FRONTPAGE

«Anne Weber: Ein Heldinnenepos – was für ein Leben!»

Von Ingrid Isermann

 

Anne Weber erhielt den renommierten Buchpreis des deutschen Buchhandels 2020 für die fulminante Lebensgeschichte der 96-jährigen Anne Beaumanoir. Die Begründung der Jury: «Die Kraft von Anne Webers Erzählung kann sich mit der Kraft ihrer Heldin messen: Es ist atemberaubend, wie frisch hier die alte Form des Epos klingt und mit welcher Leichtigkeit Weber die Lebensgeschichte der französischen Widerstandskämpferin Anne Beaumanoir zu einem Roman über Mut, Widerstandskraft und den Kampf um Freiheit verdichtet. Dabei geht es um nichts weniger als die deutsch-französische Geschichte als eine der Grundlagen unseres heutigen Europas».

Die Heldin dieses ausgezeichneten Epos ist Anne Beaumanoir, geboren 1923 in der Bretagne, aufgewachsen in einfachen Verhältnissen, schon als Jugendliche Mitglied der kommunistischen Résistance, Retterin zweier jüdischer Jugendlicher — wofür sie von Yad Vashem später den Ehrentitel »Gerechte unter den Völkern« erhalten wird –, nach dem Krieg Neurophysiologin in Marseille, 1959 zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt wegen ihres Engagements auf Seiten der algerischen Unabhängigkeitsbewegung… und noch heute an Schulen ein lebendiges Beispiel für die Wichtigkeit des Ungehorsams.

Anne Weber erzählt das unwahrscheinliche Leben der Anne Beaumanoir in einem brillanten biografischen Heldinnenepos. Die mit grosser Sprachkraft geschilderten Szenen werfen viele Fragen auf: Was treibt jemanden in den Widerstand? Was opfert er dafür? Wie weit darf er gehen? Was kann er erreichen? Annette, ein Heldinnenepos erzählt von einer wahren Heldin, die uns etwas angeht.

 

 

Anne Beaumanoir ist einer ihrer Namen.
Es gibt sie, ja, es gibt sie auch woanders als auf
diesen Seiten, und zwar in Dieulefit, auf Deutsch
Gott-hats-gemacht, im Süden Frankreichs.
Sie glaubt nicht an Gott, aber er an sie.
Falls es ihn gibt, so hat er sie gemacht.

Sie ist sehr alt, und wie es das Erzählen will,
ist sie zugleich noch ungeboren. Heute,
da sie fünfundneunzig ist, kommt sie
auf diesem weißen Blatt zur Welt –
in eine undurchdringliche Leere, in die sie
lange runde Maulwurf blicke wirft und die sich
nach und nach mit Formen und mit Farben,
mit Vater Mutter Himmel Wasser Erde füllt.
Himmel und Erde sind bleibende Erscheinungen,
das Wasser aber kommt und geht, es strömt
ins trockne Bett des Flusses Arguenon, wo es
zweimal am Tag die Boote aufrichtet, die schon seit
Stunden auf der Flanke liegen. Zweimal am Tag
zieht sichs ins Meer zurück, Ärmelkanal
nennt man es hier, auch kurz La Manche, Der
Ärmel, obwohl es kein Kanal und auch kein Ärmel ist,
nichts Hohles also, eher schon ein Arm: der

Meeresarm, den der Atlantik zur
Nordsee rüberstreckt. Sachte legen sich die
Boote wieder seitlich auf den Bauch.

 

Im All des Zimmers, dem noch unbewohnten,
schwimmen vier und auch manchmal sechs
glänzende Gestirne oder Augen. Wie in der Dunkelkammer
langsam Konturen aus dem Nichts aufsteigen,
beginnen sich um die Gestirne
Gesichter abzuzeichnen. Mutter. Großmutter.
Vater. Das Kind, das Anne heißt und alle
Annette nennen (sprich Annett) bringt diese
Planeten zum Kreisen.

 

Von Annette ist Anne (die Heutige) dem Alter nach
doppelt so weit entfernt, wie ihre
Großmutter es damals war, aber irgendwo
erstaunlich fern und nah
gibt es noch dieses Kind. Es ist eins mit ihr,
ist nicht verkümmert und nicht tot, es schläft,
es ist noch da.

