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«Der zarte Faden, den die Schönheit spinnt: Hundert Gedichte von Edward de Vere, Earl of Oxford, der Shakespeare erfand»

Von Ingrid Isermann

Ein unbekanter junger Dichter des 16. Jahrhunderts präsentiert Hundert Gedichte, die hier erstmals vollständig versammelt und kommentiert werden: Die Gedichte des Edward de Vere (1550-1604), können heute noch begeistern und sind der literarische Beleg für die wahre Identität: William Shakespeare. Eine Entdeckung!

Überrascht blickt die Literaturszene auf das Werk eines jungen Autors des 16. Jahrhunderts, den die englische Literaturgeschichte nicht kennt oder als Marginalie behandelt. Seine Gedichte besitzen Ausstrahlung, Intelligenz und Entschiedenheit. Der Dichter – Edward de Vere, Earl of Oxford (1550–1604) – verbirgt seinen Namen von Anfang an hinter dem Schleier diverser Pseudonyme: Meritum petere grave, Fortunatus Infoelix, Ferenda Natura, Spraeta tamen vivunt, My lucke is losse, Phaeton. Ab 1593, im Herbst dieses Jahres erscheint unter dem Namen William Shakespeare ein Versepos, Venus and Adonis, ist es dann nur noch eines: William Shakespeare.

 

Nicht der unbelesene und schreibschwache Mann aus Stratford-on-Avon hat die weltbekannten Dramen und Sonette geschrieben, sondern jener unbekannte junge Dichter, der unter Pseudonymen seine Rollengedichte, Lamentationen und Lieder in zwei poetischen Anthologien seiner Zeit versteckte und als lyrische Hofpost in Handschriften zirkulieren liess.

Ein einmaliges Ereignis: Der Dichter – Edward de Vere, Earl of Oxford (1550-1604) – verbirgt seinen Namen von Anfang an hinter einem Schleier. Sein poetisches Werk, das sich von der mausgrauen Dutzendware der Zeit abhebt, wird aus dem Verkehr gezogen, weil es die höfische Gesellschaft provoziert – und entschwindet für die nächsten Jahrhunderte den Blicken der Leser. Nachdem der Poet sich in den achtziger Jahren des 16. Jahrhunderts zum Dramatiker gemausert hat, rühmen ihn Webbe und Puttenham als besten höfischen Autor im Fach Komödie. In den Neunzigern spricht der spitzzüngige Thomas Nashe den poetischen Earl als «Master William» bzw. «Will. Monox» an und nennt ihn den «ertragreichsten Lieddichter unserer Zeit».
Zugleich, Mitte 1593, erscheint das erste Versepos eines gewissen WILLIAM SHAKESPEARE im Druck. Sechs Jahre später veröffentlicht William Jaggard ein Oxfordsches Gedicht in seiner Sammlung von Shakespeariana.

(Si non è vero è ben trovato).

 

 

Edward de Vere, Earl of Oxford, verklärt die Liebe nicht, sondern nimmt gegen sie als ein beglückter Verlierer Stellung. So gehört es zum Kalkül seiner gewagten literarischen Strategie, sich Elizabeth, der jungfräulichen Königin gegenüber als der sehnsüchtige Troilus zu stilisieren, der um die treulose Cressida wirbt.

Kurt Kreiler, Herausgeber über die sensationelle Gedichtsammlung: Die Hundert Gedichte eines rollenkundigen Spötters und sprachverliebten Dialektikers sind eine Neuerscheinung in der Welt der Literatur. Fast ausnahmslos kreisen sie um das Spiel von Liebe und Zurückweisung, Sehnsucht und Widerwillen, Leidenschaft und Bezähmung. Angesichts der Turbulenzen und Gedankensprünge der Oxfordschen Lyrik, ihrer inszenierten Begehrlichkeiten und Enttäuschungen verschlägt es dem Leser noch heute den Atem. Da wechseln Strategien der Eroberung ab mit Spott und Hohn, bitterkomische Anfälle von Sehnsucht mit eleganten Rückzugsgefechten, wahnhafte Hoffnungseskapaden mit den Lachanfällen der Getäuschten. Die Liebe zwischen Mann und Frau ist in seinen Augen eine Form von Krieg, die mit der Niederlage beider Parteien endet. Doch beide Geschlechter ziehen daraus den Gewinn der Schmerzlust: SIE schlägt ihm die Wunde, die nicht heilen will – ER lässt sie schlaflos in ihren Kissen wühlen und sich die Haare raufen – ER belauscht sie, verspottet das Echo ihrer Liebesseufzer, zwingt ihr seinen Willen auf – SIE hält die Hand mit dem Messer, seinen Lebensfaden abzuschneiden – ER schürft sein Grab mit blutigen Nägeln. Neben diesen lustvoll gezielten Verirrungen, Huldigungen, Klagen und Ressentiments findet der Leser, die Leserin, Gedichte über Freundschaft.

