«Steinunn Sigurdardóttir: Nachtdämmern. Gedichte gegen die Gleichgültigkeit».
Von Ingrid Isermann
Die Gedichte Islands berühmtester Dichterin zum sterbenden Grossgletscher Vatnajökull in Südostisland, dem Gletscher von Steinunn Sigurdardóttirs Kindheit, der weltweit zum Symbol des Klimawandels wurde, beeindrucken mit stringenter Sprachkunst und lichtvoller Empathie.
Wie der Gletscher zum Nichts wird und zum Niemand, beschreibt Steinunn Sigurdardóttir mit emphatischem Furor, wie ein Berg kein Eisberg mehr ist, nur knarrend und kahl.
Und wie der weisse Körper der Welt verreckt, den nun das Geröll übernimmt. Das geht unter die Haut. Sigurdardóttirkeine schildert nicht nur die Natur, sondern die Stimmen der Gletscherwelt.
Die Geruchslosigkeit und die Lautlosigkeit, wie das vonstatten geht, dass der Vatnajökull so schnell schmilzt, das noch gar nicht so lange her ist. Und wie traurig es ist, ihm dabei zuzusehen. Unabänderlich, Schritt für Schritt. Und man kann nicht glauben, dass er verschwindet. Wo doch nirgendwo auf der Welt Menschen so nah an einem Gletscher wohnen wie am Vatnajökull.
«Wir sehen der welt hinterher. Ihres nutzens und ihrer Qualitäten.
Nahrungsvorräte verdorren, trinkwasser, welche formen wird die not annehmen?»
Selten waren Gedichte zum Klimawandel aktueller und eindringlicher.
Das geht vorbei Das vergeht
Die Regenwolke Kindheit Die frühe
und die späte
Das ewige bewertetwerden Auch das
Geht vorbei
Der winter, sogar im norden, geht vorbei –
und der nächste winter, wenn auch spät
Auch die grippe vergeht, liebeswahn,
schluckauf
und auch mein heller Ewigkeitsberg, das ist
das unglaublichste, vergeht
Die insel auf der insel versinkt in einem Meer
aus Geröll
Die burg aus schneeweißen rosen taut
und wird zu einer haltlosen halde
Das Vollbrachte Endgültige Ende der Ewigkeit
GERÖLLBERG
Der gletscher, ewig
Aber doch aus vergänglichem stoff, kam ans licht
Aus wasser und lebenden farben.
***
Der Zerbrechliche zerspringt
in tausend teile
wird zu dem wasser aus dem er gekommen.
Das war nicht unumgänglich. Doch wir
Gleichgültigen ehrlosen heizten an,
liessen taten … auf taten folgen …
***
Vatnajökull vom wasser genommen
NACHTDÄMMERN
Die Zeit, nicht mehr
essentiell
stürmt nicht mehr voran
dass sich auf ihrer wehenden mähne
das ewige blaue berglicht bricht.
Sie humpelt jetzt kahlköpfig am hang
im wachsenden schatten des berges
im ewig dämmernden land
ein greis zwischen tag und nacht
Steinunn Sigurdardóttir, geboren in Reykjavik, studierte Psychologie und Philosophie in Dublin. Sie arbeitete als Radio- und Fernsehjournalistin und veröffentlichte mehrere Gedichtbände, Kurzgeschichten, ein Kinderbuch sowie zwölf Romane, die in zahlreiche Sprachen übersetzt wurden. Für Herzort erhielt sie 1995 den Isländischen Literaturpreis, Der Zeitdieb wurde 1998 in Frankreich verfilmt. Sie lebt in Reykjavik und Senlis, Frankreich.
www.steinunn.net
Kristof Magnusson, geboren 1976 in Hamburg, studierte am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Er war Poetikdozent an der Hochschule RheinMain und
Writer in Residence u.a. an der University of Iowa und am MIT. Magnusson schreibt Romane und Theaterstücke und übersetzt Werke aus dem Isländischen. Er lebt in Berlin.
Steinunn Sigurdardóttir
Nachtdämmern
Gedichte
Aus dem Isländischen
von Kristof Magnusson
Dörlemann, Zürich 2022
Geb., 120 S., Leseband
CHF 28. € 22 (D). € 22.70 (A)
ISBN 978-3-03820-997-3
eBook ISBN 978-3-03820-997-3
€ 14.99
«Israel: Das Gute in den Dingen»
Israels lyrische Szene zeigt sich open-minded und spricht Diskurse unmittelbar an. Ein talmudisches Bonmot lautet: «Bin nur ich für mich – was bin ich dann?» Dichterinnen und Dichtern im Dialog auf «Das Gute in den Dingen», das Beflügelnde der Worte, wobei «Dinge» im Hebräischen auch «Worte» bedeuten.