 

Geboren wird Annette in einer Sackgasse,
und das nicht bloß im übertragnen Sinne
wie wir alle. Das Haus der Großmutter schließt
eine Reihe unverputzter Fischerhäuschen ab, die
mit ihm unvermittelt endet vor dem Fluss.
Ein jedes Häuschen hat unten einen Wohnraum
und rechts und links eine Kammer unterm Dach.

 

» Das Haus der Großmutter» heißt nicht, dass es
das ihre wäre. Sie wohnt zur Miete. Die Unterkunft
ist kümmerlich, und dementsprechend
niedrig ist die Miete, doch das Geringe ist
noch viel für sie, die früh verwitwet ihre Kinder
mit dem Ertrag der pêche à pied oder des
Fischens ohne Boot herangezogen hat:

Tag für Tag macht sie sich bei Ebbe auf den Weg
und stöbert ausdauernd im nassen Sand allerlei
Meeresgetier auf: Venusmuscheln Strandkrabben
Teppichmuscheln Wellhornschnecken, die sie
in einem Korb auf ihrem Rücken in viele Dörfer der
Umgebung trägt und dort – in Saint-Éniguet,
La Ville Gicquel, Le Tertre, Notre-Dame-du-Guildo
oder Le Bouillon – verkauft.

 

Die Mutter ihrer Mutter ist im 19. Jahrhundert
in der Bretagne, also gewissermaßen
noch zwei Jahrhunderte zuvor geboren, als
eines vieler Kinder habeloser Bauern, die ihre
Kinder nicht ernähren können und sie daher
eins nach dem anderen bei Reicheren in Dienst geben.
Die kleine Kuhmagd ist sehr arm. Lange Zeit trägt sie
– o Schock später für ihre kleine Enkelin! –
keine Unterhose. Sie hatte keine. Schlief im Stroh. Ihr
Jahreslohn war ein Paar neue Holzschuhe, und alle
zwei Jahre gabs entweder einen Umhang und dazu
ein Paar Strümpfe oder auch einen Rock und eine Jacke, was
deshalb schon kein Luxus war, weil sie noch gar nicht

ausgewachsen war. Sie ging nie zur Schule. Illettré

sagt man dazu, wenn eine ihresgleichen oder einer
weder des Lesens noch des Schreibens kundig ist.
Mit fünfzig Jahren wird ihr erstmals klar – Annette
ist vielleicht sieben –, dass sie von ihrer Mutter
nie einen Kuss bekam, und sie, die bisher
nie geklagt hat, bricht in Tränen aus. So
sitzen sie, Großmutter und Enkelin,
und küssen sich und küssen sich und küssen sich
und weinen. Von ihrem Vater weiß sie nur,
wie grob er war. Ihre Geschwister, Kinderknechte
und -mägde wie sie selbst, erwähnt sie nie,
sie sind vielleicht inzwischen tot oder verschollen
oder sie leben in der Nähe. Annette
liebt über alles diese Großmutter, die
reich ist nicht an Gütern und gebildet
nicht durch Lektüren.

 

Wie jeder von uns hat sie
noch eine zweite. Die liebt sie weniger.
Es ist die Mutter ihres Vaters, eine Beaumanoir,
was Schönes Herrenhaus bedeutet und
in der Tat d i e bessere Familie ist in einem Ort,
der keine wirklich hohen Kreise kennt.
Auch Madame Beaumanoir ist Witwe und sie ist
Tochter des Notars. In ihren ersten Lebensjahren
bekommt Annette Großmutter zwei
nicht zu Gesicht. Die Brücken zwischen
ihr und deren Sohn sind abgebrochen

am Tag, an dem sie ihm verboten hat, das Mädchen
aus dem Fischerhäuschen – eine der Töchter von
Großmutter eins – zur Frau zu nehmen,
worunter Madame Beaumanoir sicher
gelitten haben mag, aber was tun?
Alles in ihr sträubte sich gegen
die ungleiche Verbindung, der dann
zu ihrem Leidwesen auch prompt
eine Annette entsprang. Sie hält den Sohn
für etwas Besseres und sie hat recht damit,
er ist auch etwas Besseres, denn er verzichtet
auf ihre achtbare Gesellschaft und sein Erbe
zugunsten seiner Liebsten. Zu diesem Zeitpunkt
sind die beiden fast noch Kinder, nicht volljährig
nach dem Gesetz und ohne elterliche Zustimmung
zur Heirat unfähig, so dass Annette ganz wie in einem
Märchen – einem bretonischen – im armen
Fischerhäuschen von Großmutter eins und
außerhalb der Ehe, aber nicht außerhalb der Liebe
geboren und vorläufig in kein Geburtsregister
eingetragen wird.