 

Man kannte bisher nur rund zwanzig Gedichte von Edward de Vere – enthalten in handschriftlichen Lyriksammlungen des 16. Jahrhunderts und in der 1576 gedruckten Anthologie The Paradyse of Daynty Devises («Das Paradies der zierlichen Erfindungen»). Nun werden in der neuen Publikation hundert Gedichte präsentiert. Die spannende Findungsgeschichte entfaltet Kurt Kreiler in einem historisch aufgearbeiteten Rückblick auf das elisabethanische Zeitalter.
Die Gedichte sind zweisprachig englisch/deutsch publiziert.

 

 

Ich bin nicht so, wie ihr mich kennt

Ich bin nicht so, wie ihr mich kennt,
nicht froh, obwohl der Witz sich regt,
versklavt, obwohl ihr frei mich nennt,
ein Grübler, der zu spassen pflegt.
Ich lächle, um mich zu verbergen,
wie Hannibal, da er die Schergen
der Römer in Karthago fand,
als sie zerstört sein Heimatland.

Und als man des Pompejus Haupt
Dem sieggewohnten Cäsar zeigte,
zu sehn, wie er die Sache nahm,
war man erstaunt, weil Cäsar weinte.
Doch weint’ er, weil der Mord ihn freute,
nicht, weil er seinen Sieg bereute.
Gewitzt der Mann, der was verhehlt,
indem das Gegenteil er wählt.

Ich Hannibal, der lacht vor Schmerz –
Euch stehen Cäsars Tränen gut.
Der eine wandelt Leid in Scherz,
der andere schluchzt vor Lust.
Zurückgewiesen, lächle ich.
Bis ich mein Herz, des Tod Ihr seid,
statt des Pompejus Haupt Euch zeig.

Oh, hartes Los und grausam Glück,
das mich den Feind zu lieben zwingt.
Verflucht sei dies mein bös Geschick,
das meine Wahl vorausbestimmt’.
Ich kämpf allein, durchbohrt von Pfeilen,
und ohne Mitleid, mich zu heilen.
Gesund wird mancher, weil er klagt,
mir bleibt Erleichterung versagt.

 

 

Ein Tag und eine Stunde nur im Glück

Ein Tag und eine Stunde nur im Glück
ist wert, dass sich das Herz in Angst verzehrt:
ungleiche Götter, die ihr Tage schickt,
von denen einer bittre Jahre währt.
Doch was entsprang? bloss eine blasse Blume:
Das Glück nur eines Tages, einer Stunde.
Welch schlimmre Pest als Schwermut und die Angst?
Die kalte Angst, die nachts die Brust beschleicht,
die Brust, in der einekler Klumpen haust,
ein Klumpen, der beständig Schmerz erzeugt,
so bittern Schmerz, dass du zuletzt nicht weißt,
ob schlimmre Pest als Schwermut und die Angst.

Isst Angst die Seele auf? Grässlicher Spuk.
Erfüllt dich Freude ganz? Glücklicher Mann.
Und warst du glücklich einst? O drückend Pfand.
Dein Unglück ist vorbei? Sei glücklich dann.
Hast du im Alter Glück? Zu späte Sonne.
Ist deine Jugend froh? Oh, süsse Wonne.

 

 

Der zarte Faden, den die Schönheit spinnt

Der zarte Faden, den die Schönheit spinnt,
verführt die wahnhaft aufgerissenen Augen
ähnlich der Spinne, die im Netze sinnt,
durch List harmlose Fliegen einzufangen.
Der Kleiderprunk, der goldne Überhang,
das Wortgeplätscher aus Athenas Teichen,
der weisse Puder auf erhitzter Wang
sind artige Köder, Narren zu erweichen.
Doch wenn im nackten Mund das Alter glänzt
Und Reif die goldnen Haare überrinnt,
so kennen Reue und Bedauern längst
das Ränkespiel aus Amors Labyrinth.
Nicht schön, nicht hässlch, weder gross noch klein
wird ein lieb nussbraun Kind das Beste sein.