Kann man Freundschaft schliessen mit der Wirklichkeit, wie es Hedva Harechavi mit ironischem Unterton anspricht, wenn die Wirklichkeit ganz anders beschaffen ist? Adi Wolfson thematisiert Transidentität, Shimon Adaf schreibt: «Mit dem Stängel einer Chrysantheme zerstöre ich Grossisrael», Amir Eshel und Ayana Erdal raten: «immer unzufrieden bleiben». Die palästinensische Dichterin Ayat Abou Shmeiss schreibt auf Arabisch und Hebräisch, fühlt eine «Felsin in meinem Nacken» und wird zwischen beiden Identitäten hin- und hergerissen.
Die Anthologie verschafft einen spannenden Einblick in die aktuelle literarische Szene Israels, übersetzt von namhaften Lyriker:innen nach Interlinearversionen von Jan Kühne.
Mit Gedichten von Shimon Adaf, Ayana Erdal, Amir Eshel, Hedva Harechavi, Ayat Abou Shmeiss und Adi Wolfson. Übersetzt von Mirko Bonné, Yevgeniy Breyger, Mara-Daria Cojocaru, Maren Kames, Steffen Popp und Anja Utler.
Hedva Harechavi
Vom Guten der Dinge
Vom Guten der Dinge, die nicht
wirklich richtig sind, ein Vogel, der innen
draussen
auf seinen Krallen steht
sein Herz, gefroren und glühend vor Glück
sein Schnabel, verklebt
und sein Schnabel, weit aufgerissen
und ein Vogel, der beinahe neben ihr sitzt
streitet mir ihr um einen
Krümel
Übersetzt von Steffen Popp
das wirkt nur so, als ob es passiert
sowas passiert nicht, sowas passiert nicht
sowas passiert nicht, sowas passiert nicht
sowas passiert nicht, sowas passiert nicht
sowas passiert nicht in echt
sowas passiert echt nicht in echt
sowas kann nicht passieren
das wirkt vielleicht so, als ob es passiert
das heisst es vielleicht, dass sowas passiert
das tut vielleicht so, als würd es passieren
sowas passiert nicht sowas passiert nicht
sowas passiert nicht, sowas passiert nicht
sowas passiert nicht, sowas passiert nicht
sowas passiert nicht, sowas passiert nicht
sowas kann nicht passieren
sowas passiert echt nicht in echt
das wirkt nur so, als ob es passiert
das heisst es nur, dass sowas passiert
das tut nur so, als würd es passieren
sowas passiert nicht sowas passiert nicht
sowas passiert nicht in echt sowas passiert eht nicht in echt
sowas passiert in echt nicht wirklich
das wirkt nur so, als ob es passiert
Übersetzt von Anja Utler
Adi Wolfson
Das Nicht mehr, und nicht weniger
Das lässt sich nicht erklären.
Wir waren schon droben, auf dem Vulkan,
Wolken, Angst geballt, die Lava kochte,
wir hatten die Augen zu, warteten.
Das lässt sich nicht beschönigen.
Es trieb uns auseinander. Vorurteile,
Vergangenheit, die in die Zukunft prallte
Mit ihr verschmolz. Wir waren nicht zu trösten.
Wir belancierten schon am Verlieren,
am Rand von Ausbruch, Zerfall. Der Schrecken
griff nach uns, wir flohen, ich vor dir, du vor mir.
Das lässt sich nicht: nicht herausschreien. Wie wir
gerettet waren.
Das. Nicht mehr, und auch nicht weniger.
Übersetzt von Anja Utler
Ayat Abou Shmeiss
An eine jüdische Mutter
Wäre ich Du
Müsste ich
Schicken: meinen Sohn zur Armee
Würde ich
Kämpfen
Knoten: Meine Zunge an die Ohren
die er schon von Dir hat
Kleben: Meine Hände an die Füsse
die er schon von Dir hat
Klappen: Mein Herz vor die Augen
die er schon von Dir hat
Mein Sohn
Dein Sohn soll nicht gehen
Dein Sohn
Übersetzt von Mara-Daria Cojocaru
Hans Thill, geboren 1954 in Baden-Baden, lebt seit 1974 in Heidelberg als Lyriker und Übersetzer. Peter-Huchel-Preis 2004. Mitbegründer des Verlags Das Wunderhorn. Leiter der jährlichen Übersetzer-Werkstatt »Poesie der Nachbarn. Dichter übersetzen Dichter« und Herausgeber der gleichnamigen Reihe. Mitherausgeber der »Reihe P«. Seit 2010 ist Hans Thill künstlerischer Leiter des Künstlerhaus Edenkoben.
Jan Kühne, geboren 1978 in Dresden, Studium in Heidelberg, Wien und Jerusalem, wo er seit 2005 lebt. Forscht zu simultaner Mehrsprachigkeit am Franz Rosenzweig Minerva Forschungszentrum für Deutsch-Jüdische Literatur und Kulturgeschichte der Hebräischen Universität, an der er auch unterrichtet. Zuletzt erschien seine Dissertation Die zionistische Komödie im Drama Sammy Gronemanns (2020).
Hrsg. Hans Thill
Das Gute in den Dingen
Gedichte aus Israel
Poesie der Nachbarn
Übersetzt nach Interlinearversionen
von Jan Kühne
Wuderhorn, 2022
184 S., geb. € 25.