen Menschen, eine Pflanze, ein Tier, ein Phänomen stösst, das einen innerlichst berührt, anspricht, ergreift, entzückt, chemischen Elementen gleich, die sich anziehn, sich nicht trennen möchten. Es kann ein solcher Moment ausgelöst werden durch eine musikalische Modulation (Mozart, Chopin, Wagner…), die blitzartig „einschlägt“, ins Herz trifft, so tief, dass man diesen Moment nie vergisst, wie kurz er auch sein mag.

 

Man muss lernen, auf sich selbst zu warten.

 

Wenn du dich hinlegst, wenn du liegst, ist das Traurige, daran du denkst, noch dunkler. Das Schöne, weisst du, gewänne an Glanz und Innigkeit, ruhenderweise bedacht und empfunden.

 

Liegen. Stehen. Gehen. Innehalten. Wenn ich mich hinlege, wenn ich liege, schiesst das Erinnern ein. (Die schmerzliche Schwerkraft einer Erinnerung). Schöne Erinnerungen verflüchtigen sich rascher, kurzfristig tragen sie, „beflügeln“; der ruhende ist dann ein schwebender Körper.

 

Erika Burkart
Am Fenster, wo die Nacht einbricht.
Aufzeichnungen, herausgegeben von
Ernst Halter.

Limmat Verlag: Zürich 2013,

306 S., Fr. 38.-

ISBN 978-3-85791-696-0

 

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