 

Sie hat glückliche Eltern, möchte man
behaupten, aber ist das denn richtig und
so allgemein gesprochen möglich?
Heißt es nicht immer, einen Glückszustand gäbs
höchstens für Momente? Sie aber sind glücklich
jederzeit, und wer Beweise hat fürs Gegenteil, der
möge widersprechen, jetzt ist dazu Gelegenheit.

 

• Video: Anne Beaumanoir – Vivre c’est résister: Algérie , Macron, Gilet jaunes

 

 

Anne Weber, 1964 in Offenbach geboren, lebt als Autorin und Übersetzerin in Paris. Ihre Bücher, die sie sowohl auf französisch als auch auf Deutsch verfasst, wurden u.a. mit dem Heimito von Doderer-Literaturpreis, dem 3sat-Preis, dem Kranichsteiner Literaturpreis und dem Johann-Heinrich-Voss-Preis ausgezeichnet. Bei Matthes & Seitz, Berlin sind ihre Übersetzungen der Werke von Georges Perros lieferbar. Als Autorin veröffentlichte sie zuletzt «Tal der Herrlichkeiten, Ahnen und Kirio» (S. Fischer).

Anne Weber
Annette, ein Heldinnenepos
Matthes & Seitz Berlin
208 S., Geb. mit Schutzumschlag
CHF 29.50. € 22.
ISBN 978-3-95757-845-7
Auch erhältlich als eBook

 

 

 

«Literaturnobelpreis für Louise Glück»

 

Der Literaturnobelpreis 2020 geht  an die 1943 in New York geborene Lyrikerin Louise Glück, die bisher zwölf Gedichtbände vorlegte und in den USA mehrfach ausgezeichnet wurde. Hierzulande nahezu unbekannt, sind ihre Gedichtbände momentan auch nicht in Buchhandlungen zu finden. Der Luchterhand Verlag wird die aus den Jahren 2006 und 2007 stammenden Ausgaben nun schnell nachdrucken. Was zeichnet ihre mit dem Literaturnobelpreis geehrte Lyrik aus?

 

Die Übersetzerin ihrer Lyrikbände «Averno» und «Wilde Iris», die deutsche Schriftstellerin Ulrike Draesner meint dazu, dass Louise Glück eine Dichterin des Körpers sei. Sie schreibe Poesie zu den existenziellen Fragen des Lebens und unseres irdischen Daseins. Und sie stellen Fragen, eine Stimme spricht, andere Figuren treten dazu. Sie kümmere sich dabei nicht um traditionelle Genderzuweisungen, was die Gegenstände betrifft. Blumengedichte würden bei ihr zu einer ungewöhnlichen Art der Naturdichtung, Blumen sprächen hier selbst als Ich, über ihre Art auf diesem Planeten zu wachsen und spricht ihnen eine Intelligenz zu. Wann und wie sie aus der Erdkruste stossen, ob sie ranken, hart werden, frei stehen im Wand. Diese Perspektive ist tatsächlich recht ungewöhnlich.
Dass Pflanzen ein Ich haben, kannte man nur aus Kinderbüchern.
Das Schneeglöckchen ist menschenhaft, es weiss mehr von uns als wir von ihm. Wie können wir unseren Körper erfahren und imaginieren, wie sich das Leben in einer Pflanzenknolle anfühlt, die aufbricht, sich entwickelt , sexuelle Organe entwickelt. Die Frage nach unserem Körper ist für Glück nicht trennbar nach der Frage nach unserer Seele, schreibt Ulrike Draesner. Die Frage nach dem Körper hat seit den neunziger Jahren immens an Bedeutung gewonnen, nicht zuletzt durch den Feminismus. Die Genetik macht Fortschritte, die künstliche Intelligenz entwickelt sich rasant im Labor. Wie fühlt es sich an, einen weichen, verletzlichen Menschenkörper zu haben.
Doch in einer Zeit des Anthropozäns wird dringend nach neuen Wegen gesucht, wie wir uns zum Planeten und seinen Bewohnern verhalten können. Nicht zuletzt angefeuert durch die Klimajugend.
Die Welt des Gedictbandes «Averno» wirkt dystopisch, man weiss nicht, ob es eine vergangene oder künftige Welt ist. Beides könnte zutreffen.
Nachklang, Nachhaltigkeit sind Zeichen für die Qualität von Literatur. Ebenso, wie oder ob Literatur altert. Glücks Gedichte lesen sich zeitlos. Was sie vor 40 Jahren schrieb, verbindet sich mit Fragen unserer Welt und reicht über sie hinaus. Geleitet werden sie von der Frage nach der Verflechtung zwischen Menschen, zwischen Menschen und Dingen, zwischen Menschen und anderen Leben. Und von der Frage nach der Verflechtung eines Menschen in sich, die nicht von selbst geschieht, so Ulrike Draesner. Denn wir er-leben sie uns, stellen sie her durch Erinnerung, Wahrnehmung und Geschichten, die wir uns von uns selbst erzählen.

