FRONTPAGE

Gedichte aus Polen: «Stillleben mit Crash»

Von Ingrid Isermann

 

Polen liegt trotz seiner geografischen Nähe hierzulande kulturell in weiter Ferne. Es ist ein Land, das seine Literatur verehrt, sie aber selten ausserhalb der Grenzen des eigenen Sprachraums bekannt machen kann, trotz der Nobelpreisträger Wladyslaw Reymont, Czeslaw Milosz und Wislawa Szymborska. Wir stellen Ihnen neue Stimmen aus Polen vor, die aufhorchen lassen.

Die Eigentümlichkeit der polnischen Geschichte besteht darin, dass Polen vom Ausgang des 18. Jahrhunderts bis Ende des Ersten Weltkrieges von der Landkarte verschwand, und erst nach dem Zweiten Weltkrieg bis zur Wende in Moskauer Hand lag. Daher ist es wenig überraschend, dass die Umbrüche von 1989 nicht spurlos an der polnischen Lyrik vorbeigegangen sind, wovon die Verschiedenheit der im Band versammelten Autoren zeugt.

 

Eine kulturkritische Tendenz ist im Werk von Krzysztof Sliwka auszumachen, charakteristisch für seine Texte sind seine schlichte, schnörkellose Sprache, in der alltägliche Erfahrungen, aber auch der Rausch lyrisch zur Geltung kommen, auch in Bezug zum amerikanischen Jazz und der Ablehnung von Konsum- und Jugendwahn.
Bei Justyna Bargielskas sind die lyrischen Verschränkungen von Tod und Leiblichkeit und Leben in surrealistische Bilder gehüllt.

Der vorliegende Band mit Gedichten von Justyna Bargielska, Jacek Dehnel, Katarzyna Fetlinska, Tomasz Rozycki, Krzystof Sliwka wurde von verschiedenen Autoren übersetzt, oftmals in zweifacher Ausgabe. Die Übersetzungen sind auf der Grundlage von Interlinearübersetzungen entstanden.

 

 

Black Out – Krzystof Sliwka

 

 

Runterdimmen

Dann begriff ich, dass ich nirgends hin kann. Um Mitternacht
hörte ich nur noch die Tanklastwagen in der Stadt.
Ich legte das Adressbuch zur Seite und auch deine Karte aus Mexiko,
die du vor einem Jahr schriebst, von irgendwo auf der Halbinsel Yucatan.
Jetzt verstummen auch die letzten Telefone, Frisiersalons, Hotelzimmer.
Nur das Radio sendet etwas, das klingt wie die 4. Symphonie von
Tschaikowski.
Ich habe nichts gegen klassische Musik, überlege aber, den
Sender zu verstellen. Sicher denkst du jetzt,
wieso ich dir das sage. In den Zeitungen stand es heute Morgen: Gestorben
ist Ioneso und das Theater des Absurden, hoch lebe die glatzköpfige
Sängerin.
Keine Nachricht von dir, ich weiss nicht, ob du noch lebst. Deine Briefe, die
ungelesen zum Absender zurückkommen. Ich schliesse die Augen:
Meine Landschaft ist eine Hand ohne Linien
Die Strassen aufgegangen in Knoten
Knoten das bin ich.

 

 

(Übersetzung: Sabine Schiffner)

 

 

 

Die schöne Müllerin Justyna Bargielska

 

Gestern ging ich durch die Wüste
es war schon dunkel, aus der Stille
knurrte mich was an, das war wirklich
ein seltsames Gefühl, liebe Grüsse, M.

 

Furcht wie aus alten Büchern: sie hat Angst, sie könnte zum Panther werden,
und das macht sie gar nicht an, denn was tut ein Panther? Kann ein Panther
den Mund fürs Foto nicht zumachen, kann er in neuen Schuhen schlafen
gehen?
Der Panther dörrt das Brot aus, das er anblickt, das ist seine Gabe.
Die Müllerin hat auch eine nette Gabe, sie kann Fleisch beleben.

 

Doch eines hätte sie gern vom Panther: wenn einer kommt und sagt,
der Zug, der nur im Fahrplan steht, ist grade weg, dann sagen können
ach, ja? ohne zu versuchen, die Sonne aufzuessen, damit sie nicht versinkt.

 

 

(Übersetzung: Esther Kinsky)

 

 

Hans Thill / Caroline Rudolph (Hrsg.)
Stillleben mit Crash
Gedichte aus Polen
Wunderhorn Heidelberg 2014
ISBN 978-3-88423-478-5
CHF

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