 

 

Der zarte Faden, den die Schönheit spinnt.
Hundert Gedichte
Von Edward de Vere, Earl of Oxford
Übersetzt von Kurt Kreiler
Mit einem Vorwort Shakespeare als
junger Mann von Kurt Kreiler
Insel Verlag Berlin 2013
401 S., geb., CHF
ISBN 978-3-458-17587-2

 

 

Kurt Kreiler studierte Germanistik und promovierte über das Thema «Die Schriftstellerrepublik. Zum Verhältnis von Literatur und Politik in der Münchner Räterepublik». Anschliessend arbeitete er u.a. im Wagenbach-Verlag sowie als Dramaturg an der Landesbühne Niedersachsen Nord in Wilhelmshaven.Seit 1983 war Kreiler als freier Hörfunkautor tätig, schrieb Hörspiele und Features. 2003 gründete er gemeinsam mit Robert Galitz den mOcean OTonVerlag. 2009 erhielt er für das Programmsegment «Zweitausendeins Dokumente» gemeinsam mit Galitz und Till Tolkemitt den Deutschen Hörbuchpreis in der Kategorie «Beste verlegerische Leistung».
2009 veröffentlichte Kreiler das Buch «Der Mann, der Shakespeare erfand», in dem er die These vertritt, dass der Autor der Shakespearschen Werke in Wirklichkeit der englische Adlige Edward de Vere, 17. Earl von Oxford, war.
Die englische Website des Herausgebers Kurt Kreiler findet sich unter
https://www.anonymous-shakespeare.com

 

 

 

Buchtipps

«Urs Allemann: IN SEPPS WELT»

In Sepps Welt sind Gedichte dazu da, demontiert und remontiert zu werden. Trakl-, Rilke-, George-Verse machen Platz für «Ersatzgedichte», in denen sie unüberhörbar im Untergrund weitertuten. Mal werden «Versuchssätze zur Poesie des Ungrammatischen» ausprobiert, mal «schnupperausflüge zum haikupol» unternommen.

 

 

exfant

form kommt von förmchen haste kaputt ze mach.
im kastensand rührt b) sich der paria.
Das kind im bad plosive testend
muss bitte stöpsel raus singen. danke.

 

 

Urs Allemann
IN SEPPS WELT
Gedichte und ähnliche Dinge
Klever Verlag, Essen 2013
156 S., 12.5×19 cm Klappenbroschur
CHF 27.90. € 17.90
ISBN 978-3-902665-55-3

 

 

Urs Allemann, *1948 in Zürich, studierte Germanistik, Anglistik, Soziologie und Sozialpsychologie. 1986-2004 Literaturredaktor der Basler Zeitung. Lebt als Autor und Poesie-Performer in der Schweiz. Schweizer Literaturpreis 2014 für «In Sepps Welt».

 

 

 

«Lisa Elsässer:  DA WAR DOCH WAS»

In ihrer neuen Gedichtsammlung «Da war doch was» bricht Lisa Elsässer das lokale Umfeld, das sie mitunter beschreibt, immer wieder auf, indem sie die Vorstellungskraft dem Alltag vorhält. Und nicht etwa umgekehrt. Aufgrund der Verflechtung von Perspektiven und Zeiten geraten die Gedichte zu Geschichten, die auf eine Wendung zusteuern, an welcher der Leser mit Spannung rätselt.
Manchmal sind es Figuren, manchmal das Ich oder ein Du, worin sich Poesie und Todesnähe widerspiegeln.

Damit bewegt sich die Autorin am Rande des Schreibens, dort, wo der Wind im Spiegel einer Pfütze dein Weinen schraffiert. Ihr gelingt aber gerade dadurch, den Hintergrund der Zerrissenheit, der das Umfeld prägt, spürbar zu machen. Wir alle sind in vielfältiger Weise Reisende, indem wir pendeln zwischen Trostlosigkeit und Lebensmeisterung, zwischen Resignation und dem Kampf um Würde.
In der Differenziertheit und in der Poesie der Bilder, die sie heraufbeschwört, öffnen sich Zugänge, entstehen Verbindungen, werden Reisen vorbereitet. Die Entscheidung, an welcher Haltestelle wir aussteigen wollen, fällt man oft erst unterwegs.

 

 

wie viel es doch gab von
dieser stille ihr entgegen
der gestaltlosen königin
des tals seit tagen

einzig das gesumm der
bienen banale winde teller
grosses spinnennetz fäden
gespannt mein verstand
der brüllenden welt entrissen

sah ich über mir den bussard
kreisend eingehüllt in seinen
rausch flog ich mit ihm mir
und meinem schwachen sehen zu

 

 

Lisa Elsässer
DA WAR DOCH WAS
Gedichte
Wolfbach Verlag 2013
Mit Vorwort von Iso Camartin
80 S.,geb. CHF 29. € 22.

 

 

Lisa Elsässer-Arnold, 1951 in Bürglen Bürglen Uri Schweiz geboren, hat verschiedene Ausbildungen u. a. zur Buchhändlerin/ Bibliothekarin durchlaufen. 2005 bis 2008 war sie Studentin am Deutschen Literaturinstitut der Universität in Leipzig. Lisa Elsässer hat zwei Gedichtbände und einen Prosaband veröffentlicht. 2010 gewann sie zusammen mit Carl-Christian Elze den ersten „Lyrikpreis München“.

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