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«Karlheinz Kluge: Auf der Walz und auf der Welt»
Von Andreas Kohm
In zehn fulminant dicht geschriebenen Erzählungen begibt sich der Offenburger Autor Karlheinz Kluge (*1951) «Auf die Walz», setzt seinen Erzähler aus in der Fremde ebenso unwegsamer wie umwegiger Geschichten, die allesamt Aventiuren des In-die-Welt-Geratens sind, ins Wirrnis der Zeichen und Dinge, oft zurückgebunden an Schwellenerlebnisse zwischen Traum und Traumata.
Der Philosoph Walter Benjamin beschreibt 1936 die Gestalt des Erzählers als eine vormoderne, im Verschwinden begriffene, die Kunst des Erzählens als eine zuende gehende: «Er ist uns etwas bereits Entferntes und weiter noch sich Entfernendes». Nun muss in dieser Denkfigur des Verschwindens jedoch nicht zwangsläufig nur der Verlust beklagt werden – vielmehr lässt sie sich gewendet auch verstehen als Bedingung für eine unabschliessbare Neuvermessung des Gegenwärtigen und Naheliegendsten, vielleicht des absolut Anderen auch. Denn ist es nicht allererst die Distanz des Unbekannten, in welche der Erzähler sich begibt, um die Welt zu erkunden in Verrückungen bis hin zum Abgründigen, Bodenlosen? Und dabei neue, mitteilbare «Erfahrungen» zutage bringt in Horizonten, die weit unter den Oberflächen der Wirklichkeit verborgen scheinen?
In zehn fulminant dicht geschriebenen Erzählungen begibt sich der Offenburger Autor Karlheinz Kluge (1951) «Auf die Walz», setzt seinen Erzähler aus in der Fremde ebenso unwegsamer wie umwegiger Geschichten: der Bub im Beiwagen, «diesem rollenden Sarg» der vom Vater gesteuerten «750er Windhoff», halb erfroren den an Heiligabend im Schwarzwald gestohlenen Weihnachtsbaum umklammernd; der kindlich erregte Fasnachter im ersten Aufrauschen des Sexus; der vor dem drohenden Wehrdienst nach West-Berlin sich absetzende badische Bundesrepublikflüchtling, der in seiner Abschiedsnacht zum Helfer bei einer bizarren Totenreise über den Rhein wird; der Tunnel-Wartungselektriker, der im Bergwerk der wunden Seele «über den Atlantik hinweg» lauscht, halluziniert; der Student, der als trampender Kurier einen «kleinen Oberrheinischen Wander- und Pilgeraltar» abholt, tief hineingerät in die verschneiten Vogesen, dabei zufällig von Vincent Döblins «Kolmogoroffscher Gleichung», den «Berechnungen für das Unvorstellbare», dessen Freitod am 20. Juni 1940 erfährt, und schließlich an dessen Grab in Housseras zur Ruhe kommt.
Oder der Besucher im Altersheim, der seinen Onkel rasiert und die Prozedur mit leichter Heiterkeit in eine Weltraumszene mit dem «Raumgleiter Weasel» einbettet, um so ins Innerste zu gelangen, wo Menschen einsam sind.
Karlheinz Kluges Erzählungen sind allesamt Aventiuren des In-die-Welt-Geratens, ins Wirrnis der Zeichen und Dinge, oft zurückgebunden an Schwellenerlebnisse zwischen Traum und Traumata, in kleinbürgerliche Initiationsriten, die bereits das Kind in Generationszusammenhänge von Mund zu Mund verstricken: «Dort, in der winzigen Küche (…) auf der Holzkiste neben dem Herd (…) versuchte ich, wobei ich zu schrumpfen schien, mit roten Ohren den Erzählungen meiner Tanten zu folgen, die von der Flucht 1945 aus Ostpreußen übers Frische Haff redeten. (…) – all das lehrte mich zum ersten Mal das schmerzlich genaue Zuhören».
Kunstvolles Netz
Je dichter und kunstvoller das Netz der Erzählungen mit ihren mäandrierenden Handlungen, detaillierten Beobachtungen und vagen Erinnerungen, desto weiter die Maschen der Realität, durch die das Vergessene und Imaginäre hereindrängt und mit Unwahrscheinlichkeit sich ausdehnt in die Zwischenräume, in die toten Winkel, wo das Unsagbare sich andeutet und der Erzähler zum magischen Deuter wird.
