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«Jon Fosse: Wie entsteht mystische Lyrik und Literatur? Porträt in Selbstaussagen»

Von Jon Fosse

Jon Fosse, 1959 in der norwegischen Küstenstadt Haugesund geboren, wurde international bekannt durch seine mehr als dreissig Theaterstücke und zahlreiche Romane. 2023 wurde Fosse mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet.

Für seinen Roman «Trilogie» bekam Jon Fosse den Literaturpreis des Nordisches Rates, auch die Bände seines Werks «Heptalogie» wurden mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Seit 2022 ist Jon Fosse Mitglied der Akademie der Künste in Berlin. 

 

Wer einmal im Theater eine Aufführung von einem Fosse-Stück erlebt hat, kann sich dessen magischer Intensität kaum entziehen und behält es in Erinnerung. Die Dialoge, knapp, tiefgründig und zumeist in Alltagssprache verfasst, sprechen allgemein verständliche Lebenswelten an, von Liebe, Tod und existenziellen Problemen.
 
Dabei gehören Lyrik und Kurzprosa zu Fosses ureigener Domäne: «Schreiben ist ein Mysterium, eine Transzendierung meiner selbst und der materiellen Welt. Alles, was ich schreibe, gründet in der Tatsache, dass ich Lyriker bin». 
 
Jon Fosse wurde 1959 in der norwegischen Küstenstadt Haugesund geboren. Dort im Süden, in der Gegend am Hardangerfjord, verbrachte er seine Kindheit und Jugend.
 
«Das wichtigste Erlebnis meines Lebens: Ich war sieben Jahre alt, ich sollte Saft für meine Mutter holen. Ich ging los, am Haus entlang und in den Keller. Auf dem Weg zurück rutschte ich auf dem Eis aus, schlug die Flaschen kaputt und schnitt mir die Pulsader auf. Ich war sicher, dass ich sterben würde. Als sie mich zum Arzt fuhren, dachte ich: Jetzt sehe ich das Haus zum letzten Mal. Aber ich freute mich, ich hatte keine Angst. Ich sah mich von aussen, so nah war ich dem Tod. Diese Perspektive, dieser Abstand – wenn ich heute darauf zurückblicke, weiss ich, dass ich von da an ein Schriftsteller war».

 

«Die Klänge von Strandebarn liegen allem, was ich schreibe, zugrunde. Die Finsternis des Herbstes. Der Zwölfjährige, der einen schmalen Dorfweg hinuntergeht. Der Wind und der peitschende Regen, der Fjord braust. Ein einsames Haus mit Licht im Fenster. Vielleicht kam ein Auto vorbei… Ich wuchs mit dem ständigen Blick aufs Meer auf. Ich liebe diesen Blick, und er bestimmt sehr stark mein unbewusstes Empfinden. Sehe ich längere Zeit das Meer nicht, habe ich das Gefühl, etwas stimme nicht».

 

1975 zog Fosse nach Bergen und studierte Vergleichende Literaturwissenschaft. Später wurde er Dozent an der Akademie für Kreatives Schreiben in Hordaland. Seit Anfang der 90er Jahre arbeitete er als freier Schriftsteller und lebt mit seiner Frau und seinen zwei kleinen Töchtern in Bergen, ebenso wie sein erwachsener Sohn aus erster Ehe. Nahe Bergen, am Osterfjord, liegt auch sein kleines Landhaus, wohin er sich zum Schreiben zurückzieht.

 
«Isolation ist lebensnotwendig für mein Schreiben. Wenn ich kein ruhiges Leben führen kann und kein besonders geselliges, kann ich meine Arbeit nicht machen. So einfach ist das… Sehr viele Norweger besitzen eine Hütte auf dem Land, oft an einem Ort, wo es möglichst wenig andere Menschen gibt… irgendwie sind wir Einzelgänger, loners, viele von uns… Ich mag beides, die Stadt und das ruhige Leben. Wenn ich einfach nur für mich entscheiden könnte, würde ich lieber auf dem Land leben. Ich habe aber Kinder, und die brauchen andere Menschen um sich herum».
 
