FRONTPAGE

«Gedichte wie bester Ginseng, belebend wie ein Wasserfall»

Von Ingrid Isermann

Ko Un, «Koreas grösster lebender Zen- Dichter»(Lawrence Ferlinghetti) wurde 1933 in der Provinz Chollabukdo/Korea geboren. Er verbrachte zehn Jahre in einem buddhistischen Kloster und wurde in den Militärwirren seines Landes mehrfach verhaftet. Sein erster Gedichtband erschien bereits 1960. Es folgten mehr als hundertdreissig Bücher. Ko Un lebt in Anseong, südlich von Seoul.

 

„Ich weiss wirklich nicht, warum es heute so ruhig ist, so ruhig.
Es ist so ruhig, dass ich fast das Singen des Sandes hören kann, der weit entfernt vom Wind aufgewirbelt wird. Von den Hängen des Berges Mingsha in Dunhuang, weit entfernt von der Seidenstrasse her, dringt es bis zu mir .
Tausende Meilen!
Könnte das der Klang der Leere sein, die die Leere ruft, der Namen, den andere Namen rufen?
Der leise Klang von jemandem, der sich vorwärts bewegt auf der Strasse, die jenseits ist von Gut und Böse, der Laut der Lautlosigkeit, den wir als Stille verstehen, die das Nirwana sein könnte, das Nirwana ist? Der Klang des leeren Kreises, nachdem das Schöne und das Hässliche, das Gute und das Schlechte überwunden sind, oder eher noch ein Zustand, wo sogar der Klang verschwunden ist?
Hier bin ich und wage es, dieser Stille die Stirn zu Bieten.
Vielleicht war die allererste Frage dieser Welt: „Was ist
ein Gedicht?“ Könnte das der Grund dafür sein, dass in kritischen Augenblicken im Laufe der Zeit diese Frage – „Was ist ein Gedicht?“ – sich immer wieder gestellt hat?
(…) Und weil die Dichtung die Menschheit durch Zehntausende von Jahren begleitet hat, ist sie zur Essenz dieses unendlich langen Zeitraums geworden. Eine einzige Zeile eines Gedichts, ja ein einziges Wort, kann mich mit über zehntausend Äonen in Verbindung setzen. Dichtung ist unvermeidlich, ein Versprechen, das wir für die Zukunft geben. Und so verkörpert sich ewige Essenz als Traum. Und deshalb gibt es so viele Träume wie Menschen.

(Auszug aus dem Vorwort aus «Blüten des Augenblicks» von Ko Un).

 

Auch der Tag heute ist mit

Geschichten von irgendjemandem vorbeigegangen.

Auf dem Weg nach Hause

betrachten mich die Bäume.

 

Was man diese Welt nennt,

 

ist dort, wo ein Schmetterling flattert,

wo ein Spinnennetz hängt.

 

Ich lebe, ohne zu wissen, was morgen sein wird.

 

Eines Abends, als ich ziemlich besoffen war,

zuckte ein Blitz auf,

und der erklärte mir die ganze Welt.

 

Geh nach Somalia

und betrachte von dort deinen Kapitalismus,

sieh dir von dort deinen Sozialismus an,

schau in die Augen der hungernden Kinder.

 

Eine Reihe von Ameisen

überquert die Strasse,

vielleicht, damit wir merken

heute

und morgen

und übermorgen,

ein wenig, ein wenig begreifen,

dass diese Welt nicht nur

der Menschheit gehört.

 

Wurde es Ko Un in die Wiege gelegt, ein Dichter zu werden? Geboren wurde er 1933 in einem kleinen Dorf im Südwesten der koreanischen Halbinsel, als erstes Kind seiner Eltern, die ihn ermutigten, viel zu lernen. Ko Un’s Grossvater war ein feuriger Patriot, der ihn koreanische Geschichte lehrte, was während der japanischen Kolonialherrschaft in Korea ein Vergehen war.
Ko Un wuchs als vielversprechendes Talent auf und genoss bereits mit acht Jahren eine traditionelle Ausbildung, das Erlernen chinesischer Schriftzeichen und interpretierendes Lesen klassischer chinesischer Texte.
Korea war zu jener Zeit unter japanischer Besetzung, wurde 1910 gewaltsam annektiert und zum japanischen Generalgouvernement erklärt.