 

 

Die nächtlichen Wanderzüge

 

Dies ist der Augenblick, in dem du

die roten Beeren der Eberesche wiedersiehst,

und am dunklen Himmel

die Vögel beim nächtlichen Wanderzug.

 

Es bedrückt mich zu denken,

dass die Toten sie nicht sehen

diese Dinge, die uns selbstverständlich sind,

sie entschwinden.

 

Was wird die Seele dann tun, um sich zu trösten?

Ich sage mir, vielleicht braucht sie

diese Freuden nicht mehr

vielleicht ist es einfach genug, nicht zu sein,

so schwer vorzustellen das auch ist.

 

Aus «Averno» (2206)

Verlag Farrar, Straus und Giroux.

Aus dem Englischen von Ulrike Draesner,

Luchterhand 2007

 

 

 

Glück

 

Ein Mann und eine Frau auf einem

weissen Bett.

Es ist Morgen. Ich denke,

gleich werden sie wach.

Auf dem Nachttisch steht

eine Vase

mit Lilien, ihre Kehlen voller

Sonnenlicht.

Ich beobachte, wie er sich

zu ihr dreht,

als wollte er ihren Namen sagen,

aber leise tief in ihrem Mund –

auf dem Fenstersims

singt ein Vogel

ein-, zweimal.

Und dann regt sie sich, ihrKörper

füllt sich mit seinem Atem.

 

Ich öffne die Augen;

du beobachtest mich.

Die Sonne zieht fast

direkt über das Zimmer.

Schau, dein Gesicht, sagst du,

und hältst deins, um es zu spiegeln,

dicht an meins.

Wie ruhig du bist.

Und das brennende Rad

gleitet sanft an uns vorbei.

 

Aus dem englischen von Hans Jürgen Balmes.

 

 

Louise Glück, *1943 in New York, konzentrierte ihre Laufbahn von Anfang an auf Lyrik. Nach dem Studium an der Columbia Universität trat sie 1971 ihre eigene Lehrtätigkeit an, die ihr Schaffen bis heute begleitet. Sie erhielt zahlreiche Ehrungen, u.a. den Titel des Poet Laureate of the United States. Bisher wurden nur zwei ihrer Lyrikbände «Averno» (2006) und «Wilde Iris» (2007) von Ulrike Draesner ins Deutsche übertragen, die beide vergriffen sind. Häufig verwendet Glück den dichterischen Topos, dass die Natur einen Spiegel für die menschliche Seele darstellt oder aber, dass die Natur sich selbst in unmittelarer Ansprache an den Menschen wendet. Sie lässt die belebte wie die unbelebte Natur zu Worte kommen. Die menschliche Existenz ist somit einerseits Teilhabe an der Natur, andererseits aber auch etwas völlig anderes. Mann und Frau stehen in dem Garten Welt, erkennen sich in der Natur und gelangen im Spiegel der Natur zur Erkenntnis und sind aufgerufen, selbst Schönheit und Dauer zu sehen, allem Negativen zum Trotz.

 

 

 

 

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