«Kleine blöde Gedichte und kurze Geschichten schrieb ich schon, als ich noch ganz jung war. Ich spürte zu allem eine gewisse Distanz und dachte, ich würde die meisten Dinge völlig anders empfinden als die anderen. Mein erster Roman entstand auf dem Gymnasium. Den habe ich keinem gezeigt und auch nicht an Verlage geschickt. Mir gefiel das Schreiben an sich». Zugleich war zu dieser Zeit ein anderes Medieum mindestens ebenso wichtig: «Ich spielte früher Musik, äusserst intensiv. In einer Rockband und ausserdem klassische Musik, auf der Geige und der Gitarre, sechs- bis siebenmal am Tag – fast schon krankhaft. Ich war allerdings ein schlechter Musiker und hörte damit auf, als ich sechzehn war. Als ich mit dem Schreiben richtig anfing, war es für mich wie Spielen, auch physisch, auf der Tastatur der Schreibmaschine. Ich behandelte Geschichten und ihre Sprache wie Musik. Mittlerweile bin ich aber älter geworden und sitze beim Schreiben still und ruhig da… ».
 
«In meinem Heimatwort ist es sehr ruhig, besonders im Winter. Die Leute reden nicht viel. Wenn sie etwas sagen, ist es voller Ironie. Ihre zweifellos starken Gefühle drücken sie nicht direkt aus. Dort aufgewachsen zu sein hat mit meiner Sprache viel zu tun».

 

Rhythmus und Wiederholungen

In Norwegen stehen sich, als Folge des nationalistischen Sprachenstreits des 19. Jahrhunderts, bis heute zwei Varianten der Schriftsprache gegenüber: das urbane Bokmål, das sich in der Wirtschaft und Presse weitgehend durchgesetzt hat, sowie das vor allem in Westnorwegen dominierende Nynorsk (Neunorwegisch), in dem Fosse schreibt und über das die Städter meist die Nase rümpfen.
 
«Die Bühne ist jenseits der Wirklichkeit, das ist diese Sprache auch. Nynorsk ist eine konstruierte, offizielle Sprache, die auf norwegischen Dialekten und dem Altnorwegischen basiert, und normalerweise sprechen die Leute, die Nynorsk schreiben, in Dialekten. Im Theater allerdings, im Fernsehen oder wenn ein Priester bei einer Beerdigung spricht, wird sie als literarische Sprache benutzt. (…) Ich schreibe also in einer Mischung aus literarisch klingender Sprache und gesprochener Sprache… da ist beispielsweise der Rhythmus und das Modell der Wiederholungen. So ist es auch eine Art von Kunstsprache».

 

«Ich schreibe – was die Form, nicht die Bedeutung angeht – geschlossene Texte, ohne dass ich etwas verrätseln möchte, denn ich schreibe, was ich weiss… Wenn sie sich auf einen konkreten sozialen Kontext beziehen lassen, dann war das nicht meine Absicht. Andererseits habe ich auch nichts dagegen: Die Bilder der Leere, die ich entwerfe, können etwas über unsere Gesellschaft aussagen, sie zeigen das jedoch implizit.
 
Alle meine Figuren haben Fehler, sicher, wie wir alle – genauso wie sie alle im Recht sind… Menschen haben keinen eindeutigen Charakter. Als Autor interessiere ich mich nicht für Psychologie und beschreibe wahrscheinlich eher Archetypen als Charakter. Ich will die Beziehungen zwischen ihnen schildern. Nicht Identität, sondern Beziehungen steuern unser Leben. Und keine andere Kunstform ausser dem Theater kann dieses soziale Spiel abbilden…».