Kluges Erzähler phantasieren hinein in diese objets trouvés, unter einer Patina aus Staub, «einem Gemisch aus Dieselruss, Reifenabrieb und Fett» seltsam stumm gewordene und in sich gekehrte Dinge, in die «Motive aus dem Abseits», in die den Bildern eingeschriebene „Leere, eine Abwesenheit, die von den Toten herrühren musste (…) eine Armee der Schatten, als seien die Fotos zu lange im Entwicklerbad gelegen. Andere entdeckten auf dem Papier vieles, nur die Toten sahen sie nicht!»
Das den Tiefenschichten dieser Erzählungen eingeschriebene Surreale verbürgt und verbirgt eine unvorstellbare Erfahrung: den Tod – das geheime Gravitationszentrum, um das alles kreist und worauf alles zuläuft. Inmitten barocker Fülle aus Dialektworten, Bluna und Birnenschnaps, Werbe-Devotionalien der «Brauerei Kälble», Frequenzrauschen und «jaulenden Rückkopplungen» des Detektors, Liedzeilen, duftschwerem «Silvestre. Eau de Toilette» und «Kitaboshi super-drawing»-Bleistift, allgegenwärtig die «Stimmen der Toten», umherziehend in einem Danse Macabre.
Was die Erzähler aus der Ferne ahnen: kein Beobachtungsfuror, keine Beschreibungspatience, die hinreichten an das Ungeheuerliche. Allein das Loslassen und der freie Fall in den Erzählstrom bringen etwas Rettendem näher, einer Hoffnung auf Ankunft und Abschied zugleich: «Wer nachts nicht schläft, kann die Geister sehen». Karlheinz Kluge erzählt genau jene Unschärferelation, die darum weiß, wie unsicher die sogenannten Tatsachen der Welt sind und wie gefährdet wir Menschen.
Karlheinz Kluge, 1951 in Offenburg in Baden geboren. Abgeschlossene Lehre als Elektromechaniker, dann Abitur, Studium der Germanistik, Philosophie und Geographie in Berlin. Nach 1987 Dozent an der Offenburger Jugendkunstschule für Poesie, Hörspiel und Trickfilm. Buchhändler und regelmäßiger Mitarbeiter bei der Zeitschrift Revue Alsacienne de Littérature. Veröffentlichte u. a. den Roman »Die Heimkehr der Jäger« sowie den schönen Erzählband »Café Gnädig«. Mehrere literarische Stipendien, zuletzt für seine Arbeit an diesem Band das Jahresstipendium des Förderkreises Deutscher Schriftsteller in Baden-Württemberg.
Karlheinz Kluge
Auf der Walz.
Unterwegs in Geschichten
Klöpfer & Meyer, Tübingen 2017
224 Seiten, 20 €.
«Peter Waterhouse: Verliefen durch alle Worte Grenzen?»
«War am Ende des Lebens ein jedes Wort eine Übersetzung? Öffnete jedes Wort eine unbekannte Welt? (…) Hörte sich das Wort Tod wie eine unvorstellbare Erneuerung an? Verliefen durch alle Worte Grenzen, sprachen alle Worte sowohl etwas diesseits als auch etwas jenseits aus?»
Es ist kein Buch, das Grenzen überschreitet, und doch eines, das mit grosser Leidenschaft und Sorgfalt sich darin übt, die Grenzen abzutasten hin zu einem sprachlichen Wahrheitsbereich und das „fast unleserliche Durcheinander“ der Worte um ein körperlich-sinnliches Bewusstsein zu erweitern.
Der österreichische Dichter und Übersetzer Peter Waterhouse (1956) nimmt sich in «Die Auswandernden» eines der brennendsten Themen unserer Zeit an, jener globalen Völkerwanderung, deren gewaltvolle Ursachen und Auswirkungen so vielzählig sind und zutiefst ins Herz des Gesellschaftlichen und Menschlichen rühren, dort wo die „Schönheit der Welt“ geborgen liegen sollte. Dort auch, wo alle in ihrem Sprechen und Sprachlossein zu Auswandernden werden.