Vom koreanischen Bruderkrieg von 1950 bis 1957 war Ko Un tief erschüttert, er musste mit ansehen, wie die Kommunisten auf ihrem Vormarsch vergewaltigten und mordeten. Als der Krieg sich wendete und die Kommunisten nach Norden zurückweichen mussten, exekutierten südkoreanische Soldaten jeden, der als Kollaborateur der „Roten“ denunziert wurde, darunter auch Familienangehörige Ko Un’s, Nachbarn, Freunde und seine erste Liebe. Die schlimmen Erlebnisse bewirkten einen Nervenzusammenbruch, und er beging einen Selbstmordversuch, durch den er auf einem Ohr das Gehör verlor.

 

1952, bevor der Krieg zu Ende ging, wurde Ko Un buddhistischer Mönch und widmete sich ganz der Praxis der Meditation des Son – so lautet der koreanische Name der im Westen unter dem japanischen Wort Zen bekannten Form des Buddhismus. Er führte das übliche Wanderleben durch ganz Korea und lebte von Spenden. Im Klosterleben erreichte er bald hohes Ansehen und übernahm Verwaltungsaufgaben in bedeutenden Klöstern. Ko Un gründete auch die erste buddhistische Zeitung Koreas. Nach zehn Jahren als Mönch kehrte er in die Welt zurück, enttäuscht vom Formalismus in den Klöstern, auch der Korruption.

Es war ihm bewusst geworden, dass er sich entscheiden musste, entweder Mönch oder Dichter zu sein.

Ko Un wurde Aktivist der Demokratiebewegung und einer der wichtigsten Sprecher der Schriftsteller und Künstler, die sich der Militärdiktatur widersetzten.

Als 1974 der Schriftstellerverband für praktizierte Freiheit gegründet wurde, war Ko Un der erste Generalsekretär und Sprecher der Nationalen Gesellschaft zur Wiederherstellung der Demokratie. Er wurde verhaftet, schrieb aber weiter und veröffentlichte zahlreiche Bücher. Nach dem Tod des Diktators 1979, wurde die Opposition des Militärs beseitigt.

Der Aufstieg von General Chun Doo-hwan zum starken Mann Gipfelte in der Niederschlagung eines Volksaufstandes für Demokratisierung. Ko Un wurde wiederum festgenommen und von einem Militärgericht zu lebenslanger Haft verurteilt.

1982 wurde er im Rahmen einer Generalamnestie freigelassen.

Am 5. Mai 1983 heiratete Ko Un die etwas jüngere Anglistik-Professorin Lee Sang-Wha; sie leben seither gemeinsam auf dem Lande in Ansong, etwas zwei Fahrstunden südlich von Seoul.

1997 besuchte Ko Un erstmals die USA anlässlich der Veröffentlichung seines zweiten englischen Lyrikbandes, einer Sammlung von Zen-Gedichten unter dem Titel Beyond Self.

Hierzu schrieb Allen Ginsberg, der berühmte Autor der Beat-Generation: „Ko Un ist ein wunderbarer Poet, eine Mischung aus einem buddhistischen Weisen, einem leidenschaftlichen politischen Autor und einem Naturhistoriker.“. Übersetzungen seiner Werke in viele Sprachen haben seine Bücher zur Weltliteratur werden lassen.

Der vorliegende Gedichtband figuriert auf Platz 3 der Weltempfänger-Bestenliste 11/2011.

 

Ko Un’s Blütenblätter des Augenblicks sind eine Manifestation der Meditation, ein stiller Aufruf zum lebendigen Innehalten, eine Kraftquelle der Inspiration für alle Zeiten.

 

 

 

 

Ko Un

Blüten desAugenblicks

Übersetzung aus dem Koreanischen und Nachwort von Hans-Jürgen Zaborowski.

Mit Kalligraphien des Autors.

Suhrkamp Verlag Berlin 2011,

155 Seiten, geb., ISBN 978-3-518-42225-0.

CHF 24.90. 15.90 Euro/D,

16.40 Euro/A.

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