 

Coolness und Präzision der Sprache

«Meine Stücke brauchen eine gewisse Coolness, eine ganz präzise Coolness, dann kann eine grosse Emotionalität entstehen. Auch wenn die Figuren Emotionen ausdrücken – sie sind eigentlich nicht so wichtig. Die wichtigen Emotionen liegen im Raum dazwischen… Ich schreibe Bilder dessen, was zwischen Menschen vorgeht, auf einer Ebene, die mit sozialer Dynamik zu tun hat, sie aber nicht verortet. Sie kommen sich nahe und trennen sich, sie verletzen einander, sie erfreuen einander, sie erschaffen sich gegenseitig. Mich interessiert dieses seltsame Kraftspiel und was sich in ihm an Situationen und Stimmungen abspielt. Dort bewegen sich meine Stücke, nicht in der Psychologie…

Mir geht es eben darum, wie die Figuren sich gegenseitig konstituieren, wie sie ihre Beziehungen gestalten und welche «Sounds» es zwischen ihnen gibt».

 

 
Traum im Herbst
Drei Stücke: Sommertag, Traum im Herbst, Winter.
In Sommertag erwartet eine Frau die Rückkehr ihres Mannes, der vor Jahren auf dem Fjord verschwand.
Traum im Herbst zeigt den Verlauf eines unfreiwilligen Familientreffens auf dem Friedhof.
Winter erzählt die Amour fou zwischen einem braven Familienvater und einer rätselhaften Fremden.
 
Winter

 
Die Frau
Der Mann

Ort: Leerer Raum, eine Bank

 
Die Frau
Dem Mann hinterher

Du
Du
Du
Der Mann geht weiter
Du
Du da
Du
Der Mann bleibt stehen, dreht sich zur Frau um
Ja du
Was bildest du dir eigentlich ein verdammt
Einfach so weggehen
Ja
Ja ich rede mir dir
Verstehst du nicht
Ich rede mit dir
Ja tu ich
Mit wem denn sonst
Verdammt ich rede mit dir
Aber du
Was machst du
Ja du
Steht auf, fällt beinahe hin
Ja du
du gehst einfach so weiter verdammt
als würde ich nicht mit dir reden
aber ich rede mit dir
Das hörst du doch
Oder ist hier
Schaut sich um
sonst noch wer

 

(Auszug aus: «Traum im Herbst und andere Stücke»)

 
Die Stücke des norwegischen Autors Jon Fosse sind prallvoll mit Assoziationen und Andeutungen. Die lakonische Sprache, die leise Zwischenräume öffnet, erinnert an den minimalistischen amerikanischen Lyriker Robert Lax. Die Wahrnehmungen der einzelnen Personen widersprechen sich und oszillieren um Fragen wie: «Wo sind wir hier? Sind wir wach oder träumen wir? Können wir nicht weggehen von hier?» Oder: «Verlass mich nicht». Fosse zeigt, dass es im Grunde nicht viele Worte zwischen Erinnern und Vergessen braucht, um die existenziellen Themen anzugehen. Ob wir allein sind oder zu zweit, ob wir verlassen oder verlassen werden, wo wir uns befinden, ob auf dem Meer oder in einem Meer der Gefühle. Alles, was er schreibe, sei eine Art Gebet. Jon Fosse lebt heute in einer Künstlerresidenz im Schloss von König Harald V. Dort geniesst er bis zu seinem Tod Gastrecht.

Ingrid Isermann

 

Der Literaturnobelpreis wird Jon Fosse am Sonntag, 10. Dezember 2023 von der Schwedischen Akademie in Stockholm verliehen.

 

Jon Fosse
Traum im Herbst
und andere Stücke
Deutsch von Heinrich Schmidt-Henkel
Rowohlt Taschenbuch Verlag
3. Auflage Oktober 2023
315 S., CHF 19.90
ISBN 978-5-499-23109-4

 

Weitere Bücher von Jon Fosse:
Der andere Name: Heptalogie I-II
CHF 49.90. Hörbch Download (MP3) CHF 20.90

Morgen und Abend. Roman.
CHF 18.90

Die Nacht singt ihre Lieder
CHF 21.90

Ich ist ein anderer.
CHF 44.90

Kindheitsszenen
CHF 69.90

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