Wenn er – als autobiografisch erkennbarer Ich-Erzähler – Media, eine junge Frau, die mit ihrer kleinen Tochter aus einem „kaukasischen Dorf“ nach Österrreich geflohen ist, begleitet bei ihren Spaziergängen durch die Wiener Neustadt, bei ihren Gängen vor Gericht und bei ihren alltäglichen Anstrengungen, mit ihrem „grünen Wörterbuch“ die deutsche Sprache zu erlernen und so das Neue um sie her zu verstehen und anzukommen, dann sind innigst damit verwoben seine eigenen, von frühester Kindheit an gemachten Erfahrungen mit Literatur, mit Sprache überhaupt. Stifters «Turmalin»-Erzählung, Charles Dickens‘ Romane, Schillers Briefe «Über die ästhetische Erziehung des Menschen» oder Goethes im eigenen Buchtitel resonnierende «Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten» und als verborgener Hinweis auf das darin enthaltene „Märchen“ eine Briefstelle Thomas Carlyle’s „über eines der tiefsten poetischsten Dinge“; Verhaftungsprotokoll, Asylgesetz, Abschiebungsbescheid; Erinnerungen an die gestorbene Freundin und ihr rätselhaftes Todesdatum – alles ist Waterhouse gleich lesens- und lebenswichtig, offenbart sich doch einem insistierend genauen Befragen und Bedenken der Sprache, in einer unausgesetzten Denkbewegung des Retardierens, Repetierens, Reflektierens ein oft beunruhigender, fast unheimlicher Echoraum der Kontemplation auf ein Innerstes, vielleicht auf ein Nichts hin, auf „das unbekannte Land?“.
«Hatte Media aus der Welt der Bedeutungen auswandern müssen (…)? Hatten sich die Auswandernden aufgemacht in die Welt der Poesie, nein in die Poesie? Machten sich alle Auswandernden auf, die Welt zu verlassen und die Poesie zu finden?» Seine Auswandernde ist eine Mittlerin, vielleicht auch Zauberin, inmitten der Dinge, in medias res, da, wo die allgegenwärtigen Sprachen auch etwas unmittelbar Anfängliches und noch nicht – oder nicht mehr – auf Bedeutung Festgelegtes zeigen können, wenn sie in Geschichten befreit die unbegreiflichsten und bedenkenswertsten Konstellationen eingehen. Und damit zugleich spielerisch leicht jede Sprachgewalt in Frage stellen, ja gar überwinden in einer zarten, langsam einzelne Laute und plötzlich Bedeutungen verschiebenden Rhythmik der Sätze.
Waterhouse‘ märchenhaft-reales Plädoyer für die anderssprachige Vielfalt und den schwebend, in der „Übersetzung“ bleibenden Reichtum der „Poesie“ formuliert gemeinsam mit den Zeichnungen Nanne Mayers ein – im besten Sinne Walter Benjamins – „umständlich(es)“, auf der „Schwelle“ in die Stille und Sprachlosigkeit lauschendes, schönes, berührendes Buch.
Peter Waterhouse, geboren 1956 in Berlin, lebt in Wien. Lyrik, Essays, Erzählungen Theaterstücke und Romane, Übersetzungen aus dem Englischen und Italienischen. Zahlreiche Veröffentlichungen, Auszeichnungen u.a. Grosser Österreichischer Staatspreis (2012), Ernst-Jandl-Preis (2011), Erich-Fried-Preis (2007).
Nanne Meyer, geboren 1953 in Hamburg, lebt in Berlin. 1994-2016 Professorin an der Kunsthochschule Berlin-Weissensee. Zahlreiche Ausstellungen, u.a. Staatliche Museen zu Berlin (2014); Aargauer Kunsthaus, Aarau (2009); Hamburger Kunsthalle (2005),
Auszeichnungen u.a. Villa Massimo-Preis, Rom (1986/87); Künstlerinnenpreis NRW für Zeichnung (2013); Hannah-Höch-Preis des Landes Berlin (2014).
Peter Waterhouse / Nanne Mayer
Die Auswandernden
starfruit-Verlag, 2017
256 Seiten mit 58 doppelseitigen Farbabbildungen
ISBN 978-3-922 895-28-2
28 €